Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:

 

Gern wird Israel von seinen Anhängern als „die einzige Demokratie im Mittleren Osten“ gefeiert. Dass es damit – auch für eine bürgerliche Demokratie (und ihre natürlichen Grenzen, wenn es um die kapitalistischen Besitz- und Herrschaftsverhältnisse geht) – nicht ganz so weit her ist, zeigt einerseits die Behandlung der Palästinenser im israelischen Staat und in den besetzten Gebieten und andererseits der Umgang mit der radikalen antizionistischen jüdischen Linken. Was die Einschüchterung, Verleumdung und Verfolgung dieser Letzteren anbelangt, verfügt Ilan Pappe (Professor für Geschichte an der Universität Haifa und aktives Mitglied der israelischen KP – Maki) über reichlich Erfahrung. Die unabhängige linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ interviewte den renommierten Historiker für die Ausgabe vom 24.7.2005.

 

INTERVIEW:

 

Israels unvollkommene Demokratie

 

Es spricht der israelische Wissenschaftler Ilan Pappe, Autor der vor kurzem bei Einaudi erschienen „Storia della Palestina moderna“ (Geschichte des modernen Palästinas). „Für diejenigen, die die offizielle Linie in Sachen Zionismus nicht teilen, <gibt es> eine Verleumdungsstrategie.“

 

MICHELE GIORGIO

 

Ilan Pappe ist Dozent für Geschichte an der Universität Haifa und Autor zahlreicher Texte, u.a. der jüngst <auf italienisch> erschienenen „Geschichte des modernen Palästinas. Ein Land – zwei Völker“, das in Italien vom Einaudi-Verlag veröffentlicht wurde. Auch in unserem Land beginnt man so das Werk eines in Europa sehr geschätzten Akademikers kennen zu lernen, der in Israel, wo seine unbarmherzigen Kritiken des Zionismus und der offiziellen Geschichtsschreibung einen Skandal hervorrufen und starke Reaktionen zur Folge haben, keinen guten Ruf genießt. Pappe, ein Aktivist der Kommunistischen Partei flankiert die Erzählungen der (israelischen) Ausbeuter und der (palästinensischen) Ausgebeuteten durch seine rigorose Methode (die auf Originaldokumenten in hebräischer und arabischer Sprache basiert). Wobei er es nicht versäumt, zu unterstreichen, dass Unterdrückte und Unterdrücker niemals auf dieselbe Stufe gestellt werden dürfen.

 

Wir sprachen mit ihm über seine Arbeit, über die Schwierigkeiten, auf die er bei seiner akademischen Tätigkeit stößt, über die Meinungsfreiheit in Israel und natürlich auch über die Politik der Regierung Sharon wenige Tage vor Beginn der Räumung der jüdischen Siedlungen in Gaza. Wir interviewten ihn in seinem Büro in der Universität von Haifa.

 

Professor Pappe, Sie sind einer der im Ausland bekanntesten und geschätztesten israelischen Historiker und ihre Arbeiten wurden in viele Sprachen übersetzt. In ihrem Land werden Sie hingegen als Staatsfeind betrachtet, als ein Verbündeter der Palästinenser und der Araber, als ein Akademiker, zu dem man auf Distanz bleiben sollte. Aus welchem Grund ?

 

„Die Behandlung, die mir in Israel vorbehalten ist, ist die Konsequenz der Schlussfolgerungen, zu denen meine Forschungsarbeit gelangte und die sich tiefgreifend von denjenigen des größten Teils der Historiker dieses Landes unterscheiden. Es ist meine Kritik des Zionismus oder besser gesagt einiger seiner Aspekte, die diejenigen, die mich kritisieren, die Nerven verlieren lassen. Das ist – anders als Viele denken – keine Frage, die mit meiner Verurteilung der Politik der israelischen Regierungen in der Palästinenserfrage zusammenhängt. Viele meiner Kollegen denken, sagen und schreiben dieselben Dinge, aber sie stellen den Zionismus nicht infrage, so wie ich es tue. Das ist der Grund, warum mich viele Leute aufs Korn nehmen, sowohl an der Spitzen des politischen Establishments als auch an meiner Universität. Dasselbe passiert auch anderen Kollegen, die meine Positionen teilen, wie Tania Reinarth. Von ihnen spricht man sehr viel weniger und ich kann mich da paradoxerweise als ‚Glückspilz’ betrachten.“

 

In den letzten Jahren haben viele Israelis mit dem Finger auf den Zionismus gezeigt. Warum werden Sie aufs Korn genommen ?

 

„Wegen meiner Definition des Zionismus als Kolonialprojekt, das für die stattgefundene ethnische Säuberung (1948-49; Anm.d.Red.) zulasten der Palästinenser verantwortlich ist. In Israel gibt es keine vollständige Demokratie. Es gibt Themen, die ein Tabu bleiben, offizielle Wahrheiten, die niemand infrage stellen darf, sonst kommt es zu Bestrafungen und manchmal geht man bis zur Diffamierung. Zum Beispiel wurde mein Vorschlag internationaler Sanktionen gegen Israel solange dieses Land es den Palästinensern nicht erlaubt, frei und unabhängig zu leben, genauso wie man es im Fall des rassistischen Südafrikas gemacht hat, mit Abscheu aufgenommen. Ich wurde hart angegriffen und es hat auch nicht an Beleidigungen gemangelt. Gleichzeitig habe ich von vielen Israelis zustimmende Briefe bekommen – zur Bestätigung, dass dieses Land lebt und in der Lage ist, sich infrage zu stellen, auch wenn es zum Großteil ein Gefangener des Mythos, der Ideologie und des Nationalismus bleibt.“

 

Seit Jahren kämpfen die jüdischen Historiker (nicht nur in Israel) gegeneinander. Es ist eine Auseinandersetzung, die Angriffe, die manchmal sogar bis in die Gerichtssäle hineinreichten, nicht ausgeschlossen hat. Im Augenblick stehen Ihr Freund Norman Finkelstein und ein verbissener Verteidiger Israels und des Zionismus, wie Alan Dershowitz, im Ring. Wie beurteilen Sie diesen Krieg, der mittlerweile seit ungefähr 15 Jahren andauert, d.h. seit sich die sog. „Neuen“ israelischen „Historiker“ durchgesetzt haben ?

 

„Im Allgemeinen neigt man in diesen Fällen dazu, zu behaupten, dass die Auseinandersetzung von Ideen positiv ist und den in der akademischen Welt Israels existierenden Pluralismus beweist. Aber so stehen die Dinge nicht. Die Freiheit, auf die man sich beruft, existiert nur zum Teil. Jeden Tag stehen wir vor dem Versuch diejenigen zu delegitimieren und zu diffamieren, die die offizielle historische Wahrheit über die Genesis des jüdischen Staates in Zweifel ziehen, die – und das ist keine zweirangige Angelegenheit – vor allem im Ausland weiterhin akzeptiert werden soll, um die internationale Unterstützung für Israel aufrechtzuerhalten. Im Allgemeinen laufen die Dinge so: Wenn ein Dozent einer ausländischen Universität Israel zu sehr kritisiert, wird er des Antisemitismus beschuldigt. In Israel lautet – wie in meinem Fall – die Anklage auf Verrat. Man benutzt gegenüber israelischen Wissenschaftlern, die nicht auf Linie sind, dieselbe Diffamierungsstrategie wie sie gegenüber den Palästinensern in Israel angewandt wird, die es wagen, die Diskriminierungen, unter denen sie leiden, sowie die Politik der Regierung anzuklagen. Der Ideenpluralismus ist – auch wenn er offiziell garantiert wird – de facto Gegenstand bedeutender Beschränkungen, die meines Erachtens Zweifel am tatsächlich demokratischen Charakter Israels wecken.“

 

Im Frühjahr haben die britischen Akademiker einige Wochen lang einen Boykott Ihrer Universität und der von Bar Ilan (Tel Aviv) durchgeführt und damit eine Periode hitziger Polemiken zwischen Gegnern und Unterstützern dieses Beschlusses eingeleitet. Sie wurden beschuldigt, diesen Boykott als Antwort auf die wachsende Feindseligkeit der Dozenten der Universität Haifa Ihnen gegenüber, gefordert zu haben.

 

„Es handelt sich um eine völlig unzutreffende Behauptung. Der akademische Boykott von Haifa, Bar Ilan und anderen israelischen Hochschulen war in Großbritannien bereits seit 2002 in der Diskussion als die israelische Armee die Hälfte des Flüchtlingslagers von Jenin zerstörte. Die britischen Kollegen fragten mich vor drei Jahren, ob ich die Isolierung der israelischen Hochschulen für legitim halte. Ich habe darauf mit Ja geantwortet, weil ich – wie ich vorhin erklärt habe – den Boykott für ein Druckmittel gegenüber wichtigen Teilen der israelischen Gesellschaft halte, die sich weigern, die Verletzung der Rechte der Palästinenser zur Kenntnis zu nehmen. Im Fall Haifa haben die britischen Kollegen nicht nur meine Probleme bei der Ausübung meiner Arbeit in Rechnung gestellt, sondern auch die Diskriminierungen der arabischen Studenten. Im Fall von Bar Ilan dürfen wir nicht vergessen, dass diese Universität – in Verletzung internationaler Resolutionen – ein College in der jüdischen Kolonie Ariel (also in den Besetzten Gebieten) unterhält. In jedem Fall war die von der britischen akademischen Welt getroffene Entscheidung nicht von langer Dauer. Die Unterstützer Israels (nicht nur in Großbritannien) haben binnen weniger Wochen die Oberhand bekommen und die Isolierung der beiden Universitäten wurde wieder aufgehoben.“

 

Gegen den Boykott der Universitäten Haifa und Bar Ilan hatte sich auch Sari Nusseibeh, der Rektor der palästinensischen Universität von Al-Quds (Jerusalem) ausgesprochen.

 

„Nusseibeh steht es frei zu denken, was er will. Ich beschränke mich darauf zu sagen, dass er als Akademiker berücksichtigen sollte, dass die palästinensischen Universitäten seit Jahren de facto täglich einem israelischen Boykott ausgesetzt sind, der sich über die Straßensperren vollzieht, die Studenten und Dozenten häufig daran hindern, die Hochschulen zu erreichen sowie andere restriktive Maßnahmen. Leider sind Nusseibeh und ein Gutteil der Palästinenser in Bezug auf den Zionismus sehr naiv. Nach vielen Jahren haben sie die Ziele dieser Bewegung noch immer nicht begriffen.“

 

Kommen wir zum politischen Tagesgeschehen. Die jüdischen Siedler praktizieren einen Protest, der in der Geschichte Israels ohne Gleichen ist, um die Räumung der Siedlungsblöcke in Gaza und weiterer kleiner Zentren im Norden Cisjordaniens zu verhindern. Die Regierung Sharon erklärt sich ihrerseits bereit, den Rückzug Mitte August zu vollziehen. Was prognostizieren Sie ?

 

„Die Erwartungen sind gering. Sharon will in Wirklichkeit ein Trauma. Er wünscht sich, dass die Welt eine zweigeteilte israelische Gesellschaft sieht, sodass die internationale Gemeinschaft von Israel nicht verlangt, sich auch aus Cisjordanien zurückzuziehen. Nach dem Rückzug aus Gaza wird sich auf diesem Gebiet sehr wenig ändern, weil Sharon daran denkt ca. 50% oder 60% Cisjordaniens an Israel anzuschließen. Die Palästinenser können vorläufig nichts anderes tun als einen Plan zu schlucken, den sie nicht unterschrieben haben. Sie stehen dem, was geschieht, ohnmächtig gegenüber und außerdem glaube ich, machen sie sich Sharons Intentionen nicht in vollem Umfang klar. In einigen Monaten wird das alles klar sein und dann könnte die Situation erneut explodieren – mit für beide Völker gravierenden Konsequenzen. Bei all dem ist die zionistische Linke abwesend und ihre Führer tun nichts anderes als Sharon zu folgen, ohne Zweifel zu äußern und Alternativen vorzuschlagen. In diesem Klima kann man kein Optimist sein und hat man die Pflicht, weiterhin das zu denunzieren, was geschieht, um zu versuchen, endlich eine andere Zukunft zu schaffen.“

 

 

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:

Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover