Antifa-AG der Uni
Hannover:
Die
breite Anteilnahme in der italienischen Bevölkerung an der Entführung der
beiden freiwilligen Irak-Helferinnen Simona Torretta und Simona Pari Anfang
September 2004 in Bagdad (die Ende September unversehrt freigelassen wurden)
haben die Führer aller etablierten italienischen Parteien, von Alleanza
Nazionale, Lega Nord und Forza Italia über das mitte-linke Olivenbaum-Bündnis
bis hin zu Rifondazione Comunista (PRC), zum Anlass genommen, an dieser Frage
die „Nationale Einheit“ zu zelebrieren und eine faktische (ganz) Große
Koalition zu bilden. Wobei die Frage des Rückzuges der italienischen
Besatzungstruppen aus dem Irak nicht zufällig in den Hintergrund gedrängt
wurde. Für die Spitze von Rifondazione unter ihrem Sekretär Fausto Bertinotti
bedeutet dies einen noch weiteren Schritt nach rechts und die Nachahmung der
schlimmsten PCI-Politik der 70er Jahre. Gegen diesen allgemeinen „Schulterschluss“
und die nicht geringe Verwirrung innerhalb der Linken (auch in Italien hört man
nun des öfteren Begriffe wie „Nazi-Islamisten“) gab es scharfe Proteste der
unterschiedlichen linken und halb-linken (die „ERRE“-Gruppe = italienische
Sektion der IV. Internationale) Strömungen innerhalb des PRC, aber auch der
außerparlamentarischen Linken, wie der Confederazione Cobas (Piero Bernocchi)
und der beiden führenden Disobbedienti Luca Casarini und Francesco Caruso.
Casarini plädierte gar für den vollständigen Bruch mit Rifondazione.
Bisher
gibt es nur wenige schriftliche Stellungnahmen aus diesem Spektrum. Die
ausführlichste und unseres Erachtens bisher beste stammt von der Gruppe um die
Zeitung „Falce Martello“ (Hammer & Sichel), die von einem Teil des
linken Flügels von Rifondazione herausgegeben wird und international der von
Ted Grant und Alan Woods geführten trotzkistischen Strömung (ex Militant
Tendancy der Labour Party) angehört. (Im Internet unter: www.marxismo.net) Ihr Flugblatt zu diesem
Thema stammt vom 10.9.2004 und dürfte weit über die inneritalienische
Auseinandersetzung von Interesse sein.
Keine Einheit mit der
Kriegsregierung!
Rückzug der Truppen, Freiheit für
alle Geiseln und für das irakische Volk!
Die Entführung der beiden
freiwilligen italienischen Helferinnen in Bagdad, Simona Torretta und Simona
Pari, hat in ganz Italien eine Welle der Bestürzung und Entrüstung ausgelöst. Sie
konzentriert die Aufmerksamkeit Aller auf das, was im Irak geschieht. Vor der
von den Vereinigten Staaten von Amerika geführten Invasion und Besetzung des
Landes im Mittleren Osten existierte der Terrorismus praktisch nicht und die
Kräfte des islamischen Fundamentalismus waren unbedeutend. Heute erscheinen
Bagdad und Umgebung oberflächlichen Betrachtern als Orte, wo es weder Gesetz
noch Ordnung gibt, und die Entwicklungen der letzten Wochen mit der Tötung von
Enzo Baldoni und zahlreichen anderen Geiseln als einfach unbegreiflich.
Wenn man all dem
gegenübersteht, was man nicht begreift, scheint die Lösung für das irakische
„Chaos“ die einfachste zu sein, d.h. diejenige, dass wir Italiener uns alle
gegen den Terrorismus vereinen. Regierung und Opposition, Unternehmer (padroni)
und Arbeiter, die Besatzungsarmee und diejenigen, die gegen den Krieg gekämpft
haben.
Eine Besatzungsarmee
Zerteilt man aber die
dicken, von den Zeitungen und den Fernsehsendern produzierten Nebelschwaden,
dann beginnt die wirkliche Situation ans Licht zu kommen. Die italienische
Armee trägt zu einer der grausamsten militärischen Besatzungen der letzten
Jahre bei. Wir werden schwerlich jemals die Gesamtzahl der irakischen Opfer
erfahren (allein in Bagdad über 10.000). Wir wissen allerdings, dass mehr als
90% der Bevölkerung fordert, dass die Amerikaner den Irak verlassen.
Der Präsident der
Vereinigten Staaten von Amerika, George Bush, hatte den Krieg am 1.Mai
vergangenen Jahres für beendet erklärt. Heute kontrolliert seine Armee einen
Großteil des Irak nicht mehr, wie der Verteidigungsminister Rumsfeld eingeräumt
hat, während die Zahl der getöteten Soldaten auf über 1.000 und die Zahl der
Verwundeten auf 7.000 angewachsen ist. Die mächtigste Armee der Welt ist
gegenüber dem Massenwiderstand eines ganzen Volkes wirkungslos.
Die von den USA versprochene
Demokratie und Selbstregierung haben das Aussehen von Iyad Allawi (zu den
Zeiten von Saddam ein Terroristen im Sold der CIA), der von der
Bush-Administration eingesetzt wurde.
Die Freiheit hat das
Aussehen der Gefängnisse von Abu Ghraib, wo Tausende irakischer Gefangener
grausam gefoltert werden. „Unsere Jungs“, Mitglieder von Spezialeinheiten und
Carabinieri, folgen dem amerikanischen Beispiel. Jüngste, der Tageszeitung „il
Manifesto“ gegenüber abgelegte Geständnisse offenbaren, dass die tägliche
Routine in Nassiriya im Niederbrennen der Häuser der Ortsansässigen besteht,
nachdem man drinnen alles geraubt hat, was nicht niet- und nagelfest ist.
Die Regierung Berlusconi ist
in diesem Krieg, gleich nach dem englischen, Bushs treuester Verbündeter und
die italienische Armee ist zahlenmäßig die drittstärkste Besatzungsarmee.
Nationale Einheit, um was zu tun ?
Seit dem Beginn der italienischen
Mission hat die Mitte-Rechts-Regierung Aufrufe zur nationalen Einheit gegen den
Terrorismus lanciert. Bereits in der Vergangenheit hatten die gemäßigten Teile
des <mitte-linken> Olivenbau-Bündnisses auf diesen Appell reagiert.
Dieses Mal scheint die Zustimmung allerdings einhellig oder zumindest fast.
Luciano Violante von den <aus
dem rechten Mehrheitsflügel des 1990 aufgelösten PCI hervorgegangenen> Linksdemokraten (DS) erklärt im „Corriere della
Sera“, dass die Forderung nach dem Rückzug der Truppen der „Flankierung der
Terroristen“ gleichkäme. Und er fügt hinzu: „Wir haben niemals den Rückzug der
Truppen gefordert.“ Und doch schien uns dies, wenn auch mit vielen
Zweideutigkeiten, der Inhalt des von der Opposition vor einigen Monaten im Parlament
eingebrachten Antrages gewesen zu sein. Ist dieser plötzliche Gedächtnisverlust
der Preis, den das Führungsmitglied der DS bezahlen zu müssen meint, um sich
mit der Regierung an einen Tisch zu setzen ?
Noch unbegreiflicher ist das
Interview des Genossen Bertinotti für „la Repubblica“ <vom 9.9.2004>, das in zahllosen Fernsehinterviews bekräftigt
wurde. Für den Sekretär des Partito della Rifondazione Comunista (PRC)… „retten
wir jetzt die beiden Mädchen. Über den Rückzug reden wir hinterher.“ „Jetzt reden
wir darüber, wie Menschenleben gerettet werden können. In diesen Fällen gibt es
einen Zeitdruck und eine Wertigkeit, die zu einer Hierarchie, zu einer
Entscheidung zwingt. (…) Es gibt die andere Dimension (die strategische),
bezüglich derer ein tiefgreifender Dissens mit der Regierung bleibt. Das ist
allerdings eine Frage, die davon getrennt werden muss.“
Bertinotti spricht davon,
„Menschenleben zu retten“. Und doch haben die USA vor zwei Tagen in Sadr City
40 Menschen an einem einzigen Tag umgebracht. Gestern wurden bei
Bombardierungen in Falludscha 70 Menschen getötet. Sind das keine Menschenleben
? Oder sind sie weniger wert, weil – wie
Bertinotti informiert – der irakische zu „den Widerständen mit kleinem ‚w’“ <bzw. ’r’ für „resistenze“> gehört, also mehr oder weniger zu den Bewegungen aus
der 2. Liga ?
Deshalb fragen wir uns:
Zusammenarbeit mit der Regierung, um was zu tun ? Um Frattini in den Irak zu schicken ? Zu den Gesprächspartnern unseres
Außenministers gehört der Ministerpräsident Allawi, der in diesen Tagen in
Italien weilt und vor wenigen Tagen erklärt hat: „Die, die nicht mit uns
kämpfen, werden sich bei den Terroristen wieder finden.“
Der Kampf um die Befreiung
der Geiseln ist nicht getrennt <zu behandeln>. Er führt
über den Rückzug aller Truppen aus dem Irak. Beispielhaft dafür ist der Fall
der beiden französischen Geiseln, die kurz vor der Freilassung zu stehen
schienen als die amerikanische Armee eine Offensive großen Stils gegen
Falludscha startete, d.h. die Zone, in der die beiden Journalisten gefangen
gehalten werden. Und dann fragen wir uns: Welche Bewegung, die die Truppen aus
dem Irak verjagen will, entführt Pazifisten ?
Wenn es zu den Zielen dieser bewaffneten Gruppen gehören würde, die
Anti-Kriegs-Bewegung zu spalten, wären sie dabei gewisse Resultate zu erzielen.
Es würde uns nicht überraschen, wenn in einiger Zeit aufgedeckt würde, dass
einige dieser terroristischen Gruppen über Beziehungen zu Geheimdiensten von
Ländern verfügten, die „Freunde der Demokratie“ sind. Es wäre nicht das erste
Mal. Viele fundamentalistische Gruppen, wie Al Qaeda, wurden jahrelang von den
Vereinigten Staaten oder von Israel unterstützt und finanziert.
Was ist jedoch das konkrete
Ergebnis des Dialoges mit Berlusconi ?
Die Opposition gibt in Sachen Truppenrückzug nach und die Regierung
besteht darauf, die Mission fortzusetzen !
Alles Terroristen ?
Eine neue und gefährliche
Version der Politik der zwei Geschwindigkeiten macht sich in vielen Bereichen
der Linken breit. Es sind nicht Wenige, die wie <der ehemalige Chefredakteur> Barenghi von „il Manifesto“, versichern,
„gegenüber einer Regierung von Kopfabschneidern die amerikanische Besatzung zu
bevorzugen“ – gegenüber dem Chaos die imperialistische Ordnung ! Wir hingegen denken, dass die Niederlage der
amerikanischen Armee im Irak einer Welle revolutionärer Mobilisierungen im
gesamten Mittleren Osten und nicht nur dort den Weg ebnen würde. Die Niederlage
der USA in Vietnam oder diejenige Frankreichs in Algerien lehren das. Oder ist es
vielleicht nicht die Aura der Unbesiegbarkeit, mit der sich der amerikanische
Imperialismus umgibt, die eine mächtige Bremse für die Mobilisierungen der
unterdrückten Massen darstellt ?
Man will den Eindruck
vermitteln, dass alle bewaffneten Gruppen im Irak erbarmungslose Mörder und
Entführer von Unschuldigen sind. Nichts ist von der Wahrheit weiter entfernt.
Allein im Monat August berichtete der „Corriere della Sera“ von mehr als
2.500 Angriffen auf die Besatzungstruppen im ganzen Land. Das ist die grundlegende
Aktivität des irakischen Widerstandes, eines Massenwiderstandes, den ohne
Vorbehalte zu unterstützen, Pflicht ist. Die Gruppen, die Terror unter der
Bevölkerung säen und westliche Bürger entführen, sind ein minimaler Teil.
Wenn heute reaktionäre Gruppen,
wie Al Qaeda, behaupten können, die unbeugsamsten Gegner des Imperialismus zu
sein, geschieht das auch aufgrund der kompromisslerischen Positionen, wie denen
der Irakischen Kommunistischen Partei, die noch immer Teil der Regierung ist,
oder vieler führender Vertreter der Linken in Europa. Kapitulationen, wie
diejenige Bertinottis vor der Regierung <Berlusconi>
weiten diesen Spielraum nur noch aus.
Die übergroße Mehrheit des
irakischen Volkes träumt durchaus nicht von abgehackten Köpfen oder Händen,
sondern von der Freiheit ihres Landes. Das sind die Forderungen, deretwegen Al
Sadr so populär ist. Er ruft nicht zum religiösen Hass, sondern zur Einheit der
Nation auf. Dieses Streben nach Unabhängigkeit macht den Widerstand unbesiegbar
und ist ein Grundrecht, dem die Solidarität der italienischen Arbeiterbewegung
gelten muss. Die beste Art „Menschenleben zu retten“ ist gerade die Befreiung
aller Unterdrückten von der Ausbeutung durch den Imperialismus, der aushungert,
foltert und mordet.
Es ist kein Zufall, dass die
Anti-Kriegs-Bewegung so viel Konfusion zeigt. Der Mangel an nüchternem Denken
ist gerade unter ihren führenden Köpfen zu beobachten. Wenn sie alle Arten von
Gewalt auf dieselbe Ebene stellen (die Repression der Unterdrücker und die
Selbstverteidigung der Unterdrückten) und die abstrakten Theorien der
Gewaltfreiheit übernehmen – wie es die Führung des PRC in der letzten Zeit
getan hat – besteht der nächste Schritt darin, Widerstand und Terrorismus,
Bombardements und Verteidigung der eigenen Häuser auf dieselbe Ebene zu
stellen. Das, was notwendig ist, ist nicht, die unterschiedlichen Positionen in
einer allgemeinen „Verteidigung der Menschheit“ miteinander zu vermengen. Es
ist vielmehr notwendig, die Unterschiede / Differenzen zu vertiefen und es sind
tiefgreifende Klassenunterschiede. Es gibt Unterdrücker und Unterdrückte. Es
gibt diejenigen, die den Krieg herbeigeführt haben und daran verdienen und
diejenigen, die sich dem Konflikt widersetzt und alles zu verlieren haben. Die
italienische Regierung lässt uns die Irak-Mission mit einem Blut- &
Tränen-Haushalt von 24 Milliarden Euro bezahlen und fordert uns dann auf, uns
um die Trikolore zu scharen. Diese Einbahnstraßen-Einheit interessiert uns
nicht.
In Spanien haben sie den Rückzug
ihrer Truppen durch die Massenmobilisierung erreicht und die rechte Regierung
fortgejagt. Das ist der Weg, den man auch in Italien verfolgen muss. Die
Mobilisierung der Arbeiterbewegung ist entscheidend, um Berlusconi zu stürzen.
Wir sind allerdings nicht daran interessiert, die Regierung der Rechten durch
eine Mitte-Links-Koalition zu ersetzen, die mit der Intervention im Kosovo die
„humanitären Kriege“ eingeweiht hat. Es bedarf eines Programms, dass zu jeder
Klassenkollaboration mit den padroni und ihren Parteien in Italien und
mit dem Imperialismus auf internationaler Ebene Nein sagt. Ein solcher Kampf
gegen den Imperialismus im Mittleren Osten und die Unternehmerschaft in Italien
ist verbunden mit dem Kampf für die sozialistische Transformation der
Gesellschaft. Für diese Ziele rufen wir Dich auf, mit uns zusammen dort, wo Du
arbeitest oder lernst / studierst, in den Stadtteilen und den
Massenorganisationen zu kämpfen.
10.September 2004
Herausgegeben von der Falce Martello-Redaktion
nationale Redaktion: Tel.
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Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover