Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Die
israelische Anti-Kriegs-Bewegung macht seit Anfang August 2006 kleine
Fortschritte im Kampf gegen die von der Großen Koalition der Ehud Olmert und Amir Peretz im Gaza-Streifen und im Libanon geführten
Vernichtungsfeldzüge – parallel zur wachsenden Skepsis in der Bevölkerung, ob
sich insbesondere der Krieg gegen die (mittlerweile von 80% der Libanesen
unterstützte) Hisbollah wirklich gewinnen lässt. Dennoch stellen die
Kriegsbefürworter nach wie vor eine Dreiviertel-Mehrheit im Staate Israel dar.
Die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“
brachte am 2.8.2006 (d.h. wenige Tage vor einem markanten
Rückgang des Siegesoptimismus) das folgende Interview mit Peretz
Kidron, einem Leitungsmitglied der
Kriegsdienstverweigerer-Organisation Yesh Gvul.
Interview:
„Unser pazifistischer Kampf in einem Land,
das den Krieg will“
Peretz Kidron,
Verantwortlicher für die internationalen Beziehungen von Yesh
Gvul („Es gibt eine Grenze“) spricht über die
Angst der Israelis, aber auch über diejenigen, die die Waffen ablehnen.
Sveva
Haertter
Amir Pasteur (32 Jahre),
Hauptmann der israelischen Armee, verbüßt seit dem 31.Juli eine 28tägige Gefängnisstrafe,
weil er die Einberufung verweigert hat (wobei er allerdings nicht der Einzige
war). Die Friedensbewegung hat dem Phänomen der „Refuseniks“
<Verweigerer> immer große Beachtung geschenkt. Um mehr darüber zu
erfahren, sprachen wir mit Peretz Kidron,
der bei Yesh Gvul (Es gibt
eine Grenze), eine der wichtigsten Refuseniks-Gruppen,
Verantwortlicher für die internationalen Beziehungen ist.
Macht Ihr, neben dem
Aufruf zu Verweigern, noch andere Aktionen?
„Als Yesh
Gvul bereiten wir derzeit einen formellen Antrag an
die juristischen Institutionen vor, um den Beginn von Ermittlungen über die
Kriegsverbrechen zu verlangen. Es gibt viele Ereignisse, die auch von einem
ausschließlich juristischen Standpunkt aus potentiell als Kriegsverbrechen
einzustufen sind: die Angriffe auf die Zivilbevölkerung, die öffentlichen und
privaten Infrastrukturen sowie die Elektrizitätswerke und es gibt die
Flüchtlingsfrage. Die Angriffe auf die libanesische Armee, der gegenüber es
offiziell keinen Kriegszustand gibt. Gewiss erwarten wir uns davon keine großen
Ergebnisse, aber wir wollen das Problem aufwerfen und das Mögliche tun, damit
die Verantwortlichen für diese Aktionen vor Gericht gestellt werden.“
Wie ist das Klima in der
öffentlichen Meinung?
„Das Klima ist bedrückend.
Ca. 90% der Bevölkerung ist total für diesen Krieg. Ich spreche hier
selbstverständlich von der jüdischen Bevölkerung. Es versteht sich von selbst,
dass die Palästinenser mit israelischer Nationalität anders darüber denken. Wir
gehörten zu den ersten, die Protestaktionen ins Leben riefen. Wir haben sogar
die erste Demonstration organisiert, die vor der Residenz des
Ministerpräsidenten <Ehud Olmert> stattfand. Es gibt praktisch jeden Tag
Mobilisierungen und in Tel Aviv fanden an den letzten beiden Samstagen
Demonstrationen mit sehr großer Beteiligung statt. Wie immer bewegen sich
vorläufig nur die radikaleren Gruppen.“
Denkst Du, dass sich
diese Situation ändern kann?
„Was im Augenblick
geschieht, nenne ich das ‚Große Zehe-Syndrom’. Du weißt, wie das ist,
wenn Du ans Meer fährst und den Zeh ins Wasser steckst, um zu testen, ob es zu
kalt ist? Im Allgemeinen fassen, wenn der Protest zunimmt, auch die weniger
radikalen Organisationen Mut und schließen sich an.
Bevor sie allerdings die Initiative ergreifen, wollen sie es genau wissen. So
war es bei der ersten Intifada. In der Tat ist
die Situation schwierig, gibt es ein weit verbreitetes Klima der Unterstützung
für die Armee und eine Begeisterung für einen Verteidigungskrieg, der deshalb
als gerecht betrachtet wird. Einer anderen Stimme Gehör zu verschaffen, ist
sehr schwierig. Wir müssen fast immer zu bezahlten Anzeigen greifen. In Phasen,
wie dieser, sind die Medien sehr patriotisch und nationalistisch und ist es für
die radikale Linke äußerst schwierig Raum zu gewinnen. Es gibt die ersten
schüchternen Anzeichen einer Veränderung, aber die Unterstützung für Regierung
und Armee bleibt sehr stark. Es gab <bislang> 51
Tote auf israelischem Territorium, viele Leute leben in den Schutzräumen, die
wirtschaftlichen und materiellen Schäden sind beträchtlich und die Leute haben
wirklich Angst. Jerusalem ist voll von Evakuierten. Das stärkt natürlich die
Position der Regierung, die in Richtung Krieg drängt. Selbst die dramatische
Lage in Gaza, wo die Angriffe der Armee kontinuierlich weitergehen und fast
jeden Tag zu Toten und Verletzten führen, findet fast stillschweigend statt,
außer für die Rechte, die weiterhin sagt, dass der einseitige Rückzug ein
Fehler gewesen sei. In der Tat habe auch ich gedacht, dass es ein Fehler
gewesen ist. Allerdings nicht wegen des Rückzuges an sich, sondern aufgrund der
Tatsache, dass er einseitig vollzogen wurde und nicht auf der Grundlage eines
Abkommens zwischen den Parteien.“
Hast Du Dir von dieser
Regierung etwas anderes erwartet?
„Offen gestanden ja. Sie hat
mich sehr enttäuscht. Sie hat den gesamten Wahlkampf geführt, indem sie von der
Notwendigkeit sprach, die Militärausgaben zu kürzen, um Mittel in Richtung der
Sozialausgaben zu verlagern. Stattdessen hat sie sofort die Positionen der
Armee übernommen, über die sie – wie mir scheint – keinerlei Kontrolle hat. Im
Gegenteil, ich habe den Eindruck, dass sie das noch nicht einmal versucht und
dass es die Armee ist, die die Entscheidungen trifft, während die Regierung sich
darauf beschränkt, sie in die Praxis umzusetzen. Sowohl <Kriegsminister> Peretz als auch Olmert sind keine Berufsmilitärs und neigen daher dazu den
Generälen gegenüber eine subalterne Rolle zu spielen. Sie fürchten, dass die
Spitzen der Armee sie in der Zustimmung der öffentlichen Meinung überflügeln
könnten.“
Willst Du damit sagen,
dass die Tatsache, dass es zum ersten Mal wichtige Regierungsvertreter gibt,
die keine militärische Karriere hinter sich haben, derzeit der Armee mehr Macht
verleiht? Ist das nicht ein Paradox?
„Nein, so ist es nicht. Es
handelt sich um eine strukturelle Tatsache, die im System angelegt ist. Es gibt
sehr wenige Präzedenzfälle, in denen die Regierung etwas trotz der ablehnenden
Haltung der Armee getan hat, die ihr Hauptbezugspunkt und der Einzige ist, der
in der Lage ist, strukturierte Programme zu liefern. Es fehlt z.B. ein Gremium
wie der Nationale Sicherheitsrat, den es in den USA gibt. Nicht, dass das viel
an den Entscheidungen ändern würde, aber es wären jedenfalls (zumindest
theoretisch) andere Einschätzungen und andere Optionen möglich. Die Militärs
sind da <in den
USA> nicht der einzige
Gesprächspartner der Regierung. Der Militärkorrespondent der <großen linksliberalen
israelischen Tageszeitung> ‚Haaretz’, Amir Oren (also
eine gut informierte Person), sprach vor kurzem in einem Artikel von zwei
wichtigen Fragen, d.h. von der Tatsache, dass die Armee seit Monaten dabei sei,
sich auf diese Situation vorzubereiten und von der Tatsache, dass der General Iland (seinerzeit Berater für die nationale Sicherheit) die
Notwendigkeit einer politischen und diplomatischen Initiative behauptete, mit
einem Gefangenenaustausch und Interventionen, was die Lage im Norden anbelangt,
insbesondere in Bezug auf die <von Israel besetzt gehaltenen> Shebaa-Höfe. Olmert
habe das abgelehnt.“
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover + Gewerkschaftsforum Hannover