Antifa-AG der Uni
Hannover:
Am
Freitag, den 4.März 2005, wurde die einen Monat zuvor in Bagdad entführte
Korrespondentin der unabhängigen, linksradikalen, italienischen Tageszeitung
„il manifesto“ und der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“, Giuliana Sgrena,
(wahrscheinlich gegen die Zahlung eines Lösegeldes von mehreren Millionen Euro)
von ihren Entführern unversehrt freigelassen. Auf dem Weg zum Flughafen von
Bagdad geriet ihr Auto an einem Checkpoint der US-Truppen ohne Vorwarnung unter
Beschuss. Dabei wurde der die Aktion in Bagdad leitende Geheimdienstagent
Calipari (SISMI) durch einen Kopfschuss getötet. Giuliana Sgrena und der Fahrer
des Wagens (ein ehemaliger Carabinieri-Major) erlitten Schussverletzungen.
Dieser ungeheuerliche Vorfall sorgte nicht nur in Italien für großes Aufsehen.
Die Mitbegründerin und längjährige Chefredakteurin von „il manifesto“, Rossana
Rossanda (81), die als linke Publizistin auch im deutschsprachigen Raum durch
diverse Bücher und Aufsätze bekannt ist, schrieb dazu den folgenden Leitartikel
für die „il manifesto“-Ausgabe vom 6.3.2005, den wir
übersetzenswert fanden, auch wenn wir nicht mit allen seinen Aussagen
übereinstimmen (insbesondere was die Verklärung von Teilen des SISMI anbelangt).
Präventiver Mord
ROSSANA ROSSANDA
Ich habe, wegen der zu
großen Macht, die sie besitzen und der Immunität, die sie genießen, niemals an
die Sicherheitsdienste geglaubt. Der Zweifel bezüglich ihrer Nützlichkeit war
die einzige Meinung, die ich mit Indro Montanelli <Anm.1> teilte. Die Realität ist allerdings komplexer als
die Vermutungen. Es gibt integre Menschen in zweifelhaften Institutionen und
umgekehrt und ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich während der
Entführung von Giuliana Sgrena den Verdacht hatte und geschrieben habe, dass
unsere Geheimdienste nichts wussten und nichts taten.
Stattdessen hatte sich auch
in der Regierung (zum zweiten Mal) die Entscheidung zugunsten von Verhandlungen
durchgesetzt. Ob es einer Ethik des Pflichtgefühls oder aus politischer
Opportunität heraus geschah, ist egal. Wichtig ist, dass sie sich durchgesetzt
hat. Einer Handvoll Männer der Geheimdienste und denjenigen, die sie
dirigierten, verdanken wir, dass Giuliana lebt und frei ist. Lebt, trotz des
Kugelhagels eines gepanzerten Amerikaners, der den Wagen der Geheimdienste
unerwartet traf, der sie zum Flughafen brachte. Traf, um zu töten. Von den drei
Agenten <Giuliana
Sgrena sprach später – entgegen offiziellen Verlautbarungen – nur noch von
zweien> kam einer (Dr. Calipari) ums
Leben als er sich auf unsere Genossin warf, um sie zu schützen. Zwei wurden
verletzt. Giuliana selbst wurde von einem Streifschuss getroffen. Das ist kein
Unfall.
In den erregten Stunden, die
folgten, gab es den plumpen Versuch von RAI 1 <dem 1. öffentlich-rechtlichen Fernsehkanal> alles mit Schweigen zu übergehen, solange der
Ministerpräsident <Berlusconi> sich nicht dazu geäußert hat. Und dann wurden in
verschiedenen Zeitungen zahlreiche Rechtfertigungen verbreitet: tragischer
Fehler, zufälliger Fehler, Missverständnis und sogar von einem „Versehen“ war
die Rede. Und da war <Alleanza
Nazionale-Parteichef und Außenminister>
Finis Ausspruch: „grausamer Scherz des Schicksals“. Nein, das Schicksal
hat nichts damit zu tun. Wir stehen vor einem Vorfall, der nicht geschehen
durfte, vor einem unverzeihlichen „Kollateralschaden“, vor einem Mord,
der am Ende als ‚nicht vorsätzlich’ durchgehen wird, auch wenn die
Staatsanwaltschaft von Rom gestern eine Akte wegen vorsätzlichen Mordes
angelegt hat. Während der Entführung war Giuliana dem Tod nicht so nah wie
während der amerikanischen Schießerei.
Bezüglich derer viele
Fragezeichen bleiben. Alles kann man denken, außer dass ein vorsichtiger SISMI-Agent,
wie der Dr. Calipari, in eine Zone mit engmaschiger militärischer Kontrolle,
wie dem Weg zum Flughafen eindrang, ohne seine Identität preiszugeben. Das
hätte er beim Betreten derselben auch gar nicht gekonnt.
Um so mehr wenn er aus
Gründen der Vorsicht ein Allerweltsauto benutzte, weil er über hoch entwickelte
und auch für große Entfernungen geeignete Kommunikationstechnologien verfügte.
Und es ist meines Erachtens erschreckend, zu vermuten, dass irgendein
Befehlsstab, weil er davon überzeugt ist, dass man nicht verhandeln sollte (wie
die Engländer und die Amerikaner) seinen Untergebenen die Anweisung erteilt
hat: Wenn diese Italiener vorbeikommen, legt sie um! Sicher, man kann keine
Möglichkeit ausschließen und es ist zu bezweifeln, dass es uns gelingen wird,
wirklich zu erfahren, wie es abgelaufen ist. Es kann auch sein, dass die Dinge
einfacher und grausamer sind. Die Soldaten des Panzerwagens haben es aus
Unüberlegtheit oder Angst oder zuviel Whiskey versäumt, sich an die
Informationen zu halten, die sie sicherlich bekommen hatten und haben die
nationale Maxime angewandt: Erst schießen, dann nachsehen. <“Ask questions later!“> Wenn ihre Regierung über den präventiven Krieg
theoretisiert und ihn führt, warum sollten die Truppen dann nicht dasselbe
System praktizieren? Die uranfängliche Information, die sie verinnerlicht
haben, lautet, dass die Vereinigten Staaten über den Regeln stehen. Deshalb
haben sie Giuliana und die anderen Verletzten lange im Auto liegen lassen bevor
sie sich entschieden, ob und wie sie von ihnen Notiz nehmen und die Eindrücke
für sich behalten sollten, die sie sicherlich hatten.
Das ist keine andere
Philosophie als diejenige, die die Missbräuche von Abu Ghraib ermöglicht hat.
Auch dort haben sich die Soldaten (männliche und weibliche) autorisiert
gefühlt, ihren Sadismus an den irakischen Untermenschen auszutoben. Diejenigen,
die gestern Abend <am
4.3.2005> in dem Panzer saßen, waren
sehr jung, wie bezeugt wurde, hatten gerade eine erfahrene Abteilung abgelöst
und natürlich den Reflex präventiv auf unbekannte Lebewesen (die mit Sicherheit
aber weniger wichtig waren als die amerikanischen) zu schießen. Sie sind von
Kopf bis Fuß bewaffnet, leben nur mit Ihresgleichen zusammen, getrennt von
einem unglücklichen Land, in dem sie sich unbeliebt vorkommen. Aber auch die
amerikanische Arroganz hat Grenzen. Was dieses Mal dadurch verdeutlicht wurde,
dass sie keine Iraker (dieses Konto existiert gar nicht) trafen, sondern einen
Beamten der italienischen Regierung und das sozusagen live, während er mit dem
Büro des Ministerpräsidenten in Rom telefonierte. Bush musste sein Bedauern
ausdrücken und der <US->Botschafter, zum ersten Mal in den <italienischen Regierungssitz> Palazzo Chigi einbestellt, versichern, dass die Verantwortlichen
dafür bezahlen werden. Das hat sogar Berlusconi gefordert, der Zahmste der
Verbündeten, der sich in ernsten Schwierigkeiten sieht. In diesem sinnlosen
Krieg hat Italien mittlerweile nicht wenige Menschen verloren. Und dieses Mal
aufgrund eines äußerst vermeidbaren „freundlichen Feuers“. Die Regierung
merkt, wie wenig Rücksicht die Armee des Freundes Bush auf sie nimmt. Eine
Überprüfung von Gewinnen und Verlusten des weiteren Verbleibs unserer Truppen
im Irak sollte sich einem so erfahrenen Manager <wie Silvio Berlusconi> aufdrängen.
Anmerkung
1:
Indro
Montanelli (1909 – 2001), sehr bekannter und mehrfach ausgezeichneter
italienischer Journalist. Politisch ein kritischer Beobachter, zugleich aber
ein weitgehend gefolgschaftstreuer Christdemokrat und entschiedener Antikommunist
mit Sympathien für die Monarchie der Savoyer. Wurde in den letzten Jahren des
italienischen Faschismus wegen seiner Sympathien für den Widerstand und einen
Mussolini-kritischen Artikel inhaftiert und von den deutschen Besatzern zum
Tode verurteilte, konnte aber fliehen und verbarg sich bis Kriegsende im
Untergrund. Zunächst führender Kopf von Berlusconis Tageszeitung „Il
Giornale“ (Die Zeitung), kam es nach dessen erster Regierungsbildung
(zusammen mit dem ehemaligen Neofaschisten der Alleanza Nazionale und den
Rechtspopulisten der Lega Nord) 1994 zum Bruch. Montanelli gründete die
Tageszeitung „La Voce“ (Die Stimme), die zum Organ der liberaldemokratischen
Opposition gegen die Berlusconi-Regierung wurde. Publizistisch zwar ein Erfolg,
musste „La Voce“ jedoch nach kurzer Zeit wegen mangelnder finanzieller
Mittel eingestellt werden. Danach arbeitete Montanelli beim linksliberalen „Corriere
della Sera“ (Abendkurier), wo er eine eigene Rubrik unterhielt.
Vorbemerkung,
Übersetzung, Anmerkung und Einfügungen in eckigen Klammern:
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