In zweifelhaften Fällen

entscheide man sich für das Richtige

(Karl Kraus)




"Unschuldig bleibe, Kind, und wisse nichts,

bis du der Tat kannst Beifall rufen. Komm

mit deiner dunklen Binde, Nacht; verschließe

des mitleidsvollen Tages zartes Auge ..." (Shakespeare, Macbeth)



Dreierlei vorweg

Wir, die Rote Aktion Konstraße (RAK), werden uns im folgenden auf die hannöversche Auseinandersetzung zwischen der Antifa-AG der Uni und der Anti-Expo-AG beziehen.


Wir halten weder die Antifa-AG der Uni für antisemitisch, noch halten wir die Anti-Expo-AG für Apologeten der Neuen Mitte.

Wenn wir uns dennoch für die Polemik zwischen diesen beiden Gruppen interessieren, dann geschieht das nicht, um uns auf eine Seite zu schlagen. Die Auseinandersetzung erlaubt uns vielmehr, auf einige Probleme innerhalb der radikalen Linken hinzuweisen. Das scheint uns um so dringlicher, da eine Gruppe sogenannter Anti-Deutscher drauf und dran ist, an der Uni verbliebene linke Gruppen von ihren materiellen Ressourcen zu vertreiben. (1)


"Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung", so am 19.April 1945 die Überlebenden des KZ Buchenwald. Die Losung von Buchenwald war und ist für viele AntifaschistInnen Ansporn und Motivation gegen den Neofaschismus zu kämpfen.

Der Philosoph Theodor W. Adorno hat die Losung um den Imperativ ergänzt, alles zu tun, damit Auschwitz oder ähnliches sich nicht wiederholen kann. Dazu gehört, jede Form des Antisemitismus zu bekämpfen.


Das heutige Deutschland ist Nutznießer des früheren deutschen Imperialismus, Nutznießer der Feldzüge des faschistischen Militärs, der Zwangsarbeit, der Arisierung, der Vernichtung durch Arbeit. "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch" schrieb Bertold Brecht, und der Satz hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Und das betrifft nicht nur die heutigen Faschisten, sondern genauso die Entwicklung des deutschen und europäischen Imperialismus.

Für uns als Linke geht es darum, mit dieser Tradition zu brechen. Das heißt, die Solidarität mit den Opfern des damaligen und heutigen deutschen Imperialismus zu organisieren. Und das heißt, eine Perspektive zu entwickeln, um die gesellschaftlichen Zustände umzuwerfen.

Die Linke kann immer nur von dem ausgehen, was Karl Marx in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie benannt hat: "... alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist ..."

Mit der Tradition brechen - Konstitution und Klassenkampf

Beginnen wir diese Debatte mit einer Äußerung der Anti-Expo-AG:

Nicht nur die Antifa-AG an der Uni Hannover, sondern auch die marxistische Orthodoxie und die AntiimperialistInnen hätten ein unkritisches Verhältnis zum Proletariat gehabt.

Dem war, GenossInnen, mitnichten so.


Antiimperialistische Strategie und Politik ging von der Zerschlagung der Arbeiterbewegung im Nationalsozialismus aus. Sie betonte, im Unterschied zur Marxistisch-Leninistischen Linie: da ist nichts, woran wir anknüpfen können.

Zerschlagung der Arbeiterbewegung: das hieß nicht nur die Zerstörung von Organisationen und die physische Vernichtung Tausender Kader - die Antifa-AG hat zurecht darauf hingewiesen - es hieß die Zerstörung des Subjekts gesellschaftlicher Veränderung, seiner Subjektivität, Kategorien und Kultur, kurz - die Zerstörung des Zusammenhangs von Geschichte und Klassenbewusstsein.


Um dabei nicht missverstanden zu werden:

Zerstörung meint eben nicht nur einen repressiven Zugriff von außen auf die Arbeiterbewegung, es meint ebenso die Aktivierung des vorhandenen Antisemitismus in der Arbeiterbewegung während des Nationalsozialismus.

Der Linken stellt sich daher, insbesondere in Deutschland - im Unterschied etwa zu Frankreich und Italien mit seinen großen Partisanenbewegungen - die Aufgabe der Konstitution: der Konstitution von Kategorien und Kultur gesellschaftlicher Emanzipation.

Wenn, wie in der Marxistisch-Leninistischen Linie, dieses Problem ignoriert wurde, war der unreflektierte Rückgriff auf die Geschichte der Arbeiterbewegung, der Rückgriff auf Kategorien und Kultur der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, unvermeidlich und zugleich peinlich - Proletkult eben.

Die Studentenbewegung, zumindest ihr antiautoritärer Flügel und ihre Nachfolgefraktionen, wussten um die Notwendigkeit von Konstitution. Zugleich wandten sie sich gegen ihre eigenen Autoritäten der Frankfurter Schule, die, da die Konstitutionsproblematik nicht gelöst war, jeder praktisch kritischen Aktion ablehnend gegenüberstanden.

Im Gegensatz und offenem Widerspruch zu diesen Autoritäten betonten sie den Zusammenhang zwischen Konstitution und Klassenkampf: dass Kategorien und Kultur gesellschaftlicher Emanzipation nur im Klassenkampf, nur in praktisch kritischer Aktion des Subjektes gesellschaftlicher Veränderung zu gewinnen sei. Wenn Hans-Jürgen Krahl (2) auf dem internationalen Vietnam-Kongress in Berlin 1967 betonte, dass die Bewegung in den Metropolen durch die Einbindung in ein weltweites Bezugsystem der Kämpfe im Trikont eine politische Entschiedenheit und Kompromisslosigkeit entwickeln könne, die ein Ansatz zur Bildung selbständiger Organisationsformen der Bevölkerung sein könne, dann kennzeichnet genau dies den Zusammenhang von Konstitution und Klassenkampf.


Die radikale Linke in der BRD hat diesen Zusammenhang nicht halten können. Ein Teil hat sich auf die Spuren der Marxistisch-Leninistischen Linie gemacht und so erscheint der Antifa-AG der Uni die Konstitutionsproblematik als das ewige Gejammere kleinbürgerlicher Intellektueller, die darauf aus seien, moralisch rein aus den Fährnissen des Klassenkampfes herauszukommen. So wenig sie damit dem Problem der Konstitution gerecht wird, so sehr trifft sie zurecht jene Antideutschen, die zu den Autoritäten der Studentenbewegung zurückgekehrt sind, jenem "Grandhotel Abgrund" (3), und die sich in der Tat zu Apologeten des Imperialismus gemausert haben (4). Dass sie dabei meinen, die Rationalität des Abendlandes gegen die Irrationalität des Morgenlandes, die Zweifel der Aufklärung gegen das Glauben des Islam zu verteidigen, während in der Tat sich die Irrationalität des Krisenmanagements als Regulationsform des Kapitalismus in zunehmendem religiösem Fanatismus artikuliert, sei hier nur am Rande vermerkt.

Interessant ist vielmehr die Rezeption antideutscher Ideologie, die Aufnahme von Versatzstücken, wie sie bei der autonomen Linken und so auch bei der Anti-Expo-AG zu finden ist. Zum Beispiel jene Kategorie der Gesellschaftlichen Totalität, die die Anti-Expo-AG gegen den konkreten antikapitalistischen Widerstand und seine - wie sie schreiben - verkürzte, personalisierte Kapitalismuskritik ins Felde führt. Es war, und dieser theoriehistorische Rückgriff sei hier erlaubt, der ungarische "Linksradikale" Georg Lukacs, der Anfang der 20er Jahre jene Kategorie gegen den Reformismus der Sozialdemokratie ins Felde führte. Ihm ging es allerdings darum nachzuweisen, dass das Proletariat auf Grund seiner Stellung im Produktionsprozess die Möglichkeit hat, im Klassenkampf zum Bewusstsein gesellschaftlicher Totalität zu kommen.


Lukacs sprach schon damals von einer Möglichkeit und nicht von einem Automatismus. Das ist ein Unterschied, den es heute sicherlich umso deutlicher zu betonen gilt, der aber nicht dazu führen darf, gesellschaftliche Totalität und konkreten Klassenkampf gegeneinander zu stellen.


Dass dies bei der Anti-Expo-AG in ihrer Polemik geschieht, ist keineswegs zufällig. Schließlich steht sie in der Tradition deutscher autonomer Politik. Zu deren "Geburtsfehlern" gehörte, die Frage nach den Kräften gesellschaftlicher Emanzipation zu einer "Suche nach dem revolutionären Subjekt" zu machen, dann diese Suche abzulehnen und zur Politik in der ersten Person zu kommen (wie im übrigen die Politik der Antiimps seit den 80ern auch.). Die Krise dieser Politik rückt die Moral in den Mittelpunkt - das theoretische Pendant ist die jeder gesellschaftlichen Bewegung entledigte Kategorie der Totalität.

Dass auf der praktischen Seite dann wenig Rücksicht auf diese "Erkenntnis" genommen wird, sich kampagnenmäßig auf jede Form gesellschaftlicher Bewegung gestürzt wird, ist nur die andere Seite dieser Medaille.



Antisemitismus in Deutschland

Antisemitismus ist bei aller offizieller Ächtung ein steter Begleiter des Alltags in Deutschland geblieben. Seit den fünfziger Jahren sind Schändungen jüdischer Friedhöfe, Anschläge auf Synagogen und Angriffe auf Juden und Jüdinnen Teil der deutschen Wirklichkeit.


1977 wiesen Alexander und Margarete Mitscherlich in einer Studie darauf hin, dass es nunmehr verstärkt darum gehe, "noch etwas (...) zu kontrollieren: der Einfluss, den die Verrücktheiten ihrer Eltern auf das Weltbild ihrer Kinder nehmen." Es geht um den Nationalsozialismus.

In Bezug auf das Fortwirken des Antisemitismus weisen sie zwar darauf hin, dass dieser eine geringere Rolle als vor 1945 spielen würde, sie nennen aber folgende drei Gründe: "Zunächst hat man ihnen gegenüber den Krieg nicht verloren, sondern in der 'Endlösung' nahezu das Ziel der Auslöschung (...) erreicht. (...) korrigierend wirkte ferner die Tatsache, dass es im Nachkriegsdeutschland kaum noch jüdische Mitbürger gab. Das erschwerte den Fortbestand der Wahnprojektion auf sie (...); und schließlich hat die Gründung Israels eine neue Anschauungsform jüdischen Daseins geschaffen, das sich weitgehend von der jüdischen Assimilation in den Industrie- und Nationalstaaten des Westens unterscheidet."


Das heißt? Es hatte sich nichts verändert. Die Juden und Jüdinnen waren tot oder weg. Das allein reduzierte den Antisemitismus in Deutschland. Auschwitz hat zu weniger Antisemitismus geführt, aber wegen des "Erfolges" - nicht weil eine gesellschaftliche Auseinandersetzung stattgefunden hätte.


Seit dem die BRD 1989 wieder ein souveräner Staat geworden ist, zeigen alle Untersuchungen einen Anstieg des Antisemitismus.

Nach einer Studie der Universität Leipzig vom April 2002 stimmen 31% der Westdeutschen der Aussage voll zu, dass "der Einfluss der Juden auch heute noch zu groß ist". 23% denken, dass "Juden mehr als andere Menschen mit üblen Tricks arbeiten, um sich durchzusetzen." 22% der befragten Westdeutschen sind davon überzeugt, dass "die Juden nicht so recht zu uns passen".


Die Zustimmung zu diesen Sätzen zeigt, dass der in der BRD herrschende Antisemitismus auch vor der Rechtfertigung der Shoa nicht halt macht. Doch der Antisemitismus gehört nicht nur in Form von Meinungen zur deutschen Realität, sondern auch in Form von direkten tätlichen Angriffen und in Form von Kampagnen, die diesen Angriffen einen Rahmen bieten. Von Martin Walser über die Debatten um das Holocaust-Mahnmal in Berlin bis zu Jürgen W. Möllemann - letztendlich geht es immer darum, einen Schlussstrich zu ziehen unter die Geschichte, endlich wieder Normalität herzustellen in Deutschland.

Diese Rückkehr zu Normalität transportiert die Rückkehr zu einer Normalität des Antisemitismus.

Dieser Punkt sollte ins Zentrum der Auseinandersetzung gerückt werden.



Und Israel ...

Unter dem Vorwand der Israelkritik, die als befreiender Tabubruch dargestellt wurde, wird in der öffentlichen Auseinandersetzung abermals auf Stereotypen des Antisemitismus zurückgegriffen (Möllemann etc). Es wird eingeklagt, was niemand bestreitet: das vermeintlich vorenthaltene Recht auf Kritik an israelischer Politik, das Ende behaupteter Privilegien "der Juden" in Deutschland.


Im linken Sandkasten nun wird die Sache umgedreht:

Kritik an der Politik der israelischen Regierung wird tatsächlich in Frage gestellt und pauschal als antisemitisch bezeichnet.

Das geht nur auf zweierlei Weise. Erstens wird die reale Situation in Israel und Palästina nicht zur Kenntnis genommen: weder die Militärpolitik von Sharon noch die rechte, politisch erfolgreiche Siedlerlobby mit ihren rassistischen Vorstellungen, noch die israelische Friedensbewegung mit ihren Analysen spielt da eine Rolle.

Zweitens: die Gleichsetzung und argumentative Vermischung von Israel, israelischer Regierungspolitik, Juden, Judentum, Zionismus, ...

Alles wird umstandslos zu "den Juden". Auf diese Weise kann sich Kritik an israelischer Politik bruchlos zu "Kritik an Juden" verwandeln. (Genauso wird auch alles, was die PalästinenserInnen betrifft, zu einer Einheit verrührt samt ihrer Geschichte, ihren Fraktionen, ihrer heutigen Lage, und aller möglichen Perspektiven.)

Dabei wird auf eben das Bezugsmuster zurückgegriffen, welches dem antisemitischen Wahn als Oberfläche dient: die Vermengung von allem, was mit jüdischem Leben zu tun hat und/oder ihm zugeschrieben wird. Der Unterschied ist allein, dass nun diesem alles Gute der Welt zugeschrieben wird.

Die reine Umkehrung des antisemitischen Ressentiments macht aber dieses zur Grundlage des Denkens und adaptiert es somit.

Das ist ein ebenso hilfloser wie untauglicher Versuch, sich dem antisemitischen Mob entgegenzustellen. Die Nachfahren der Täter und Täterinnen möchten endlich auf der guten Seite stehen. Doch das zu Bekämpfende wird auf neuer Ebene zementiert.



Kopfjucken ist keine Gehirntätigkeit

Bei dieser Gemengelage ist es kein Wunder, dass auch die Diskussionen außerordentlich schief laufen. Wer so schwerwiegende Vorwürfe erhebt, wie den des Antisemitismus, muß darlegen, warum etwas antisemitisch sei, ansonsten bleibt das bloße Behauptung.

Bloße Behauptungen aufstellen bedeutet, politische Begriffe untauglich zu machen für Erkenntnis und Diskussionen. Automatismen und Reflexe auf Reizworte bereiten nicht nur Missvergnügen, sondern sind ein Verbrechen am Verstand: Sie machen dumm.

Besonders bitter ist, dass der Begriff Antisemitismus durch diese Art Gebrauch beliebig und vernutzt zu werden droht. Angesichts eines sich ausbreitenden und auch auslebenden Antisemitismus innerhalb der deutschen Bevölkerung wird der Bezug auf ein wichtiges theoretisches Instrumentarium zum Erkennen, Begreifen und Bekämpfen eben dieses Antisemitismus blockiert.


Ein Vorgehen nach dem Motto: "Wer Antisemit ist, bestimmen wir" sabotiert jedes ernsthafte Bemühen um eine gegen Antisemitismus gerichtete Arbeit.

Dazu wird so getan, als ob "gegen Antisemitismus sein und auftreten" automatisch bedeute, kein Antisemit sein zu können. Gegen Antisemitismus zu sein wird auf diese Weise eine Frage des Bekenntnisses, der Willensbekundung. Unberührt von geschichtlichen und gesellschaftlichen Strukturen und ihrer Bewegung werden so die Einzelnen zu freien und unabhängigen BestimmerInnen ihres Daseins. Wenn das nur so einfach wäre.


Niemand ist Kraft eines bloßen Willens von allen antisemitischen Traditionen und Denkstrukturen befreit. Das betrifft genauso die Linke, die auch nicht auf einer Insel existiert. Gerade eine Linke in den imperialistischen Metropolenstaaten ist nur zu leicht von den herrschenden Ideologien beeinflusst.

Linke haben sich immer der Aufgabe zu stellen, Kritik an der gesellschaftlichen Realität zu üben und ihre Positionen zu überprüfen.

Auseinandersetzung ist also unverzichtbar.


Aber zu oft wird Kritik mit Denunziation, Anklage und Polemik gleichgesetzt - dem Versuch, die Verhältnisse als widersprüchliche und geschichtliche zu begreifen, wird vorgeworfen, entschuldigen und rechtfertigen zu wollen.

Das kennzeichnet auch die Diskussionen: der Schlagabtausch erschöpft sich in Vorwürfen. Kennzeichnungen wie "rassistisch", "antisemitisch" oder "antiamerikanisch" genügen, um eine eigene - scheinbar - richtige Haltung zum Ausdruck zu bringen und sich von den - scheinbar - falschen Haltungen zu distanzieren. Außer einer Selbstversicherung zur eigenen Seite bzw. Abgrenzung zur anderen wird dadurch nichts klarer.

Es verfestigt sich der Verdacht, dass es gar nicht um Klärungsprozesse geht, sondern um die Erlangung einer Oberhoheit im Meinungsstreit a là "Wir sind die Guten".


Zum Beispiel ist der Gebrauch des Begriffes Finanzkapital genauso wenig automatisch antisemitisch wie das Benennen von Verantwortlichen an den Schalthebeln der Macht, ob das nun Staatsoberhäupter oder führende Kapitalisten sind. Weder ist das eine gleich eine Verschwörungstheorie, noch das andere gleich eine Personifizierung des Kapitalismus. Beide Elemente sind für sich nicht automatisch antisemitisch, auch wenn sie einvernehmlich sind mit antisemitischer Weltanschauung.

Zwar ist jeder Dackel ein Hund, aber nicht jeder Hund ist ein Dackel.


Sogar der Gebrauch des Begriffspaars "raffend" und "schaffend" ist nicht automatisch ein Zeichen von antisemitischer Gesinnung. Dazu ein Zitat:

"Der bürgerliche Antisemitismus hat einen spezifischen ökonomischen Grund: die Verkleidung der Herrschaft in Produktion. Waren in früheren Epochen die Herrschenden unmittelbar repressiv, so daß sie den Unteren nicht nur die Arbeit ausschließlich überließen, sondern die Arbeit als die Schmach deklarierten, die sie unter der Herrschaft immer war, so verwandelt sich im Merkantilismus der absolute Monarch in den größten Manufakturherrn. Produktion wird hoffähig. Die Herren als Bürger haben schließlich den bunten Rock ganz ausgezogen und Zivil angelegt. Arbeit schändet nicht, sagten sie, um der der andern rationaler sich zu bemächtigen. Sie selbst reihten sich unter die Schaffenden ein, während sie doch die Raffenden blieben wie ehedem."

Theodor W. Adorno in: Dialektik der Aufklärung, Elemente des Antisemitismus.


Tatsächlich vorhandene Ideologeme wie "raffendes und schaffendes Kapital" verlieren ihre Aussagekraft, wenn sie zum Reizwort reduziert und nicht in ihrem geschichtlichen Kontext bedacht werden.



Welch schlecht berechtigtes Vermächtnis

erwächst dem schwächlichen Gedächtnis ...

Das wird besonders deutlich im Umgang mit Zitaten. Entweder es wird nicht richtig gelesen und daraufhin nicht richtig zitiert oder es werden die Zitate wissentlich so gefälscht und zurechtgebogen, dass sie in die eigene Richtung passen. In beiden Fällen bestimmt das gewünschte Ergebnis den vermeintlichen Beweis.


Historische Vergleiche sind in diesem Streit beliebt. Selten sind diese jedoch untermauert und treffsicher. Denn es geht den VerwerterInnen von Geschichte meist nicht so sehr um die Klärung historischer Auseinandersetzungen und ihrer Folgen, sondern um die Legitimierung ihrer Meinung zu heutigem Zeitgeschehen.

Zitate werden aus ihrem geschichtlichen und politischem Kontext gelöst und können daraufhin nicht begriffen werden. Das betrifft besonders Zitate aus der Geschichte der Linken, die sich schon seit der Frühzeit der Arbeiterbewegung mit Antisemitismus auseinandergesetzt hat und innerhalb der Arbeiterbewegung ihr entschiedenster Gegner war. In deren Auseinandersetzung ging es um die Einschätzung des Antisemitismus und der darausfolgenden Strategie und Taktik zu seiner Überwindung.

Die spezifisch jüdischen Positionen reichten von im Westen Europas lebenden Juden und Jüdinnen, die aufgrund ihrer kosmopolitischen Haltung überwiegend auf Assimilation setzten, über marxistische Strömungen, die eher auf die Überwindung des Antisemitismus im gemeinsamen Klassenkampf setzten, zu verschiedenen jüdischen Strömungen, die wie der "Bund" in Osteuropa einen klassenkämpferischen "Diaspora-Nationalismus" entwickelten und bis zu den linken Zionisten. Diese Auseinandersetzungen verliefen nicht geradlinig und widerspruchsfrei und Begriffe können ihre Bedeutung ändern.

Das ist immer zu berücksichtigen, wenn darauf zurückgegriffen wird.

Zudem ist es meistens eine leichte Aufgabe, sich im Rückblick über die Dinge zu erheben. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Diese Schlauen vergessen dabei nur allzu leicht, dass sie auf den Schultern derjenigen stehen, die sie nun verspotten und beschimpfen.

Der immer wieder gerne hervorgeholte Dimitroff ("Der Faschismus an der Macht ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.") ist dabei ein gutes Beispiel. Die Aussage war eine Stellungnahme innerhalb eines Streites in der Linken um die Einschätzung und den Umgang mit Faschismus.

Es gab eine Reihe von Ansätzen, die faschistischen Bewegungen zu begreifen und eine Praxis daraus zu entwickeln. Die meisten datieren aus den zwanziger und von Anfang der dreißiger Jahre, als die ersten Schläge der Faschisten gegen die Arbeiterbewegung gerichtet waren. Auch über den Charakter des Antisemitismus wurde gestritten, und nur wenige konnten erahnen, was geschehen würde. Dimitroffs Satz ist von 1934! Er wurde formuliert vor der Wannseekonferenz, bevor die Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz in Gang gesetzt wurde, vor der Shoa. So ist der Dimitroffsche Satz weder völlig und uneingeschränkt falsch, noch erfasst er die gesamte Dimension.

Und wer sich mokiert über eine fehlende oder "falsche" Faschismusanalyse, der sollte doch bedenken, wie jung eine tiefere Auseinandersetzung ist - bis auf wenige Ausnahmen wird erst seit den siebziger Jahren darüber intensiv geforscht und nachgedacht und auch gestritten.


Es ergeben sich weitere Kurzschlüsse, dafür ein Beispiel:

Wer sich gegen den US-Imperialismus wende oder die Politik Israels gegenüber den Palästinensern kritisiere mache sich gemein mit reaktionären antiimperialistischen Gruppen oder Staaten.

Aber die Feinde von Ausbeutern und Unterdrückern müssen nicht immer Feinde von Ausbeutung und Unterdrückung sein. Das ist keine neue Sache, schon im kommunistischen Manifest von 1848 ist ein ganzes Kapitel der Kritik an den reaktionären Feinden des Kapitalismus gewidmet. Reaktionäre Feinde des Imperialismus müssen bekämpft werden. Die Geschichte der nationalen Befreiungsbewegungen ist auch eine Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen diesen Richtungen. Und nicht zufällig haben die Imperialisten jeglicher Couleur immer auf der Seite der reaktionären Kräfte in die Kämpfe eingegriffen, spätestens sobald die antikolonialen Bewegungen nicht mehr aufzuhalten war. Sie fanden in ihnen ihre Basis für die nachkolonialen Zeiten.

Es hat sich ja auch mittlerweile herumgesprochen: Fast alle, die heute als "Terroristen" auf der Abschussliste der imperialistischen Staaten stehen, sind von diesen selbst als ihre Kettenhunde herangezüchtet worden.




Die Spitzen der Eisberge

a) Falls wir die politischen Bezugspunkte aus den Augen verlieren und den verbalen Baseballschläger in die Hand nehmen, hat jede Diskussion ihr Potential an Erkenntnis und Veränderung verloren. Wir begreifen diesen Text als Diskussionsbeitrag zu einer Debatte - die, wird sie nicht geführt, jenen Teil der ehemaligen Linken stärkt, der dumm macht, weil er auf Reizworte mit Automatismen und Reflexen reagiert statt mit dem Verstande.

Wir fordern eine Auseinandersetzung, in der die Verhältnisse als widersprüchliche und geschichtliche, also als veränderbar begriffen werden. Alles andere lohnt das Denken nicht.


b) Wir sind uns sicher, dass Kategorien und Kultur gesellschaftlicher Emanzipation nur in praktisch kritischer Aktion des Subjektes gesellschaftlicher Veränderung zu erlangen ist. Das bedingt in Deutschland zwangsläufig, diese Kategorien nach Auschwitz neu zu konstituieren. Wer aber Konstitution nicht als Prozess begreift, in dem taugliche Konstitutionsbedingungen erst kollektiv erarbeitet und erkämpft werden müssen, macht sich schlichtweg unfähig zur Politik und also auch zur Veränderung der Verhältnisse.

c) Angesichts des sich verstärkenden Antisemitismus in Deutschland, in ganz Europa, ist es ein gefährliches Unterfangen, blindwütig mit dem Vorwurf des Antisemitismus umzugehen. Allzu sehr scheint für einige nur das subjektive Bemühen um einen sehnsüchtig erhofften Platz auf der "guten Seite" der Antrieb zu sein. Diese wollen sich selbst genügen - es geht ihnen um ihr Wohl, nur vordergründig um die Bekämpfung des Antisemitismus. Wer diesen instrumentalisiert, leistet ihm Vorschub.

Die reaktionäre Forderung nach Ziehung eines Schlussstriches unter die deutsche Geschichte muss bekämpft werden! Denn dieserart Herstellung von Normalität in Deutschland transportiert die Rückkehr zu einer Normalität des Antisemitismus.


d) Wer die Situation in Israel und in den palästinensischen Gebieten zur Kenntnis nimmt, kommt nicht umhin, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren. Von Linken müssen wir das erwarten können. Eine quasi kausale Gleichsetzung von Kritik an der Regierungspolitik von Israel mit Antisemitismus ist Nonsens. Mit ihr werden Begriffe untauglich gemacht und Zustände verschleiert und für unbegreifbar erklärt. Mit emanzipatorischer Politik hat das nichts zu tun. Belassen wir es in Fragen der internationalen Solidarität bei dem, was wir einigermaßen können: Die linken Kräfte vor Ort zu unterstützen, mit ihnen solidarisch zu sein.


e) Sollten in Zukunft weitere Versuche unternommen werden, linke Gruppen aus Uni- oder anderen Strukturen hinaus zu werfen, verlangt das nach einer Intervention der hannöverschen Linken.

Es verlangt nach einer Intervention über alle Differenzen hinweg.




"Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. Das Rätsel gibt es nicht. Wenn sich eine Frage überhaupt stellen lässt, kann sie auch beantwortet werden." (Ludwig Wittgenstein)



RAK, 24. März 2003


Dieser Text wird inhaltlich unterstützt von der Antifa 3000 / Hannover




Rote Aktion Kornstraße (RAK)

c/o UJZ Korn

Kornstr. 28-30

30167 Hannover


eMail: RAK@ujz-korn.de




Hintergrundinformationen zu dieser Auseinandersetzung sind im Internet auf den Seiten der Antifa-AG der Uni Hannover http://www.kickme.to/antifa-uni-hannover

und auf den Seiten der Fachschaft Sozialwissenschaften / Geschichte der Theodor-Lessing-Universität Hannover http://www.stud.uni-hannover.de/gruppen/fs-sowi/ zu finden.