Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Bei der am 9.Januar 2005 anstehenden Wahl eines neuen Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde konzentriert sich das öffentliche Interesse weitgehend auf die beiden prominentesten Kandidaten Mahmud Abbas („Abu Mazen“) und den inhaftierten Generalsekretär der Fatah des Westjordanlandes und Parteilinken Marwan Barghuti. Dabei ist auch der in den Umfragen mit gut 7% Drittplazierte (Abbas ca. 40%, Marwan Barghuti ca.38%), der Arzt Mustafa Barghuti (ein Cousin von Marwan Barghuti), eine nicht unbedeutende Figur. Er kommt ursprünglich aus der palästinensischen KP, die sich mittlerweile Palästinensische Volkspartei (PPP) nennt (und mit Bassam al-Salhi einen eigenen, aber aussichtslosen Kandidaten präsentiert), hat am Aufbau eines Basisgesundheitswesens mitgewirkt und war auf dem Europäischen Sozialforum 2004 in London so etwas wie der Star der Antiglobalisierungsbewegung auf palästinensischer Seite (Teilnehmer der entsprechenden Plenarveranstaltung werden sich erinnern). Was vor allem mit seiner Orientierung auf die Zivilgesellschaft und zivilen Ungehorsam zusammenhängen dürfte. Die israelischen Besetzungsbehörden behindern – nicht nur – seinen Wahlkampf übrigens entgegen den gemachten Zusagen in erheblicher Weise. So wird ihm die Reise in den Gaza-Streifen verweigert und am 9.Dezember wurde er während einer Wahlkampftour an einem israelischen Checkpoint bei Hebron von israelischen Besatzungssoldaten schikaniert und geschlagen. Seine drei Begleiter wurden z.T sogar regelrecht verprügelt. Die Armeeführung weigerte sich zu diesem Vorfall Stellung zu nehmen.

Falls sein Cousin Marwan Barghuti mit Rücksicht auf die Einheit der Fatah seine Kandidatur doch noch zurückziehen sollte, würde ein Teil seiner Wähler (verschiedenen Umfragen zufolge) dann aus Protest für Mustafa Barghuti stimmen. Die linke italienische Tageszeitung „l’Unità“ (ehemals Organ des PCI, nun im Besitz der Linksdemokraten – DS – und normalerweise dem Linkszionismus nahe stehend) brachte in ihrer Ausgabe vom 4.12.2004 das folgende Interview mit ihm:

 

„Ich kandidiere, um der palästinensischen Zivilgesellschaft Stimme zu verleihen“

 

Die Zivilgesellschaft misstraut Abu Mazen <alias Mahmud Abbas> und der Nomenklatura, die an der Macht ist. Und sie wählt ihren eigenen Kandidaten für die Nachfolge von Arafat: Mustafa Barghuti (50 Jahre alt), Arzt, Verfechter der Bürgerrechte in den besetzten Gebieten und Erfinder des „Medical Relief“, des regierungsunabhängigen Gesundheitsnetzwerkes, das Mustafa Barghuti (ein entfernter Cousin von Marwan Barghuti, der Symbolfigur der 2.Intifada, die ebenfalls bei den Präsidentschaftswahlen am 9.Januar <2005> antritt) in den ländlichen Gebieten Gazas und Cisjordaniens aufgebaut hat. Ein Gesundheitsnetzwerk, das darüber hinaus, dass es Zehntausende von Menschen betreut, Hunderten von Ärzten und Krankenschwestern Beschäftigung sichert. Die Umfragen weisen ihn im Duell zwischen Abu Mazen und Marwan Barghuti als „unbequemen Dritten“ aus, aber Mustafa Barghuti zeigt sich optimistisch: „Es wird die schweigende Mehrheit sein“ – sagt er – „die diese Wahlen entscheidet.“ Mustafa Barghuti leitet die „Demokratische Initiative“, eine vor ungefähr einem Jahr entstandene Bewegung mit dem erklärten Ziel die demokratische Entwicklung der palästinensischen Institutionen und das Wachstum der Zivilgesellschaft zu fördern. Unterstützt wird seine Kandidatur von zahlreichen politischen Persönlichkeiten Palästinas, darunter Haider Abdel Shafi, einem der noch lebenden PLO-Gründer <und zunächst von 5 Organisationen der palästinensischen Linken (darunter PFLP und DFLP) selbst als Präsidentschaftskandidat nominiert, was er allerdings mit Blick auf seine angeschlagene Gesundheit ablehnte>.

 

Wie fühlt man sich, wenn man den offiziellen Kandidaten von Al Fatah, Abu Mazen, und nun auch die Symbolfigur der Intifada, Marwan Barghuti, herausfordern muss ?

 

„Meine Kandidatur ist weder eine Bekenntniskandidatur noch eine um Flagge zu zeigen. Ich fühle mich nicht bereits zu Beginn geschlagen. Die Partie ist noch nicht zu Ende, wie auch die letzten Umfragen belegen.“

 

Im letzten Moment hat es sich Marwan Barghuti, die Symbolfigur der 2.Intifada anders überlegt und beschlossen, Abu Mazen herauszufordern. Es gibt Leute, die diese Entscheidung als eine Begleichung von Rechnungen innerhalb der Fatah interpretieren.

 

„Ich habe nicht zu denjenigen gehört, die jubelten als Marwan die Absicht zu haben schien, nicht zu kandidieren und ich zähle heute nicht zu denjenigen, die ihn kritisieren, weil er es sich anders überlegt hat. Ich habe Respekt vor seiner Entscheidung, weil ich Respekt vor seinem persönlichen und politischen Weg habe. Aber es ist wichtig hervorzuheben, dass die Palästinenser aufgerufen sind, einen Präsidenten zu wählen und kein Symbol.“

 

Sie setzen sich mit gefestigten Apparaten auseinander.

 

„Ich lebe nicht auf dem Mond. Ich weiß sehr gut, dass ich Apparate gegen mich habe, die dazu neigen sich selbst zu versorgen und sich auf allen Ebenen der palästinensischen Institutionen zu reproduzieren. In den letzten Jahren ist allerdings auch eine Bewegung von unten herangewachsen, die Ausdruck einer Zivilgesellschaft ist, die sich durch die alten Fraktionslogiken eingeengt und unterdrückt fühlt. Ich trete an, um zu siegen. Der wichtigste Punkt ist aber der Aufbau einer politischen Opposition, die eine entscheidende Rolle spielt, um unseren unabhängigen Staat und eine moderne und demokratische Gesellschaft zu schaffen. Der Reformprozess hätte vor 10 Jahren eingeleitet werden müssen. Dass das nicht geschehen ist, kann nicht nur der brutalen israelischen Besatzung angelastet werden, sondern auch denjenigen, die die Besatzung ‚benutzt’ haben, um jede Erneuerungsforderung zu blockieren.“

 

Außer mit den alten Apparaten müssen Sie auch mit den Unbeugsamen der Intifada rechnen, die Ihnen ihre Stellungnahmen gegen das militaristische Abdriften des palästinensischen Aufstandes nicht verzeihen.

 

„Wenn es darum geht, werde ich es auch mit denen von der anderen Seite zu tun haben, die der Meinung sind, dass Protest und Verhandlungen Gegensätze sind. Dabei handelt es sich um eine Illusion, um ein Spiegelbild der Illusion derjenigen, die meinen, dass unsere Rechte aus einem Gewehrlauf kommen. Schauen Sie, ich habe mich nicht darauf beschränkt gegen die terroristische Praxis zu protestieren. Ich habe auch die Notwendigkeit hervorgehoben, unsere Kampfformen zu überdenken. Der ‚Intifada der Selbstmordattentäter’ habe ich die Intifada des zivilen Ungehorsams und des gewaltfreien Widerstandes gegen die Truppen entgegengesetzt, die den palästinensischen Boden besetzen. Diese Volks-Intifada bereitet den israelischen Falken Schwierigkeiten, die meinen, sie könnten die palästinensische Frage mit Gewalt lösen. Sie bereitet aber – im palästinensischen Lager – auch denjenigen Schwierigkeiten, die die Praxis und die Sprache der Waffen benutzen, um Machtpositionen zu erobern. Damit das klar ist: Die Palästinenser haben auch das Recht bewaffneten Widerstand gegen die Besatzungskräfte zu leisten. Das ist auch durch die Genfer Konvention sanktioniert. Aber es ist richtig, würde ich gleich dazu sagen, sich zu fragen, wie sinnvoll der Einsatz der Waffen ist. Mit einigen Gewehren besiegt man einen so mächtigen Staat wie Israel nicht. Mit friedlichen Demonstrationen und der vollen Beteiligung des Volkes am Aufstand kann man viel mehr erreichen. Es geht darum zu den Ursprüngen zurückzukehren, den Geist der ersten Intifada zurück zu gewinnen, die – die ja – ein großer Volksaufstand gegen ein Besatzungsregime war, das in den letzten Jahren mit dem Bau der Mauer, der Konfiszierung von Landbesitz, der Häuserzerstörung und der Praxis der gezielten Hinrichtungen sein schlimmstes Gesicht gezeigt hat.“

 

Welchen Frieden strebt Mustafa Barghuti an ?

 

„Einen gerechten Frieden zwischen Gleichberechtigten, basierend auf dem Zwei-Staaten-Prinzip und der Einhaltung der UNO-Resolutionen 242 und 338. Das, was die übergroße Mehrheit der Palästinenser fordert, ist nicht die Zerstörung Israels, sondern die Verwirklichung eines Zusammenlebens zweier unabhängiger Staaten. Ein Abkommen ist möglich, aber um es zu erreichen, muss man jedem Traum von Größe ein Ende setzen. Dem Groß-Israel ebenso wie dem Groß-Palästina.“

 

Welche Vorstellung vom palästinensischen Staat hat Mustafa Barghuti ?

 

„Einen Rechtsstaat, in dem die individuellen und kollektiven Freiheiten garantiert sind und respektiert werden. Einen Staat, der auch auf einer klaren Gewaltenteilung beruht, auf politischer Ebene und in bezug auf die religiösen und kulturellen Institutionen plural ist.“

 

Und unmittelbar ?

 

„Die Bevölkerung fordert Transparenz beim Umgang mit den öffentlichen Geldern, rebelliert gegen die grassierende Korruption, verlangt die Achtung der Menschenrechte, drängt zu einem Austausch der Leitungsklasse und stellt eine autozentristische Machtauffassung in Frage. Mit einem Wort: Sie fordert Gerechtigkeit. Und ich will bei diesen Wahlen ihre Stimme sein.“

 

 

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:

Antifa-AG der Uni Hannover