Antifa-AG der Uni Hannover:
Der Generalsekretär von Rifondazione Comunista, Fausto Bertinotti, hat die Gewaltfreiheit als „unabdingbare Grundlage“ linker bzw. kommunistischer Politik entdeckt. Einer Politik, die er nach dem erträumten Sturz Berlusconis baldmöglichst als Minister einer neuen Mitte-Links-Regierung praktizieren will. Da kamen der Medienrummel um die Festnahme 7 mutmaßlicher Mitglieder der neuen Roten Brigaden, die militanten Auseinandersetzungen am Rande der Demonstration gegen den EU-Gipfel am 4.Oktober in Rom und die denunziatorischen Äußerungen des ehemaligen Prima Linea-Mitgliedes Sergio Segio gegen die Bewegung gerade recht, um die im Niedergang begriffene „Bewegung der Bewegungen“ zu „zivilisieren“, sie vollends zu integrieren und sich selbst salonfähig zu zeigen.
Man fragt sich angesichts dessen unwillkürlich, wann – nachdem auf dem letzten Parteitag bereits Lenin als Klassiker gestrichen wurde – Rifondazione unter dieser Parteiführung auch den Bezug auf Marx und den Kommunismus aus ihrem Programm und ihrem Namen streichen wird. Oder weiß der Genosse Bertinotti gar nicht, dass Marx und Engels (diese beiden alten Fundamentalisten) am Ende des Kommunistischen Manifestes betonten: "Die Kommunisten verschmähen es, Ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.“ (MEW Band 4, S. 493)
Aber lassen wir Bertinotti selbst zu Wort kommen. In einem Interview für die große, linksliberale Tageszeitung „la Repubblica“ vom 2.11.2003:
Das Interview:
Fausto Bertinotti: „Sergio Segio hat einen richtigen Brief abgeschickt, allerdings an den falschen Adressaten.“
„Diese Bewegung ist neu. Die Gewalt wird keinen Fuß fassen.“
Carlo Bonini
ROM – Der Sekretär von Rifondazione Comunista sagt es mit einem zufriedenen Lächeln: „Endlich ein Lichtblick und die Gelegenheit über Politik zu reden. Die wirkliche…“
Hat Sergio Segio ins Schwarze getroffen ?
„Sagen wir, dass Segio (eine Person, die ich schätze) und mein Freund Marco Revelli einen Brief abgesandt haben, der einen falschen Adressaten hat, da ich der Meinung bin, dass dies nicht die Bewegung ist und nicht sein kann. Und ich werde Ihnen auch erklären, warum. Es besteht aber kein Zweifel, dass das Thema des Verhältnisses zwischen bewaffnetem Kampf und politischer Kultur eine außerordentliche Gelegenheit sein kann, die sich der Linken (und nicht nur ihr) bietet, um ein entscheidendes Problem des 20.Jahrhunderts anzugehen: die Gewalt. Sehen Sie, ich glaube, dass Segio ein extrem präzises Wort benutzt hat als er von Infiltration sprach, weil der Begriff den Versuch beschreibt, einen anderswo (im Geheimen) kultivierten Virus in den lebendigen Körper der politischen Erfahrung eindringen zu lassen und die Fähigkeit dieses Virus, einen Kurzschluss mit Kulturen herzustellen, die nicht frei vom Keim der Gewalt sind. Der Rest ist selbstverständlich von geringem, wenn nicht gar von überhaupt keinem Interesse.“
Was ist von geringem Interesse ?
„Eine bestimmte Pathologie der Diskussion, die auf das Segio-Interview folgte, in der ich die üblichen Akteure sich hineindrängen sehe. Die üblichen instrumentalisierenden Versuche der Rechten, den Sinn und das Endergebnis einer Debatte zu verdrehen, die begonnen hat, sowie die ebenfalls üblichen und vorhersehbaren Stimmen einer bestimmten Reformlinken, die allein daran interessiert ist, den eigenen Unterschied zu einer radikalen Linken festzustellen, sowie die internen Streitereien innerhalb der Bewegung und zwischen ihren Führern. Ich wiederhole es: Das alles langweilt mich. Während ich den Kern der drei Begriffe der Diskussion (Terrorismus, Gewalt, Bewegung) äußerst interessant finde.“
Beginnen wir also beim ersten ! Gibt es in den neuen, aber alten Roten Brigaden (BR) die Spur eines Familienalbums ?
„Die lange Erfahrung in Turin hat mich gelehrt, dass der Terrorismus in einer von der Politik autonomen Sphäre entsteht. Es sind nicht die Gesellschaft und der Konflikt, die den bewaffneten Kampf erzeugen. Allenfalls und im Gegenteil existieren in der Gesellschaft die Bedingungen dafür, dass jener Virus eindringt. Dies vorausgeschickt, sehe ich in dem subversiven Versuch der Brigadisten ein tragisches, aber irrelevantes Anzeichen für eine politische Ohnmacht. Übrigens typisch für alle Terrorismen. In den wenigen Dokumenten neueren Datums der BR, die ich gelesen habe, habe ich ein bisschen Soziologie und den Mangel an Themen <die> mit einer gewissen Fundiertheit <behandelt wurden> erlebt. Und darüber hinaus: ein Anzeichen für existenzielle Verzweifelung.“
Und das Familienalbum ?
„Wenn wir mit Familienalbum das Thema der politischen Gewalt gerade der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Linken anschneiden und sagen wollen, dass das, was wir vor uns haben, ein Kind unserer Geschichte ist, dann werde ich Klartext reden. Alle politischen Kulturen, die aus der Erfahrung des 20.Jahrhunderts hervorgehen, haben ihr Familienalbum. Alle starken Gedanken (religiöse und politische) enthalten ein ungelöstes Gewaltproblem. Außer Kinder des Kruzifixes sind wir auch Kinder der Bibel. Und es ist die Bibel, in der wir die Idee der Vernichtung des Feindes finden. Die 3.Welt-Kulturen sind mit Gewalt getränkt. Dort wo sie dahinkommen, Theorien darüber aufzustellen, dass ‚die Identität des Kolonisierten über die Tötung des Kolonialisten führt’. In der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung ist die Zerstörung des Gegners präsent. Deshalb sind heute alle – und ich wiederhole: alle – aufgerufen, mit dem Gewaltbegriff abzurechnen. Mich hat das zum ersten Mal Pietro Ingrao gelehrt – vor 20 Jahren !“
Wie und wo ?
„Ingrao <PCI> war Präsident der Abgeordnetenkammer und kam nach Turin, zu FIAT. Nun, ich erinnere mich nicht mehr genau an die Umstände. Ob es nach der Entdeckung war, dass einer unserer Delegierten den Roten Brigaden angehörte oder nach dem x’ten blutigen Hinterhalt. Mir ist als sähe ich noch jenen Saal in einem unterbrochenen Schweigen versunken und Pietro verriet / enthüllte uns die einfachste und entscheidenste aller Wahrheiten. Er sagte: ‚Wir sind entstanden, um das Leben aufzuwerten. Die Kämpfe der Arbeiterklasse haben das Ziel, das Leben jedes einzelnen von uns zu verbessern und sei es auch nur um ein wenig. Meint Ihr, dass man – und sei es auch nur als Möglichkeit – das Projekt oder die Idee akzeptieren kann, dabei auch nur ein Leben auszulöschen ?’ Also Ingrao zerstörte bereits damals zwei Eckpfeiler einer bestimmten sozialistischen und kommunistischen Kultur des 20.Jahrhunderts. Erstens: dass der Wert des Lebens einer Person daran gemessen werden sollte, inwieweit sie ein Symbol der Macht ist, die sie repräsentiert. Zweitens: dass man beim Kampf gegen die Subversion in homogenen Verbänden – also aufgespalten – vorgehen kann. So stehen die Dinge nicht. Der Terrorismus ist der Feind Aller. Und man bekämpft ihn mit Allen zusammen.“
Und nach Ingraos „Lektion“, wie ist es da mit Ihnen weiter gegangen ?
„Ich antworte Ihnen mit einer Episode, die – glaube ich – nicht nur für meinen Weg, sondern für den meiner Partei und ihrer Entwicklung kennzeichnend ist. Kennen Sie ‚Die Schlacht um Algier’ von Pontecorvo ? Gut, ich habe den Film mindestens zehnmal gesehen. Ich kann die Sequenzen aus der Erinnerung rekapitulieren. Nun, ein Leben lang habe ich mich in der überaus schönen Algerierin wiedererkannt (besser gesagt mich in sie hineinversetzt), die sich in einer Bar voller Leben und voller Zivilisten im französischen Teil von Algier, während der Aufstandsoperation – nein, nennen wir die Dinge beim Namen – während der terroristischen Operation gegen die französischen Truppen, in die Luft sprengt. Instinktiv, politisch war ich auf ihrer Seite. Ich hätte sie sein wollen, wenn ich nur den Mut dazu gehabt hätte. Ich war – das sage ich ohne Furcht – politisch mitverantwortlich für jenes Massaker. Wenn ich heute über jene Sequenz und jene Komplizenschaft nachdenke, hat sie sich aufgelöst.“
Warum ?
„Weil der Brecht, der gesagt hat: ‚Wir wollen eine freundliche Welt, aber um die zu bekommen, können wir nicht freundlich sein !’ nicht mehr meiner Auffassung und auch nicht mehr der Geschichte der Linken und der Bewegung dieses Jahrhunderts entspricht. Weil die Entscheidung heute keine andere sein kann als jeden Gewaltakt abzulehnen. In einer Welt, in der sich die Gewalt in dem Binom präventiver Krieg – Terrorismus zusammenfassen lässt, kann keine politische Gewalt eine Existenzberechtigung <im Original: ein Staatsbürgerrecht> haben. Weil sie von diesem Binom unweigerlich verschlungen wurde.“
Sicher bereitet es in der Linken (innerhalb und außerhalb der Bewegung) Mühe sich dieser Debatte zu stellen und vor allem kommt sie sehr spät. Warum ?
„Ich sage das ohne einen Anflug von Polemik, aber ich glaube, dass wir heute für die Fehler derjenigen in der Linken bezahlen, die meinten, sie könnten mit dem Erbe des 20.Jahrhunderts einfach dadurch abschließen, dass sie sich den Anschein von Respektabilität geben. Sie erklären eine Seite der Geschichte für abgeschlossen, indem sie nicht mehr darüber reden. Das Problem ist das der Veränderung. Wenn man aufhört einen Teil der Gesellschaft – ich sage nicht: zu vertreten, aber – ihm einfach zuzuhören, weil man ihn für nicht vorzeigbar hält, wird jener Teil der Gesellschaft ein Gefangener seiner Einsamkeit und Verzweifelung bleiben. Und dann, in Ermangelung von Ansprechpartnern mit deren Worten man ein Projekt der Veränderung verbindet, wird jenes Gewässer in dem der Virus der Gewalt einen Ort findet, wo er Fuß fassen kann, schwer trocken zu legen sein.“
Und dieser Ort ist nicht die Bewegung ?
„Sie ist es nicht und kann es nicht sein. Aus einem sehr einfachen Grund: Diesen Jugendlichen (ragazzi) ist die Geschichte des 20.Jahrhunderts fremd. Sie stammen aus einer anderen Ära. Ihnen ist der Arbeiterbegriff der Macht als Terrain, das es zu erobern gilt bevor es zu Veränderungen kommen kann, fremd. Ihr Winterpalais ist nicht der Palazzo Chigi <d.h. der Sitz des italienischen Ministerpräsidenten>. Sie sind frei von der Idee der Avantgarde. Nein, die Bewegung ist Gegenmittel gegen jenen Virus. Man muss sie nur anhören und ihr helfen.“
Auch wenn sie mit Helmen und Knüppeln auf die Straße geht ?
„Ich denke, dass nur ein einziger Maßstab existiert, um in einer Demonstration den Unterschied zwischen einem Ausdruck unakzeptabler Gewalt und einem legitimen Schutz der eigenen Rechte (wenn auch durch Zwangsinstrumente) zu erkennen. Und dieser Beurteilungsmaßstab ist eine schwangere Frau. Wenn eine schwangere Frau gezwungen ist, fluchtartig die piazza zu verlassen, dann bedeutet das, dass die piazza <bzw. die dort stattfindende Demonstration> keine Legitimation hat. Das ist am 4.Oktober in Rom am Ende des Demozuges geschehen und ich habe das stigmatisiert. Ich werde es jedes Mal wieder tun, wenn es notwendig sein wird.“
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover