Antifa-AG der Uni
Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Wie in
der langen Vorbemerkung zu dem nebenstehenden Interview mit Bruno Salustri
(ORSA) bereits ausführlich geschildert, wurden bei einem Zugunglück auf einer
eingleisigen Strecke nahe der Ortschaft Bolognina di Crevalcore (25 km von
Bologna entfernt) am 7.Januar 2005 insgesamt 17 Menschen getötet. Bei dem
Frontalzusammenstoß eines Personenzuges mit einem Güterzug bei dichtem Nebel
wurden nach Behördenangaben auch rund 80 Fahrgäste verletzt. In ersten
Reaktionen war von einer "angekündigten Katastrophe" die Rede, da ein
geplanter Ausbau der eingleisigen Strecke Bologna-Verona seit Jahrzehnten
verschleppt wurde. Als Reaktion auf diese „angekündigte Katastrophe“ und die
zahnlose Reaktion aller großen Branchengewerkschaften (inklusive der z.T. aus
der Basisgewerkschaftsbewegung hervorgegangenen ORSA) entwickelte sich eine
völlig neuartige breite Basisbewegung. Erstmals in der Geschichte der
italienischen Arbeiterbewegung übernahmen in ihr die gewählten
Arbeitssicherheitsvertreter (RLS) der Eisenbahner der unterschiedlichsten
Gewerkschaften (vor allem aber die aus der FILT-CGIL und aus der ORSA) die
Führung und setzten sich gegen den Widerstand ihrer Vorstände durch. Eine
Reaktion, die einerseits die reduzierte Organisationsbindung /
Gefolgschaftstreue zeigt, andererseits aber (zunächst) auch auf ein punktuelles
und pragmatisches Vorgehen beschränkt bleibt. In jedem Fall eine äußerst
spannende Entwicklung, die Francesco Piccioni, der seit Jahren über die Kämpfe
der italienischen Eisenbahner berichtet, für die unabhängige linke Tageszeitung
„il manifesto“ in zwei Artikeln zusammenfasste. Der erste erschien am 14.1.2005.
Eisenbahnerstreik: Wachsende
Beteiligung
Das Nein der großen
Gewerkschaftsbünde CGIL, CISL und UIL hat keinen Einfluss auf die Beschlüsse
Dutzender RSU’en. Stopp der Züge ab Sonntag <den 16.1.2005> 21 Uhr. Die Drohung mit einer „Reform“ des Gesetzes über die
Arbeitssicherheit. Sie reduziert die Verantwortung der Unternehmen und
beseitigt die Rolle, die die gewählten Vertreter spielen.
FRANCESCO PICCIONI
Der Sonntagabend um 21 Uhr
und bis Montag um dieselbe Zeit dauernde ist sicherlich ein anormaler Streik.
Und mit derselben Sicherheit auch ein gefühlter Streik. „Auch die Benutzer
erwarten das“, sagen die Eisenbahner. Die 17 Toten von Crevalcore haben eine
Dynamik in Gang gesetzt, die gewerkschaftlich zu nennen, wirklich reduzierend
wäre. Und sie haben Schwierigkeiten aller anerkannten Organisationen
offensichtlich werden lassen – in erster Linie derjenigen, die den letzten
nationalen Tarifvertrag unterzeichnet haben. Anormal ist er, weil er – zum
ersten Mal – von den für die Arbeitssicherheit zuständigen Vertretern (Rappresentanti dei Lavoratori per la Sicurezza – RLS) ausgerufen wurde, d.h. von den in den einzelnen
Unternehmensteilen regulär gewählten Delegierten, und nicht von den
Gewerkschaftsorganisationen. Die sich sogar distanziert und jede Entscheidung
über einen eventuellen Streik auf eine Versammlung verschoben haben, die am
27.Januar stattfinden soll. Die einzigen Gewerkschaften, die die Initiative
offen unterstützen, sind die <im Eisenbahnbereich ziemlich kleinen linken
Basisgewerkschaften>
SULT, CUB, CNL und Sin.Cobas. Die angekündigte Beteiligung geht allerdings weit
über ihre Mitglieder hinaus. Und auch der Dekan der kämpfenden Lokführer, Ezio
Gallori, hat seinen Segen erteilt.
„Es haben nicht
alle RLS unterschrieben“, protestiert das Unternehmen und erinnert daran, dass
es in ganz Italien 560 sind. Leicht ironisch fällt die Antwort von Dante De
Angelis aus, einem der Unterzeichner des Streikaufrufes: „Sie wollten nie auf
uns hören und nun zählen sie uns plötzlich.“ In den letzten Stunden hagelt es
Beteiligungszusagen. Alle RLS der Lokführer z.B., die bereits vor dem Unfall
ein Treffen in Rom vereinbart hatten, Dutzende RSU’en (Einheitliche
Gewerkschaftliche Vertretungen <= eine Mischung aus Betriebsrat und
organisationsübergreifendem Vertrauensleutekörper>, auch sie wurden in den einzelnen
Unternehmensteilen gewählt),
inklusive einiger, die ganz
klar zum Bereich der CGIL oder der ORSA gehören. Diese letztere ist die
Gewerkschaft, die vielleicht am meisten leidet. Mindestens drei oder vier regionale
Sekretariate haben sich offiziell beteiligt. Aber auch die „Konföderalen“ <Gewerkschaften> (CGIL, CISL und UIL) vermitteln den Eindruck als
ließen sie es geschehen, ohne sich einem Streik, der breite Zustimmung erntet,
frontal zu widersetzen. „Das einzige verbreitete Bewusstsein ist“ – erklärt
Alberto Russo (RLS in Bologna) – „dass es keiner Gewerkschaft allein gelingt,
nichts zu tun – unabhängig davon, ob sie stark oder schwach ist.“ Im
Hintergrund steht auch das Projekt einer „Reform“ des Gesetzes über die
Arbeitssicherheit, die die Verpflichtungen reduziert, die das Unternehmen
erfüllen muss und de facto die Möglichkeiten der Vertreter der Beschäftigten
beseitigt (weniger Informationsrechte, weniger Zugang zu Dokumenten und
Handlungsfähigkeit im allgemeinen).
„Wir wurden gezwungen,
diesen Streik zu erklären“, fügt De Angelis hinzu. „Und zwar durch die
Tatsache, dass der FS-Konzern Dutzenden von Anzeigen in Sachen Sicherheit
niemals Bedeutung beigemessen hat. Der Unfall hat auf tragische Weise gezeigt,
dass die Dinge, auf die wir seit Jahren hinweisen, nicht nur zutreffen, sondern
aktuell sind.“ Es ist eine angespannte Situation, die alle Eisenbahner
betrifft, nicht nur die Lokführer (wie einige große Zeitungen zu
bagatellisieren versuchen). Und eine, die – in den Augen der Eisenbahner – die
Unbegründetheit des „Nein zum Streik“ deutlich macht.
Für heute hat die
Garantiekommission in Rom die Unterzeichner des Streikaufrufes einbestellt. Ihr
Präsident Antonio Martone hat allerdings in einem Interview diesen Streik
bereits für „rechtmäßig“ erklärt, da er aus „einer schwerwiegenden Tatsache“
heraus entstanden sei. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass er seine Verschiebung
auf einen anderen Termin fordern wird. Die Ferrovie dello Stato (FS) haben
unterdessen in einem Fax an die Staatsanwaltschaft von Bologna angekündigt,
dass sie am 1.Juli mit den Arbeiten beginnen werden, um die Strecke
Verona-Bologna sicher zu machen. Arbeiten, die anfänglich für 2007 vorgesehen
waren. Wird das ausreichen, um die Staatsanwälte zu beruhigen ?
Der Minister für
Infrastruktur, Pietro Lunardi, schließlich zitierte in einer Rede vor der
Verkehrkommission des Senats internationale Analysen aus denen hervorginge,
dass die italienische Eisenbahn ein „Vorbild an Sicherheit“ ist. Er räumte
allerdings auch ein, dass mindestens 5,7 Milliarden Euro nötig seien, um sie
mit zwei Kontrollsystemen auszustatten (dem System zur Kontrolle der Fahrt des
Zuges oder SCMT, den Verkehrskontrollsystemen oder SCC und den
Kommunikationssystemen via Funk oder GMSR). Schade nur, dass, wie die grüne
Senatorin Anna Donati erinnert, „die Regierung Berlusconi die für den Ausbau
des bestehenden Netzes bestimmten Mittel gekürzt hat“, um sie „der Liste der
Großprojekte“ zuzuschlagen.
Der
zweite Artikel erschien in „il manifesto“ vom 15.1.2005:
Züge: Streik bestätigt
Die Eisenbahner lassen nicht ab:
24stündiger Stopp für die Sicherheit. <CGIL-Chef> Epifani: „Gewissensentscheidung“.
Nach Crevalcore: Die
Garantiekommission hat versucht die Beschäftigten davon zu überzeugen, die
Arbeitsniederlegung zu reduzieren – ein Druck ohne Erfolg. Auch die
Gewerkschaftsvorstände haben beschlossen, ein „weicheres“ Verhalten an den Tag
zu legen und – nach der schroffen Distanzierung der vergangenen Tage – daran
mitzuarbeiten.
FRANCESCO PICCIONI
Der vom Präsidenten der
„Garantiekommission für den Streik im Öffentlichen Dienst“, Antonio Martone,
ausgeübte Druck hatte keine Wirkung. Vier Stunden reichten nicht aus, um die
RLS-Delegierten (die für die Arbeitssicherheit zuständigen Vertreter, die
innerhalb der Betriebsteile der Eisenbahn demokratisch gewählt werden) davon zu
überzeugen, den ab Sonntagabend 21 Uhr angesetzten Streik (der am Montag um
dieselbe Zeit endet) auf eine nur 8stündige Aktion zu reduzieren. Der Streik
wird daher <in
vollem Umfang> aufrechterhalten. Die
nach Rom bestellte Delegation verfügte im übrigen nur über ein sehr begrenztes
Verhandlungsmandat, das auf der Versammlung in Bologna <von 150 RLS-Delegierten> beschlossen worden war: Was die Sicherheit der
Fahrgäste und der Eisenbahner anbelangt, kann man sich, angesichts des auf
Verschleppung und Bagatellisierung ausgerichteten Verhaltens des FS-Konzerns
(speziell seit der Aufspaltung in 4 verschiedene Gesellschaften, die mit Blick
auf die „Privatisierung“ geschah) auf keine Kompromisse einlassen. Derselbe
„Garant“ hat in einer anlässlich des Treffens herausgegebenen Mitteilung
anerkannt, dass „die Schwere des Ereignisses, das zur Proklamation“ des Streiks
„geführt hat, von der Verpflichtung der Vorankündigung und der Angabe der Dauer
befreit“.
Die Eisenbahner ihrerseits
haben „die gutmütige Aufforderung zur Kenntnis genommen“, ihn von 24 auf 8
Stunden zu reduzieren, aber auch die „Anerkennung der vollen Legitimität des
Streiks“ seitens des Garanten und der Gewerkschaften. Angesichts „mangelnder
sofortiger Vorkehrungen“ seitens der Unternehmen „auf den am stärksten
gefährdeten Strecken“, inklusive der von Crevalcore und „der Schwierigkeit, die
Beschäftigten umgehend zu informieren“, sehen sie sich jedoch gezwungen, „die
der Schwere“ des Unfalls „entsprechende Aktion“ zu bestätigen.
Das Klima, das herrscht,
kann man – die direkten Zeugnisse einmal beiseite gelassen – auch dem halben
Rückmarsch entnehmen, den gestern alle Gewerkschaften antraten (die im ersten
Moment eine sehr harte Distanzierung von diesem, von den RLS ausgerufenen
Streik verbreitet hatten). Auch wenn sie „einen anderen Weg einschlagen“,
„verleugnen sie ihn nicht und halten ihn für legitim“. Und sie verschieben
jedwede Entscheidung auf eine Delegiertenversammlung, die am 27.Januar 2005
stattfinden soll, während die „Abkühlungsprozeduren“ für eine 8stündige
Arbeitsniederlegung im Februar bereits eingeleitet wurden. Besonders
bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die Erklärung des Generalsekretärs der
CGIL, Guglielmo Epifani, dem zufolge „die konföderalen Branchengewerkschaften sehr
deutlich gemacht haben, dass der Kampf um die Sicherheit fortgesetzt werden
muss, weil man in punkto Sicherheit die Wachsamkeit nicht reduzieren darf“ und
dass „der Streik ein Problem ist, das das Gewissen der Beschäftigten betrifft“.
Wenn das auch kein Blankoscheck ist, so kann man es sicherlich auch nicht eine
Verurteilung nennen.
Das Unternehmen ist
seinerseits sofort darum bemüht darauf hinzuweisen, dass „die wesentlichen
Dienste gewährleistet sind“, d.h. „alle garantierten Mittel- und Langstreckenzüge
an den Werktagen, auf die im offiziellen Fahrplan von Trenitalia hingewiesen
wird, sowie die Nahverkehrszüge zu den Hauptverkehrszeiten (von 6 bis 9 Uhr und
von 18 bis 21 Uhr)“. Auch wenn man nicht versteht, wie auf dieser Grundlage
überhaupt noch ein Streik durchgeführt werden kann.
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover