Der folgende Beitrag erschien in der Zeitschrift „Avanti“ (Organ des Revolutionär-Sozialistischen Bundes, dem
linken Flügel der deutschen Sektion der 4.Internationale) im Dezember 2004.
Die RSB- und „Avanti“-Homepage
findet sich unter: http://www.rsb4.de/
Wie weiter mit dem ESF?
Die
Unzufriedenheit vieler TeilnehmerInnen und BeobachterInnen mit dem Europäischen Sozialforum 2004 in
London ist ein guter Grund mehr, über die Zukunft dieser Veranstaltung
nachzudenken.
Das größte Problem des diesjährigen ESF stellte der bürokratische und
wenig basisorientierte Charakter der Veranstaltung dar. Zu stark und
offensichtlich war der im Vorfeld von der Londoner Stadtverwaltung um
Bürgermeister Ken Livingston1 und der
Socialist Workers Party
(SWP – Mutterorganisation von Linksruck) ausgeübte Einfluss, so dass dieses mal
weniger als in Paris oder Firenze der Austausch zwischen AktivistInnen
aus den verschiedenen europäischen Ländern im Vordergrund stand. Die KontrolleurInnen strebten eher eine Jubelveranstaltung mit
prominenten RednerInnen an, gemäßigte Kräfte wie die
britische Gewerkschaftsbürokratie sollten integriert werden. Selbst radikalere
Gewerkschaftslinke wie Mark Serwotka, Generalsekretär
der britischen Dienstleistungsgewerkschaft PCS und revolutionärer Marxist,
sollten nicht sprechen dürfen.
Einer eigenständigen Frauenversammlung wurden im Laufe der Vorbereitung viele
Steine in den Weg gelegt, offenbar um antifeministische Kräfte wie die islamistische Muslim Alliance of Britain und die SWP zu befriedigen. Ebenfalls brüskiert
wurden VertreterInnen von verschiedenen Basisgruppen
und Bewegungen aus Frankreich und Italien, die im Vorfeld deutlich ihre Kritik
an dem ganzen bürokratischen Prozedere deutlich
gemacht haben. Eine Folge hiervon war, dass das ESF spürbar ausfranste. Gerade
Kräfte aus dem autonomen oder linksradikalen Spektrum, die ohnehin
ausgeschlossen waren, hielten ihre eigenen Versammlungen ab. Auch kam es zu
vereinzelten Protesten und Interventionen von Gruppen aus diesem Spektrum auf
dem ESF.
Auch die TeilnehmerInnenzahl war diesmal deutlich
geringer als vorher. Ebenfalls problematisch war die Fokussierung des ESF auf
die US-Außenpolitik und die Besetzung des Iraks. Themen wie der Widerstand
gegen den Neoliberalismus oder das undemokratische und vor allem
imperialistische und in imperialistischer Konkurrenz zur USA stehende Projekt
EU traten dahinter zurück. Das, wen wundert es, entspricht genau der
politischen Linie von Ken Livingston & Konsorten und der SWP, welche
momentan gegen den von diesen zum übermächtigen Popanz aufgeblasenen
US-Imperialismus auch bereit sind, Bündnisse mit reaktionären Kräften wie Islamisten einzugehen.
Politische Unabhängigkeit
Für die Zukunft des ESF sollte mensch
folgende Dinge in Betracht ziehen: Um nicht zu einer Jubelveranstaltung für
vorgeblich linke KommunalpolitikerInnen und deren
linke UnterstützerInnen zu verkommen, sollte die
Vorbereitung in die Hände eines von Delegierten aus den verschiedenen
Bewegungen und Organisationen demokratisch gewählten Vorbereitungskreises
gelegt werden.
Die Unabhängigkeit vom Staat, Kommunalverwaltungen und bürgerlichen Parteien
sollte strikt eingehalten werden. Auch dem Einfluss der Bürokratien von
Gewerkschaften und NGOs muss stärker als bisher
entgegen gewirkt werden. Ein ESF macht nur dann Sinn, wenn es dem Austausch und
der Koordinierung von AktivistInnen und Bewegungen
aus ganz Europa dient, die Profilierung einzelner Parteien oder Personen sollte
diesen selbst überlassen werden. Geht die Entwicklung von ESF wie auch des WSF
und örtlicher Sozialforen zu Prominententreffen, wo mensch
nur noch als Publikum und Füllmasse eine Rolle spielen darf, weiter, so sollte mensch dies Gestalten wie Ken Livingston überlassen und
über Alternativen nachdenken.
joe hill
1 Ehemals führend in der
radikalen Linken innerhalb der Labour Party, später Befürworter der
Jugoslawienkrieges 1999. Livingston rief vor einigen Monaten anlässlich eines
Streiks der EisenbahnerInnengewerkschaft RMT bei der
Londoner U-Bahn zum Streikbruch auf.