Antifa-AG der Uni
Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Anlässlich
der Wahlen zu den Rappresentanze Sindacali Unitarie (Einheitliche
Gewerkschaftliche Vertretungen – RSU – eine Mischung aus Betriebs-/Personalrat
und einem organisationsübergreifenden gewerkschaftlichen Vertrauensleutekörper
mit relativ geringen Befugnissen) im Öffentlichen Dienst Italiens befragte die
linke Tageszeitung „il manifesto“ den Generalsekretär der größten
Branchengewerkschaft Funzione Pubblica (FP-CGIL), Carlo Podda, zur Lage in
diesem Sektor. Das am 11.11.2004 erschienene Interview gewährt einige
interessante Einblicke in die dortigen Beschäftigungsverhältnisse und
Stimmungen.
Interview:
Die im Öffentlichen Dienst
Beschäftigten ? Sind mittlerweile alle
prekär !
Unter den Praktikanten, denen ein
Euro die Stunde gezahlt wird und den unsicher Beschäftigten. Die Wahlen der
RSU’en. Es spricht Carlo Podda (CGIL).
Antonio Sciotto
Das wichtigste Thema, über
das in den Versammlungen der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes gesprochen
wird ? Das ist nicht der Tarifvertrag –
so umkämpft die mit seiner Erneuerung verbundenen Angelegenheiten auch sind –
sondern das Umsichgreifen der Prekarität. „Überfüllte Treffen“, erklärt der
Generalsekretär der CGIL-Branchengewerkschaft Funzione Pubblica (FP), Carlo
Podda, „auf denen neben den unbefristet Beschäftigten sehr viele befristet
Beschäftigte vertreten sind und mitdiskutieren: ehemalige kontinuierlich
kooperierende (co.co.co’s) und nunmehr projektbezogen beschäftigte
Arbeitskräfte, ehemalige LSU’ler <d.h. mittels öffentlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen –
ABM – Beschäftigte>, Teilzeitarbeiter
und ‚frisch geprägte’ Figuren, die mittlerweile auch in unserem Sektor
verbreitet sind: die Praktikanten, denen zwischen einem und 1,50 Euro die
Stunde gezahlt wird, ohne Sozialbeiträge“. Der Bereich des Gesundheitswesens
und der Lokalbehörden, der Ministerien und der Agenturen bereitet sich auf die
Wahlen der RSU’en vor, die vom 15.-18.November stattfinden werden und das
schwierigste anstehende Thema ist das Thema ‚Soziale Unsicherheit’, die von den
„Atypischen“ direkt zu den traditionellen, verarmten und gleichermaßen der
Prekarität ausgesetzten Beschäftigten führt. Aber man diskutiert auch über
Dienstleistungen, weil – wie der Slogan der CGIL-Kampagne besagt: „Öffentlich
ist besser !“ Welche Qualität kann man bei einer mittlerweile derart
zersplitterten und schizophrenen Arbeit anbieten ? Darüber haben wir mit Podda gesprochen.
Es beeindruckt – auch
wenn es nicht mehr so sehr erstaunt – dass die Engagiertesten in den
Versammlungen oftmals die prekären sind, die nicht mal wählen können. Wie
reagiert Ihr auf dieses enorme und noch nicht zum Ausdruck gekommene Bedürfnis
nach Vertretung ?
„Dieses Bedürfnis ist in
Wahrheit größer als man glaubt. Mittlerweile sind 30% der in Lokalbehörden oder
im Gesundheitswesen Arbeitenden in den verschiedenen Formen prekär beschäftigt,
d.h. ungefähr 300.000 gegenüber 1,2 Millionen unbefristet Beschäftigten. Und
wenn wir die Ministerien und die Agenturen hinzuzählen, kommen wir auf 1,7
Millionen Beschäftigte, mit einer Anzahl an Prekären, die im entsprechenden
Verhältnis steigt. Es sind allerdings nicht nur die sog. ‚Atypischen’, die sich
unsicher fühlen, sondern mittlerweile alle Beschäftigten. Bei den Privatisierungen
und Ausgliederungen kann es z.B. passieren, dass eine Krankenhausabteilung zu
einer Stiftung oder zu einer Aktiengesellschaft wird – mit dem sofortigen
Verlust der Sicherheit für alle Beschäftigten. Wir müssen die prekären
notwendigerweise stabilisieren, aber um das zu tun, muss man allgemeiner über
die öffentlichen Dienste in Italien und über die Privatisierungen nachdenken. Wir
müssen sagen: Genug mit dem Rausch der letzten 15 Jahre in Sachen ‚Privat
ist schön !’ und wieder entschlossen das Öffentliche anstreben. Ein
öffentlicher Dienst muss von öffentlich Bediensteten geleistet werden und aus
dieser allgemeinen Veränderung kann und muss sich die Lösung des Problems
‚Prekäre Beschäftigung’ ergeben. Während sich die Ausschreibungen vervielfachen
(im letzten Jahr haben sie laut Rechnungshof um 54% zugenommen) erhöht sich die
Zahl der prekär Beschäftigten – ein absurder Widerspruch. Welche Garantie für
die Ausbildung und das gute Zusammenwirken mit der Ärzteschaft kann ich als
Bürger und Nutzer des Gesundheitswesens bei Krankenschwestern haben, die von
einer Kooperative gestellt werden ? Mit
unserem Slogan ‚Öffentlich ist besser !’ präsentieren wir auch ein
Kriterium, um zu begreifen, welche Dienstleistungen öffentlich sein müssen. Es
reicht aus, sich zu fragen: ‚Ist diese Dienstleistung ein Recht ?’ Das Gesundheitswesen, die Bildung, die
Wasserversorgung – sind das Rechte ?
Wenn sie es sind, muss man dafür sorgen, dass das öffentliche Güter
sind, mit gesicherten öffentlich Bediensteten.“
Ist das ein Appell auch
an die Politik ?
„Sicher und ich sage noch mehr:
Ich habe kein Problem damit zu behaupten, dass das Gesetz Nr.30/2003 nicht das
einzige Problem ist, sondern davor noch das Treu-Paket <siehe Anm.1> ist, das dazu beigetragen hat, die prekäre
Beschäftigung in Italien zu verbreiten. Wenn die CGIL und unsere
Branchengewerkschaft sich zusammen mit Parteien und Bewegungen an den
programmatischen Verhandlungstisch der Mitte-Linken setzen und wenn es <nach den Wahlen im April
2006> eine Mitte-Links-Regierung gibt
(wenn es sie gibt !), müssen wir diese Prinzipien mit Nachdruck verteidigen.
Die CGIL kann eine Selbstkritik üben – gewiss –, weil sie sich seinerzeit
bestimmten Fehlern bei der Reform der Arbeit und der Dienstleistungen nicht
widersetzt hat. Sie kann und muss aber noch mehr tun: nämlich Vorschläge machen
!“
Schließlich ist da – ein
nicht geringes Problem – auch noch der Tarifvertrag…
„Gewiss. Der ist
gleichermaßen wichtig. Man denkt an die öffentlich Bediensteten als an die
‚Abgesicherten’. Aber in den letzten Jahren sind große Teile des Reallohnes
verloren gegangen. Die Inflation wurde nicht ausgeglichen und jetzt fordern wir
8%, während uns die Regierung 3,7% anbietet. Mit einem <an uns gerichteten> Hinweis: ‚Wir werden mehr anbieten, wenn Ihr den
Einstellungsstopp und das Ende der ergänzenden betrieblichen Tarifabkommen
akzeptiert. Beides unakzeptable Forderungen, weil der öffentliche Sektor – ganz
im Gegenteil – Neueinstellungen und die Stabilisierung der prekär Beschäftigten
braucht und weil die ergänzenden Tarifverhandlungen zu blockieren, bedeuten
würde, die bessere Organisation in den Arbeitsstätten zu verhindern. Etwas, das
wir uns mit Sicherheit nicht erlauben können, wenn wir qualitativ bessere
Dienstleistungen wollen.“
Anmerkung
1:
Bei dem
sog. „Treu-Paket“ handelt es sich um ein Paket von Gegenreformen in der
Arbeitsmarkt- und Sozialgesetzgebung, das von dem von 1995 bis 98 amtierenden
und insbesondere der CISL eng verbundenen, mitte-linken Arbeitsminister Tiziano
Treu entworfen und durchgesetzt wurde.
Vorbemerkung, Übersetzung,
Anmerkung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover