Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Die Nachbereitung der Vorwahlen der italienischen Mitte-Links-Union vom 16.Oktober 2005, bei denen der christdemokratische Professor, Ex-Konzernchef (IRI), Ex-Ministerpräsident und Ex-EU-Kommissionspräsident Romano Prodi erwartungsgemäß mit großem Vorsprung zum Spitzenkandidaten gekürt und ihm die gewünschte inhaltliche Blankovollmacht erteilt wurde, ist zugleich die Vorbereitung auf die kommende politische Phase und die Bedingungen radikal linker Politik. Deshalb im Folgenden die Überlegungen, die Claudio Grassi nach dem besagten Tag dazu anstellte. Grassi (49) ist der Koordinator der größten der vier linken Oppositionsströmungen innerhalb von Rifondazione Comunista (PRC). Diese eher traditionalistische Strömung „Essere Comunisti (Kommunisten sein) um die Zeitschrift „l’Ernesto (www.lernesto.it) erhielt auf den Basisversammlungen im Vorfeld des 6.PRC-Parteitages Anfang März 2005 für ihren Leitantrag (mozione 2) 13.409 Stimmen. Das waren 26,4% der 50.860 Mitglieder von Rifondazione, die ihre Stimme abgaben. (Die Beteiligung betrug 52,4%.)

Sein Diskussionsbeitrag erschien in der vom PRC herausgegebenen Tageszeitung Liberazione vom 20.10.2005.

 

Der 16.Oktober: Ein Szenario schlimmer als zuvor

 

Claudio Grassi

 

Der gestern in Liberazione erschienene Artikel von Franco Giordano enthält Behauptungen, auf die eine Antwort notwendig ist.

 

In seiner Abhandlung über die Vorwahlen schreibt er, dass die große, am 16.Oktober verzeichnete Beteiligung ein Zeichen für die „soziale und demokratische Gereiztheit der Anhängerschaft der Oppositionen“ sei und es sich somit um „ein Votum gegen die Regierung Berlusconi und ihre Politik“ handelt. Das scheinen uns Feststellungen zu sein, denen wir voll und ganz zustimmen. Er fügt hinzu, dass es sich „auch“ um „ein Votum“ handelte, „dass erhört, interpretiert und auf dem Gebiet der politischen Entscheidungen umgesetzt werden will“. Auch diese Überlegung teilen wir. (Auf das Problem der „Umsetzung“ des Votums „auf dem Gebiet der politischen Entscheidungen“ werden wir weiter unten zurückkommen.) Giordano beendet diesen Teil des Artikels, indem er aus dem Erfolg der Vorwahlen „die explizite Forderung nach einem Bruch mit jeder Form von Absonderung und Selbstbezogenheit der Politik“ herausliest. Auch dem können wir, wie es scheint, zustimmen.

 

Und was sagt uns das bis hierher? Etwas, dessen wir uns seit jeher sicher sind und auf dem wir insistieren: Es gibt in diesem Land eine starke Forderung nach Beteiligung. Hat irgendjemand in der Partei jemals etwas anderes gesagt? Wenn wir nicht von dieser Voraussetzung ausgingen, was hätten wir dann in einer kommunistischen Partei zu suchen und warum würden wir sonst – entgegen dem Strom der herrschenden Kultur, die das Ende der Parteien und der organisierten politischen Formen predigt – jede Anstrengung für den Aufbau einer Massenpartei unternehmen?

 

Giordano attackiert allerdings mit gesenkten Hörnern die internen <linken> Minderheiten der Partei und fordert Selbstkritik. (Ein selbstverständlich tödlicher Fehler.) Er beschuldigt uns, nichts von dem begriffen zu haben, was sich in der Gesellschaft bewegt und ist der Meinung, diesen Vorwurf aus unserer Kritik an den Vorwahlen ableiten zu können. Das scheint uns keine sehr solide Argumentation zu sein.

 

Die Tatsache, dass es eine große Beteiligung an den Vorwahlen gab, die alle Voraussagen übertraf (auch die derjenigen, die sie wollten), zeigt das Verlangen nach Beteiligung, das – wie wir bereits sagten – niemand jemals angezweifelt hat. Das sagt allerdings nichts über die Qualität dieses Instruments aus, auf das sich alle unsere Kritiken bezogen (und beziehen). Im Gegenteil. Die Ergebnisse der Vorwahlen bestätigen die Fundiertheit unserer Vorbehalte und unserer Befürchtungen.

 

Alle (aber wirklich alle) Beobachter interpretieren die Ergebnisse, indem sie zwei faktische Tatsachen hervorheben: 1.) hat Prodi eine plebiszitäre Legitimation erhalten; 2.) indem er ein etwas höheres prozentuales Ergebnis erreichte als der PRC bei Wahlen, hat Bertinotti ein bedeutendes Resultat erzielt, das allerdings unter den Erwartungen lag. Kann man dieser Interpretation zustimmen? Bevor er sich darauf stürzt, von uns eine „Selbstkritik bezüglich des Scheiterns der Vorhersagen“ zu fordern, sollte Giordano auf diese Frage eine Antwort geben. Unserer Ansicht nach ist dieser Interpretation zuzustimmen. Einer Interpretation, die unsere Verblüffung über die <von der PRC-Führung behauptete> Güteklasse des Instruments Vorwahlen noch verstärkt. Wir werden sehr schnell sehen, warum.

 

1.)   Das Plebiszit für Prodi verstärkt das Abdriften in der Leaderismus <d.h. die Fixierung auf die Führungspersönlichkeit>. Ist es so schwer vorherzusehen, dass Prodi versuchen wird, die Rolle als Dominus der Koalition, als ihr autokratischer Chef zu spielen? Wir betonen, dass diese Prognose nicht unsere ist und nicht von einer vorgefassten und hartnäckigen Feindseligkeit gegenüber den Vorwahlen herrührt. Wir lesen sie zwischen den Zeilen in dem (ebenfalls gestern in Liberazione erschienenen) Beitrag des Genossen Folena <der vor kurzem aus den Linksdemokraten (DS) ausgetreten ist, nun als parteiloser Linkssozialdemokrat der Parlamentsfraktion von Rifondazione angehört und ansonsten den losen Zusammenschluss Uniti per la sinistra ins Leben gerufen hat>. Vor allem aber ist sie implizit in den Erklärungen enthalten, die von Bertinotti am Tag nach den Vorwahlen abgegeben wurden. „Wenn Einer sagt, ‚ich mache das Programm allein’, kann der Andere“ – so die Behauptung des Sekretärs – „auch antworten: ‚Mach es und sieh zu, wie weit Du damit kommst.’ Das Programm ist keine autokratische Sache.“ („Corriere della Sera“ 18.10.2005)  Bezog sich Bertinotti auf eine konkrete Möglichkeit oder hat er Szenarien einer Politsatire heraufbeschworen?

2.)   Giordano scheint nur die absolute Zahl zu sehen (die 631.000 Stimmen, die der Sekretär holte), die aus dem Gesamtzusammenhang (den mehr als 4,3 Millionen Stimmen) herausgelöst wird. Wir verstehen die Logik seiner Argumentation, aber man kann nicht über die Tatsache hinweggehen, dass gerade die, zu Recht hervorgehobene und gewürdigte, starke Wahlbeteiligung unser durchaus bedeutendes Resultat objektiv redimensioniert. Es ist nun einmal so, dass kein Wahlergebnis begriffen werden kann, wenn man die absolute Zahl von der Prozentzahl trennt und die Vorwahlen bilden da (bedauerlicherweise für den Genossen Giordano!) keine Ausnahme. Die 14,7% der Stimmen sind nur wenig mehr als das vom PRC bei den Wahlen erreichte prozentuale Ergebnis und gerade Bertinotti hat dies implizit anerkannt als er erklärte, dass der Ausgang der Vorwahlen „die Zustimmung zu den politischen Kräften fotografiert“. Wir fragen uns: War das der Zweck, den man verfolgt hat? Wurde eine Medienkampagne von ungewöhnlicher Intensität und eine massive (und belastende) Mobilisierung der Partei beschlossen, um diese „Fotografie“ zu bekommen? Oder hegte man nicht die Hoffnung auf einen starken Zugewinn an Stimmen, auf eine bedeutende Stimmenverschiebung zugunsten des Kandidaten unserer Partei?

 

Im Lichte dieser faktischen Tatsache kann man sehen, wie sich Recht und Unrecht bezüglich der Substanz des Problems verteilen: Es geht darum, die realen Zahlen zur Kenntnis zu nehmen und dabei gibt es keine „ideologische“ Verzerrung. Die Polemiken beiseite gelassen, ist der Punkt <auf den es ankommt> jetzt ein anderer. Die wirkliche Frage lautet, welche Konsequenzen diese Ergebnisse der Vorwahlen haben. Weit davon entfernt, sich zu verringern, nehmen unsere Befürchtungen diesbezüglich noch zu.

 

Genau betrachtet zeigt uns die am 16.Oktober angefertigte „Fotografie“ ein Szenario, das schlimmer ist als zuvor. Was bleibt abgesehen von den 14,7% für uns und den von <Grünen-Kandidat> Pecoraro Scanio und der <ehemaligen Disobbediente / Ungehorsamen> Panzino errungenen Krümel? Es bleibt die massive Stärke der Mitte und der gemäßigten Linken, die insgesamt auf ca. 82% der Stimmen kommen. Und es bleibt eine noch nicht da gewesene Zersplitterung der alternativen Linken. Den Plänen derjenigen zufolge, die sie verteidigten, hätten die Vorwahlen die Achse der <Mitte-Links> Union nach links verschieben sollen. Stattdessen wurde diese Achse in Richtung der gemäßigten Mitte verschoben.

 

Dies ist das wirkliche politische Ergebnis der Vorwahlen, das sich auf den bevorstehenden Kampf um das Programm auswirken wird und sich bereits auswirkt, wie die ganz ausdrücklichen Pro-Bolkestein-Erklärungen, die Prodi einen Tag nach dem 16.Oktober abgegeben hat, zeigt. Giordano behauptet zu Recht, das jetzt das Problem besteht, „das Votum auf dem Gebiet der politischen Entscheidungen umzusetzen“. Eben, was wird das vor dem Hintergrund dieser Kräfteverhältnisse für eine „Umsetzung“ sein? Oder genügt es von Politikastertum zu reden, damit die Kräfteverhältnisse aufhören, den politischen Konflikt zu beeinflussen?

 

Wie die Genossinnen und Genossen sehr genau wissen, haben wir seit langem einen politischen Vorschlag gemacht. Man kann ihn auch ablehnen, aber wir glauben, dass er seinen Stellenwert besitzt. Seit Herbst 2003 (d.h. seit dem Moment der Wende, mit der der Dialog mit der Mitte-Linken neu begonnen hat) haben wir vorgeschlagen, unsere Initiative in drei Richtungen zu entwickeln: 1.) die programmatischen Inhalte ins Zentrum des Dialogs mit der Mitte-Linken zu stellen;2.) den sozialen Konflikt und die Bewegungen in Bezug auf die Inhalte der Alternative wiederzubeleben; 3.) ein gemeinsames Programm mit den anderen politischen und sozialen Kräften der alternativen Linken zu entwickeln.

 

Heute stellen wir die Frage: Hätten wir vielleicht keine besseren Bedingungen, wenn diese Linie praktiziert worden wäre? Oder hält man es für vorteilhaft, mit einer versprengten alternativen Linken und mit einer Auseinandersetzung um das Programm, die erst noch beginnen muss und die unvermeidlich durch die von den Vorwahlen „fotografierte“ politische Situation beeinflusst wird, dazustehen?

 

Wir hören hier auf. Wir haben uns auf die Diskussion über die Vorwahlen und auf das politische Problem beschränkt, das auf der Grundlage ihres Ausgangs entsteht. Wir könnten Punkt für Punkt auf weitere gegen uns erhobene (wirklich wenig sachbezogene) Anschuldigungen antworten, um die vorzubringen Giordano unsere Positionen wahrlich deformiert (auch das ist eine tödliche Praxis…). Niemand hat je im Traum daran gedacht, dass „wir im Juli 2001 nicht hätten nach Genua fahren sollen“ oder dass „wir das <gescheiterte> Referendum für den <von Berlusconi aufgeweichten Kündigungsschutz-> Artikel 18 nicht hätten organisieren sollen“. Niemand hat jemals gesagt, dass man „mit den Rechten über das Wahlgesetz hätte reden sollen“. (Gerade gestern ist in „il manifesto ein Artikel erschienen, der unsere Position dazu erläutert.) Aber das ist nicht der Punkt. Es geht vielmehr darum, was in dieser unserer Partei geschieht, wenn die Formulierung einer politischen Kritik (die im Übrigen seit langem argumentativ ausgeführt wurde) einen angesehenen Vertreter des Vorstands dazu bringt, sich im Ton zu vergreifen. Uns kommen Zweifel, ob die Lautstärke nicht gerade dann erhöht wird, wenn die Argumente ins Schwanken geraten. Was soll man sonst von den giftigen Unterstellungen bezüglich der angeblich fehlenden Mitwirkung der <linken> Minderheiten am Vorwahlkampf halten, wenn Giordano sehr genau weiß (oder wissen sollte), dass die Genossinnen und Genossen, die sich im Leitantrag Essere Comunisti (Kommunisten sein) wiedererkennen, auch in diesem Fall das Parteiinteresse an die erste Stelle gestellt und sich loyal dafür eingesetzt haben, das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Was das anbelangt, genügt es, sich die Zahlen Föderation für Föderation <also Kreisverband für Kreisverband> anzuschauen.

 

Wir gehen darüber hinweg, rufen aber dazu auf, eine Denkpause einzulegen. Noch haben wir die Zeit, zum Klima des gegenseitigen Zuhörens und Respekts zurückzukehren, das die Partei, angesichts der wegweisenden Entscheidungen, die vor ihr liegen, mehr denn je braucht.

 

 

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
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