Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Zur
Jugendrevolte in den französischen und vor allem in den Pariser Vorstädten Ende
Oktober / Anfang November 2005 brachte die linke italienische Tageszeitung „il
manifesto“ am 4.11.2005 das folgende
Interview mit Omeyya Seddik,
einem der Köpfe der dort aktiven Immigranten- und Stadtteilkomitees, die sich
unter dem Kürzel MIB zusammengeschlossen haben.
„Das ist die Schuld von zuviel
Polizei“
Es spricht Omeyya
Seddik, Führer der Immigrantenbewegung der Vorstädte.
CINZIA GUBBINI
Omeyya Seddik ist einer der
Repräsentanten der „Bewegung der Immigration und der Banlieues“
(MB), einer Föderation von 50 Komitees der Vorstadtquartiere von Paris. Er ist
tunesischer Herkunft und lebt in Seine-Saint-Denis, dem Zentrum der Gewaltausbrüche.
Kurz auf den Punkt
gebracht: Was ist dieser Protest? Eine Revolte gegen die Regierung, gegen die
Polizei oder was?
„Die Faktoren sind
unterschiedlich. Angefangen bei der Tatsache, dass die volkstümlichen
Stadtteile sehr viel ghettoisierter sind als noch vor
einigen Jahren. Verglichen mit Mitte der 80er Jahre hat sich die Präsenz der
sozialen Dienstleistungen fortwährend verringert und die Präsenz der Polizei
stattdessen zugenommen. Das ist keine Theorie: Die Leute erleben das am eigenen
Leib. Wer sich bewegt, wird ein-, zweimal am Tag kontrolliert. Vor allem wenn
er – wie man in der Banlieue sagt – de souche (der Herkunft entsprechend; Anm.d.Red.)
gekleidet, kurz, wenn er nicht französisch ist. Es handelt sich dabei um eine
erklärte Politik. Seit mittlerweile rund 20 Jahren ist eine der wichtigsten
Forderungen der Wählerschaft die Sicherheit. Und die Antwort darauf ist die
immer sichtbarere Präsenz der Polizei, die vor allem in den Peripherien im Robocop-Stile gekleidet ist.“
Auch die
Integrationspolitik hat dazu beigetragen, Ghettos zu schaffen…
„Das stimmt, in der Tat. Die
Mitte der 80er Jahre von der Sozialistischen Partei (PS) als Reaktion auf die
Bewegung der beurs (d.h. der maghrebinischen
Immigranten der zweiten Generation; Anm.d.Red.)
eingeleitete politique del la ville <Stadtpolitik> war ein Reinfall. Den Grund dafür zu analysieren,
würde sehr weit führen. Zusammenfassend kann ich sagen, dass viel Geld
ausgegeben wurde und ein Heer von Sozialarbeitern und Leuten aus Verbänden in
die Viertel gekommen ist. De facto haben die Verbände, die in den Stadtteilen
tätig waren, einerseits eine Kontrollfunktion gehabt und andererseits eine der
politischen Rekrutierung für die Linke. Das Ergebnis ist, dass die sozialen
Dienste jetzt als Söldner betrachtet werden, sodaß
sich der politische Diskurs ausschließlich auf die Sicherheit konzentrierte und
der politische Konsens in Bezug auf dieses Thema im Parlament total ist.“
Der überzeugendste
Interpret dieser Politik ist jedoch Sarkozy.
„Seine Rolle ist eine
erstrangige. Der Innenminister richtet seine Reden nicht erst seit heute gegen
die Jugendlichen der Banlieues. Vor einiger Zeit hat
er sie als ‚kleine Stadtteilterroristen’ bezeichnet und behauptet, es bedürfe
einer Anti-Terror-Strategie, um die Vorstädte zu verwalten. Als der Minister
die Jugendlichen racaille (Abschaum; Anm.d.Red.) <direkt ins Deutsche übersetzt: „Pack“, „Mob“,
„Gesindel“> genannt hat, hat sich
diese Nachricht schnell in den Häusern verbreitet. Das haben Alte und Junge
gehört. Und die Antwort, vor allem der Jugendlichen lautete: Er will Krieg? Den
kann er haben!“
Aber wer sind diese
Jugendlichen, die protestieren? Alle arm, alle marginalisiert?
„Sicher nicht. Wie in allen
volkstümlichen Stadtvierteln gibt es sehr unterschiedliche Leute. Aber da die Berichte
der Medien eine sehr starke Polarisierung zeigen (die Reichen sind weiß und
leben im Stadtzentrum, die Armen sind Araber und Moslems und leben in den Banlieues) scheinen sich alle als Maghrebiner,
Moslems und Arme zu fühlen.“
Und sind alle Moslems?
„Absolut nicht. Genau das
ist der Punkt. Die Frage des Islam wird in den öffentlichen Diskursen immer
wichtiger und mittlerweile ist es eine Angewohnheit, die Figur des Jugendlichen
der Banlieues systematisch mit dem Islamischen, aber
auch mit dem Terroristen gleichzusetzen. Und das was <daraufhin> passiert, ist sehr interessant: In den Stadtteilen
beziehen mittlerweile alle den Diskurs des Angriffs auf den Islam auf sich
selbst, auch die Jugendlichen, die keine Moslems sind, weil sie nicht gläubig
sind oder sogar aus christlichen Familien stammen. Das ist ein Diskurs, der
weit über die Religion hinausgeht. Der Islam ist zu einem Klassenelement
geworden. Die Integration hat in Frankreich umgekehrt stattgefunden.“
War das Tränengas in der
Moschee entscheidend?
„Der Protest ist wegen des
Todes der beiden Jugendlichen ausgebrochen. Auch wenn ich Episoden dieser Art
zu Hunderten erzählen könnte und die Proteste im Allgemeinen lokal begrenzt
bleiben. Dieses Mal wurde alles durch die mediale Rolle Sarkozys
und seiner Rede verbreitert. In diesem Kontext war das Tränengas in der Moschee
ein Sprengsatz. Leider sagen Viele: Wenn das in einer Synagoge oder in einer
Kirche passiert wäre, wären Tausende von Leuten auf die Straße gegangen – mit
Chirac an der Spitze.“
Gibt es irgendeine
Organisation, der es gelingt, Einfluss auf diese Bewegung zu nehmen?
„Fast keine. Die einzigen
Treffpunkte, die aufgesucht werden, sind die Moscheen, aber fast immer ohne
soziale Kontrolle oder wirkliche Organisation.“
Zum Abschluss: Welchen
Unterschied gibt es zwischen der Revolte der Banlieues
von heute und jener der 80er Jahre?
„Damals waren die Proteste
mit Forderungen verbunden. Sie waren an die Macht gerichtet und forderten
etwas. Heute haben die Jugendlichen keine wirklichen Forderungen. Was sie
machen, ist reiner Protest. Sie haben keine Illusionen mehr. Auf der anderen
Seite gibt es nur den Feind.“
Und wie wird das enden?
„Das weiß ich nicht. Ich
glaube, dass sich dieses Phänomen ausbreiten wird. Vielleicht werden in einiger
Zeit organisiertere Ausdrucksformen auftreten.“
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover