„junge Welt“ 3.11.2005
Thema:
Erpresste
Zugeständnisse
Krise der Gewerkschaften
– oder Kapitulation der Gewerkschaftsführung vor Kapitaloffensive? (Teil 1)
Renate
Münder
Vier Millionen Mitglieder
hat der DGB seit 1991 verloren, allein 350000 im Jahr 2004 (SZ, 21.2.05) – und
das nicht nur wegen der steigenden Arbeitslosigkeit. Allenthalben wird von der
Krise der Gewerkschaften geredet.
Die Gewerkschaften waren
bisher nicht in der Lage, dem Siegeszug des Kapitals wirksam entgegenzutreten.
Seit der Niederlage des Sozialismus und angesichts einer Massenarbeitslosigkeit
von nicht bloß 5,2, wie es offiziell heißt, sondern acht bis neun Millionen
Erwerbslosen (und weiteren Millionen Menschen in prekärer Beschäftigung in
Billigjobs oder im Niedriglohnsektor) wittern die Herrschenden Morgenluft. Die Umverteilung von der Arbeiterklasse zum
Kapital hat eine neue Qualität erreicht. Massenmeinung ist: Angesichts der sogenannten Globalisierung können wir uns nicht wehren,
müssen wir auf die Erpressungen der Kapitalseite eingehen. Das sei die einzige
Möglichkeit, um unsere Arbeitsplätze zu sichern.
Im ersten Teil dieses
Artikels wird deshalb untersucht, ob es die Globalisierung ist, die uns wehrlos
macht, bzw. welches die objektiven Ursachen für die derzeitige Schwäche der
Arbeiterbewegung sind. Im zweiten Teil wird dann die Politik der Gewerkschaften
im letzten Jahr anhand ausgewählter Beispiele kritisch analysiert und die Frage
gestellt, wie wir wieder in die Offensive kommen können.
Kapital und Weltmacht
Was ist die Ursache für die
Schwäche der Gewerkschaften – d. h. von uns Gewerkschafterinnen und
Gewerkschaftern? Als Erklärung sind sowohl ökonomische als auch politische
Gründe heranzuziehen. Falsch ist es auf jeden Fall – so die These dieses Artikels
– die Gründe in erster Linie bei der »Globalisierung«
zu suchen, wie es Regierung und Gewerkschaftsführung tun.
Die Sozialdemokratie
behauptet, dem Druck der sogenannten Globalisierung
könne sich die Arbeiterklasse nicht entziehen. Richtig ist: Die Gesetze des
kapitalistischen Systems und den Drang des Kapitals nach Höchstprofiten können
wir nicht außer Kraft setzen. Das Kapital hat, wie Marx feststellte, immer die
Tendenz, den Arbeitslohn zu senken und die Arbeitszeit zu verlängern. Der
ökonomische Kampf kann nicht gewonnen werden, solange der Kapitalismus besteht.
Der weltweite Handel gehört
zum Wesen des kapitalistischen Systems, wie Marx in den »Grundrissen der
politischen Ökonomie« unterstrich: »Die
Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals
selbst gegeben.« (»Grundrisse«, 311) Und im
dritten Band des »Kapital« heißt es: » …
der Weltmarkt (bildet) … überhaupt die Basis und die Lebensatmosphäre der
kapitalistischen Produktionsweise.« (MEW 25, 120)
Seit Beginn des Imperialismus
ist der Kapitalexport, die Gründung von Tochterfirmen im Ausland und inzwischen
die Verlagerung ganzer Branchen dorthin ein Mittel, um die Profite zu steigern
und die Arbeiter unter Druck zu setzen. In den 60er bis 80er Jahren des letzten
Jahrhunderts war es z. B. die Textilindustrie, die ihre hiesigen
Produktionsanlagen halbiert und in den folgenden 20 Jahren noch einmal um die
Hälfte reduziert hat. Sie lässt seither überwiegend in Asien und jetzt auch
zunehmend in Osteuropa fertigen. Das Ledergewerbe wurde in der BRD in den
letzten 40 Jahren auf weniger als ein Achtel reduziert. Der Bergbau schrumpfte
in dieser Zeit gegenüber dem Stand von 1960 auf fast ein Siebtel seiner
Beschäftigten. Die Stahlbranche verlagerte ihre Produktion in der Krise der
60er und der 80er Jahre massiv nach Japan, Südkorea, Indien und Brasilien.
Die Folgen wurden
allerdings damals in einer Phase kapitalistischen Wachstums gemildert durch
neue Investitionen: z. B. wurde 1963 Opel Bochum gegründet; so stieg die Zahl
der beschäftigten Kollegen im Maschinenbau leicht an, im Fahrzeugbau hat sie
sich von 1960 bis heute annähernd verdoppelt, ist allerdings seit 1990 wieder
leicht gesunken. Damit konnten diese Branchen einen Teil der Kollegen aus den
verlagerten Bereichen aufnehmen. Und das genau ist der Unterschied zu heute:
Ein Strukturwandel hin zu neuen boomenden Branchen findet nicht mehr statt.
Weder Gen-, Bio-, Informationstechnologie noch die Mikroelektronik können die
alten Branchen ersetzen. Und zweitens: Solange die Konjunktur brummte, wurde
die Internationalisierung der Produktion nicht als Bedrohung erlebt. Aber heute
hat die Krise alle Bereiche erfasst, und sie dauert schon mehr als zwei
Jahrzehnte.
Zur Zeit der
Rekonstruktionsphase nach dem Zweiten Weltkrieg machte das Kapital soziale
Zugeständnisse – allerdings auch nur, wenn die Arbeiterklasse dafür auf den
Plan trat. Das Kapital konnte es sich leisten, und vor allem war es politisch
geboten: Adenauer drückte die Funktion staatlicher Sozialpolitik 1962 so aus: »Es sind inzwischen Stimmen laut geworden
(…), es seien auf sozialem Gebiet zu
große Aufwendungen gemacht worden. Nun, ich bin der Auffassung, daß bei der Lage, in der das deutsche Volk sich damals
befand, bei der drohenden Gefahr des Kommunismus, es besser war, zu viel als zu
wenig zu tun.« Und Norbert Blüm bestätigte dies 2003 in einem Interview für
das Neue Deutschland, als er den »Sozialstaat«
»eine Legitimationsgrundlage unseres Systems« nannte, »mit dem wir unsere
Überlegenheit bewiesen haben.«
Erste Rückschläge
Diese Phase endete 1966/67
mit der ersten ökonomischen Krise nach dem Krieg, und schon gab es auch den
ersten Lohnstopp, der von der »Konzertierten
Aktion«, d. h. unter Beteiligung der Gewerkschaften verordnet wurde. Von
der IG Bergbau und Energie wurde 1966 ein Tarifvertrag mit einer Laufzeit von
25 Monaten abgeschlossen.
Der normale kapitalistische
Krisenzyklus setzte erneut ein, 1975 folgte bereits die zweite Krise.
Das Wachstum wurde wie in
allen imperialistischen Kernländern geringer, die Verwertungsbedingungen des
Kapitals verschlechterten sich, die Profitrate sank, d.h. die organische
Zusammensetzung des Kapitals verschob sich hin zum konstanten Kapital. Die
Kapitalseite reagierte wie immer mit der Erhöhung des Ausbeutungsgrads (Verlängerung
des Arbeitstags, damals noch mit Überstunden, und Intensivierung der Arbeit).
Die Gewerkschaften
konterten ab 1978 mit der Propagierung der 35-Stunden-Woche, sie brauchten bis
1985, bis ihnen damit der Durchbruch gelang. Damals hatte die Gewerkschaftsführung
– bei aller Kompromisslerei und Sozialpartnerschaft –
es noch nicht völlig aufgegeben, die Kolleginnen und Kollegen für die
Verbesserung ihrer Arbeitsverhältnisse zu mobilisieren.
Unterdessen erfolgte der
Angriff auch von politischer Seite, die Schmidt-Regierung bereitete 1982
Gesetze zum Sozialabbau vor, was dann unter Blüm fortgesetzt wurde.
In Großbritannien führte
diese Entwicklung schon in den 80er Jahren zu einem heftigen und leider
erfolgreichen Konfrontationskurs gegen die Gewerkschaften – damals redete noch
niemand von Globalisierung!
Daß in der BRD dieser bisher schwerste
Angriff erst in den 90er Jahren erfolgte, kommt vor allem daher, daß durch die Teilung der Nation die Abwehr gegen den
Sozialismus eine größere Rolle als in den anderen imperialistischen Ländern
spielte. Die DDR war der unsichtbare Verhandlungspartner nicht nur bei den
Tarifrunden.
Umfassende Entrechtung
Die Niederlage des
Sozialismus hatte weltweite Auswirkungen: In den Staaten, die vorher
sozialistisch waren, wurde die unumschränkte Herrschaft des Kapitals
restauriert. Seither gibt es wieder freien Zugang zu deren Märkten,
Rohstoffquellen und Arbeitskräften. Auch in den Ländern, die im nationalen
Befreiungskampf standen, wurde die Abhängigkeit von den Imperialisten
wiederhergestellt. Auch sie mussten ihre Märkte wieder weitgehend öffnen. Die
Folge war, daß der Kampf um die Neuaufteilung der
ehemaligen Sowjetunion und der anderen ehemals sozialistischen Staaten
Osteuropas sowie anderer Weltregionen – inzwischen auch vor allem Afrikas –
wieder begann. Dieser Kampf veränderte und verändert weiterhin das
Kräfteverhältnis zwischen den Großmächten. (Durch die Einverleibung der DDR und
der Nähe zu Ost- und Südeuropa hatte der deutsche Imperialismus hier eine
besonders gute Ausgangsstellung und nutzte sie entsprechend.) Diesen ganzen
Prozess kann man nun Globalisierung nennen, wenn man denn will, präziser ist es
allerdings, wenn wir von einer Offensive des Kapitals sprechen, die 1990 einen
enormen Schub bekommen hat. Mit dem Untergang der sozialistischen Länder in
Europa können sich die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus in seinem
imperialistischen Stadium wieder ungehindert entfalten.
Die Kapitalisten sind fest
entschlossen, ihre Chance zu nutzen und das Rad der Geschichte – unter dem
politischen Kampfbegriff der Globalisierung – weit zurückzudrehen. Sie haben
sich die Senkung aller tariflichen Standards, die Schaffung eines umfassenden
Niedriglohnsektors sowie die völlige Privatisierung der sozialen
Sicherungssysteme vorgenommen. Um diesen Prozess abzusichern, wird die
Entrechtung der Arbeiterklasse permanent vorangetrieben (Verschlechterung des
Kündigungsschutzes, Angriff auf den Flächentarifvertrag und die Mitbestimmung,
auf die Gewerkschaften insgesamt, Abbau demokratischer Rechte). Und das gelingt
dadurch, daß das Kapital – dank der Politik der
Gewerkschaftsführung! – keinen ernsthaften Gegner mehr hat, der es in seinem
Drang nach Profitmaximierung aufhält. Die vollständige Konkurrenz unter den
Arbeitern wurde wiederhergestellt. Ein großer Teil der Arbeiterklasse hat seine
Hoffnung auf eine gesellschaftliche Alternative verloren.
Die Entwicklung der
Produktivkräfte im Transport-, Kommunikations- und Informationssektor (die die
Umschlagsdauer des Kapitals stark verminderte) sowie die von den Imperialisten
erzwungene Freihandelspolitik durch die WTO ab 1995 haben die
Internationalisierung der Produktion ebenfalls erleichtert und sie damit
insgesamt vorangetrieben.
Verstärkte Monopolbildung
Allerdings ist das Ausmaß
des globalen Handels nicht so groß, wie die Zahlen glauben machen: über 60
Prozent wird innerhalb der imperialistischen Zentren getätigt, große Teile der
Welt bleiben im Abseits. Die Hälfte des Exports der multinationalen Konzerne
entfällt auf den sogenannten Intra-Handel,
den Austausch also zwischen den Konzernzentralen und ihren Filialen. Auch die
Verlagerungen finden in erster Linie zwischen den imperialistischen Ländern
statt. Die sogenannte Globalisierung ist also
Ausdruck einer ungeheuren Verstärkung der Konzentration und Zentralisierung des
Kapitals, d.h. der Monopolisierung.
Die Verlagerungen werden
weitergehen und nicht zu verhindern sein – egal, wie viele Zugeständnisse wir
machen. Denn die Ursachen für Produktionsverlagerungen sind vielfältig und
liegen nicht nur an der Lohnsumme, die die Kapitalisten im Ausland einsparen
wollen. Sie gehen mit der Produktion dorthin, wo ihre Kunden, ihre Absatzmärkte
sind und wo zugleich eine gut ausgebildete Arbeiterklasse zur Verfügung steht,
aber nicht etwa nach Afrika, wo die Löhne am niedrigsten wären. Vermeidung von
Wechselkursschwankungen zum Dollar oder Subventionen durch Steuerfreiheit
können ein größerer Anreiz sein als der Lohnkostenvorteil.
Bei Marx lesen wir dazu: »… Gelänge es den Koalitionen
(Gewerkschaften – R.M.), in einem Lande
den Arbeitspreis so hoch zu halten, daß der Profit
bedeutend fiele im Verhältnis zum Durchschnittsprofit in anderen Ländern, oder daß das Kapital in seinem Wachstum aufgehalten würde, so
wäre die Stockung und der Rückgang der Industrie die Folge, und die Arbeiter
wären ruiniert mit ihren Herren. Denn das ist, wie wir gesehen haben, die Lage
des Arbeiters: Seine Lage verschlimmert sich sprungweise, wenn das produktive
Kapital wächst, und er ist von vornherein ruiniert, wenn es abnimmt oder
stationär bleibt.« (MEW 6, 554) Deshalb greift die Forderung nach
Kapitalverkehrskontrollen, Besteuerung bei Verlagerung usw. zu kurz – wir
müssen das Eigentum an den Produktionsmitteln in Frage stellen.
Allerdings wird das Ausmaß
der deutschen Auslandsinvestitionen stark übertrieben, wie die Zahlen der
deutschen Bundesbank zeigen. Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Bofinger
schreibt dazu in der Zeitschrift Metall: »Schlichtweg
falsch ist die Behauptung, Deutschland sei Weltmeister im Export von
Arbeitsplätzen. Ein Blick in den ›World Investment Report 2004‹ von UNCTAD
zeigt, daß die deutschen Auslandsinvestitionen im
Jahr 2003 nur 0,6 Prozent der Inlandsinvestitionen betrugen. Im Jahr 2002 waren
es 2,3 Prozent. In Frankreich lag diese Kennzahl im Jahr 2003 bei 17 Prozent,
in Großbritannien bei 19 Prozent, im Durchschnitt der EU waren es 16,8 Prozent.
Deutsche Unternehmen investieren also deutlich weniger im Ausland als ihre
Konkurrenten in den ›alten‹ EU-Mitgliedsländern.« („Metall“, 5/2005)
Die überzogene Darstellung
nützt allein dem Kapital (ver.di versucht denn auch,
dieser Kampagne entgegenzutreten). Allein die Drohung mit Verlagerung hat schon
die erwünschte Wirkung bei vielen Belegschaften. Die Forderung nach mehr
Mitbestimmung, um Verlagerungen zu verhindern, stößt bei vielen Kollegen auf
Beifall. Aber wie realistisch ist ihre Durchsetzung im Kapitalismus? Es wäre
ein schwerwiegender Eingriff in das Eigentumsrecht der Kapitalisten. Wir
wissen, daß das Mitbestimmungsrecht selbst in der
Montanindustrie nicht durchgesetzt werden konnte: Im
Zweifelsfall hat der
Aufsichtsratsvorsitzende ein doppeltes Stimmrecht. Alles, was im Bereich der
Montanmitbestimmung erreicht wurde, war im wesentlichen
auf die Kampfkraft der Kollegen zurückzuführen und nicht auf die Mitbestimmung.
Da können wir doch gleich die Forderung nach Enteignung stellen!
Denn es sind ja nicht nur
Verlagerungen, die zu Arbeitslosigkeit führen, Schließungen durch Insolvenzen
wirken sich genauso verheerend aus. Allein im Jahr 2003 haben die Pleiten, die
durch die kapitalistische Krise verursacht wurden, 500000 Arbeitsplätze
vernichtet („Der Spiegel“, 14/04),
ein Zehnfaches dessen, was laut Deutschem Industrie- und Handelskammertag
innerhalb von drei Jahren durch Verlagerungen bedroht wurde.
Die größte Gefahr geht von
dem ständigen Prozeß der Rationalisierung aus. Auch
dort, wo keine Verlagerungen stattfinden, werden durch die Anwendung neuer
Techniken, durch die Entfaltung der Produktivkräfte, die Belegschaften
reduziert. 82 Prozent aller befragten Manager deutscher Unternehmen mit mehr
als 500 Mitarbeitern haben in den letzten zwei Jahren Reorganisationen
durchgesetzt, in keinem anderen europäischen Land wurde dieses Mittel häufiger
eingesetzt. Zwei Drittel dieser Maßnahmen dienten der »Kostensenkung und Verschlankung« in Form
von Outsourcing,
Fusionen, Übernahmen, was jeweils Entlassungen zum Ziel und zur Folge hatte.
Eine Ausweitung der
Produktion aber kommt in Zeiten der Krise nicht in Frage, weil der Absatz nicht
gewährleistet ist. Die Gewinne werden nicht reinvestiert,
sondern sollen in weitere Fusionen gehen oder sie werden als Dividende
ausgeschüttet. Die Verlängerung des Arbeitstags verschärft die Situation noch.
Gesetzmäßige Krise
So ist es vor allem die
Massenarbeitslosigkeit von acht bis neun Millionen Erwerbslosen, die den Kampf
der Arbeiterklasse so enorm erschwert. Die Konkurrenz führt zu sinkenden
Löhnen, zu Erhöhung der Arbeitszeit, zum Anwachsen der Reservearmee, sei es in
der BRD, Osteuropa oder Asien. Diesen Wettlauf können wir nicht gewinnen.
Bereits jetzt ist die Verelendung nicht mehr nur relativ, sondern eine
absolute, und bei Teilen der Arbeiterklasse ist die Reproduktion der Ware
Arbeitskraft nicht mehr gewährleistet. Viele Kollegen brauchen einen zweiten
Job, sie werden frühzeitig erwerbsunfähig aufgrund der Arbeitshetze und einer
unzureichenden medizinischen Versorgung, und auch ihre Kinder erhalten
beispielsweise nicht mehr die nötige Ausbildung, die sie brauchen, um ihre
Arbeitskraft verkaufen zu können.
Mit Löhnen, wie sie in
Osteuropa oder Asien gezahlt werden, können wir nicht konkurrieren. Wir
verschlechtern nur unsere Arbeitsbedingungen und Entlohnung und setzen so eine
Spirale in Gang, die die Arbeiter in der ganzen Welt schlechter stellt und noch
weiter schlechter stellen wird. Lohnverzicht und Arbeitszeitverlängerung
verschärfen die Krise auch noch auf andere Weise: Die sinkende Kaufkraft der
Beschäftigten führt zur Vernichtung weiterer Arbeitsplätze, wie das bei der
Krise von Karstadt sichtbar wurde. Aber es trifft natürlich nicht nur das
Handelskapital, sondern die Produktion von Gebrauchswaren aller Art, die die
Arbeiterklasse konsumiert und eben immer weniger konsumieren kann. So wird der
Lohnverzicht zum Bumerang.
Nicht der »Kostenfaktor Arbeit« zerstört die
Arbeitsplätze – wie uns die Kapitalisten weismachen wollen (und wie es die
Gewerkschaftsspitzen zu akzeptieren beginnen), indem sie von angeblich zu hohen
Lohnkosten, zu geringer Flexibilität, von zu kurzen Arbeitszeiten, zu viel
Mitbestimmung, zu viel Schutz vor Kündigungen usw. faseln. Sondern es sind die
kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten, die Überkapazitäten der Produktion und die
Konkurrenz der Kapitalisten untereinander, die zu den unvermeidlichen Krisen
führen, in denen zigtausendfach Arbeitsplätze und Produktionsmittel vernichtet
werden.
Die immensen Gewinne werden
kaum mehr in neue Produktionen investiert, sondern gehen in die
Finanzspekulation, in den Verbrauch von Luxusgütern und Investitionen, die nur
den Aufkauf von Konkurrenten oder profitträchtigen Betrieben bedeuten.
All das zeugt von der
allgemeinen Krise des Kapitalismus, die er mit immer mehr Gewalttätigkeit,
Unterdrückung und Kriegen kompensieren muss.
„junge Welt“ 4.11.2005
Sozialpartnerschaft ohne Partner
Krise
der Gewerkschaften – oder Kapitulation der Gewerkschaftsführung vor Kapitaloffensive?
(Teil II und Schluss)
Renate Münder
Die Gewerkschaften und ihre
Führungen werden von Regierung und Kapital immer wieder als Blockierer
und Betonköpfe dargestellt, die es zu beseitigen gelte. Um sie zu schwächen,
werden die Abschaffung der Mitbestimmung und der Tarifautonomie propagiert.
BDI-Präsident Michael Rogowski wünscht sich »ein
großes Lagerfeuer, um das Betriebsverfassungsgesetz und die Tarifverträge
hineinzuwerfen.« („Stuttgarter Nachrichten“, 21.10.2003)
Doch neuerdings hört man aus dieser Ecke auch andere
Töne: Die Gewerkschaften hätten sich in die richtige Richtung bewegt – wenn
auch natürlich noch nicht weit genug – sie würden endlich einsehen, daß die Arbeitskraft zu teuer, die Lohnnebenkosten zu hoch
und der ganze Sozialstaat eben nicht mehr zu halten sei.
»Anpassen
oder untergehen« ist die neue
Strategie des DGB – wir sollten besser formulieren »untergehen oder untergehen«, denn diese Strategie läuft letztlich
auf eine Gefährdung der Existenz der Gewerkschaften hinaus.
Das Kapital hat sich im letzten Jahr gezielt auf die
»Kerntruppen« des Proletariats eingeschossen, die industriellen Großbetriebe,
die bisher immer die Tarifrunden bestimmten. Und überall hat es seine
Forderungen durchgesetzt. Seine Hauptwaffe dabei ist die Drohung mit einer
Produktionsverlagerung ins Ausland, also einer Spaltung der Arbeiterklasse. Es
werden deshalb im folgenden einige sogenannte
Standortsicherungsabkommen daraufhin untersucht, ob sie ihrem Namen gerecht
werden, ob die Preisgabe wesentlicher tariflicher Standards tatsächlich zur
Sicherung der Arbeitsplätze geführt hat.
Unverbindliche Vereinbarungen
Beispiel Siemens: Mit der Drohung, die Werke in
Bocholt und Kamp-Lintfort nach Ungarn zu verlagern, setzte die Geschäftsleitung
die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche und Lohnkürzungen um zirka 30 Prozent durch.
Es gab keine Zusicherung, den Belegschaftsabbau zu stoppen (die Formulierung in
der Vereinbarung lautet schlicht: »die Tarifvertragsparteien gehen davon aus, daß … keine betriebsbedingten Kündigungen erfolgen
werden«). Es gab keine Zusicherung, auf die Verlagerung gänzlich zu verzichten;
die Entscheidung sollte lediglich um zwei Jahre verschoben werden. Inzwischen
hat Siemens die Handyproduktion verkauft. Die Kollegen wurden an der Nase
herumgeführt.
Beispiel DaimlerChrysler:
Das geforderte Sparpaket von 500 Millionen Euro wurde vom Betriebsrat in vollem
Umfang akzeptiert. Das bedeutet im Einzelnen: Lohnsenkung bei Neueinstellungen
und Verlängerung der Arbeitszeit für die »Dienstleister« und andere Teile der Belegschaft (siehe
hierzu die Broschüre »Erpreßwerk DaimlerChrysler«).
Und im Gegenzug Beschäftigungssicherung? Keineswegs! Der Verzicht auf
betriebsbedingte Kündigungen gilt nicht für Neueingestellte.
Änderungskündigungen sind weiterhin möglich. Personalabbau durch Ausscheiden
von Kollegen wird nicht ausgeschlossen. Bei sogenannten
Personalüberhängen soll Personal »sozialverträglich« abgebaut werden. Reicht
das nicht mehr aus, dann werden wie immer nach dem Betriebsverfassungsgesetz
Verhandlungen über einen Interessenausgleich geführt. Es gilt also letztlich
nur die reine gesetzliche Regelung! Inzwischen kündigte die Konzernleitung
einen umfassenden Stellenabbau an: Die anfängliche Zahl von 5000 wurde
inzwischen durch die Zahl 8500 korrigiert. Es soll zwar keine betriebsbedingten
Kündigungen geben – der Konzern setzt auf Abfindungen, Vorruhestand usw. – aber
das ändert nichts daran, daß Arbeitsplätze auf Dauer vernichtet
werden.
Beispiel Volkswagen: Auch hier erhob das Kapital die
Forderung nach 500 Millionen Euro Einsparvolumen, auch hier wurde sie vom
Betriebsrat erfüllt, erreicht durch Lohnverzicht und vor allem noch größere
Flexibilisierung. Dafür aber soll es im Gegenzug Arbeitsplatzsicherung bzw.
Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen geben. 30 000 Arbeitsplätze, die im
Feuer standen, seien bis 2011 gerettet durch das Abkommen, sagt die IG Metall.
Allerdings hat der Vertrag einen Haken: Er enthält nämlich eine
Revisionsklausel für den Fall außerordentlicher Krisen in Produktion und
Absatz. Wenn eingewendet wird, daß die dann fällige
Rückkehr zum alten Tarifvertrag unattraktiv für VW wäre, dann sei auf andere
Möglichkeiten des Unternehmens verwiesen, z. B. »Outsourcing« in Tochterfirmen, die
wesentlich geringere Standards haben (vgl. Stephan Krull
in „Sozialismus“, 5/2005).
Inzwischen ist die vermeintliche »Arbeitsplatzsicherung« schon gefährdet. Der Wegfall von 10000
Arbeitsplätzen allein in der BRD ist geplant – noch nicht einmal ein Jahr nach
dem Abschluss des Haustarifvertrags 2004. Das Ziel: Sieben Milliarden Euro
sollen bis 2008 eingespart, die Rendite soll auf neun Prozent erhöht werden.
Dazu kommt für die Belegschaft eine weitere Senkung
der Löhne: Das jetzige Schichtmodell sei »wirtschaftlich nicht vertretbar«,
heißt es vonseiten des Konzerns. Die Bänder sollen jeweils zehn Stunden laufen,
die Nachtzuschläge entfallen. Und die Zusage für den Bau des Geländewagens in
Wolfsburg läßt sich die Geschäftsleitung mit
Lohneinbußen von etwa 20 Prozent von den Kollegen honorieren. Dabei war im
Haustarifvertrag 2004 fest vereinbart worden, daß das
neue Modell in der BRD gebaut wird. Soviel zur Glaubwürdigkeit und Verläßlichkeit des Kapitals.
Beispiel Opel: Nach monatelangen Verhandlungen wurde
auch bei Opel ein »Zukunftssicherungsvertrag« geschlossen, der erhebliche
Lohneinbußen (allmähliche Absenkung um rund 20 Prozent!), Flexibilisierung der
Arbeitszeit und den Abbau von fast 10 000 Arbeitsplätzen vorsieht. Danach aber
seien die Arbeitsplätze bis 2010 sicher: der Ausschluß
betriebsbedingter Kündigungen sei »rechtsverbindlich festgeschrieben«, so der
Konzernbetriebsratsvorsitzende Klaus Franz. Wie bei VW fehlt aber auch hier die
»Katastrophenklausel« nicht.
»Tarifkartell« gesprengt
Für alle Abkommen gilt: Die Monopole haben ihre
Konkurrenzsituation auf Kosten der Arbeiter gestärkt. Da aber alle großen
Konzerne auf diese Weise verfahren, geht das Kalkül der IG Metall nicht auf. Es
bleibt das Geheimnis der Gewerkschaftsführungen, wie sie darauf kommen, daß sich unter kapitalistischen Bedingungen überhaupt
Arbeitsplätze – und dann noch auf Jahre hinaus – durch Tarifverträge sichern
lassen. Eine Garantie für Standort und Beschäftigung kann es im Kapitalismus
letztlich nicht geben.
Daß Betriebsräte unter Druck stehen und Belegschaften
auf die Sicherung ihrer Arbeitsplätze drängen, ist verständlich und bekannt.
Aber alle diese Abkommen konnten mit dem Segen der IG Metall abgeschlossen
werden. Und nicht nur das. Die IGM hat mit dem sogenannten
Pforzheimer Kompromiss vom 16. Februar 2004 die Grundlage für all diese
Verträge gelegt.
Darin heißt es: »Ist
es unter Abwägung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen erforderlich, durch
abweichende Tarifregelung eine nachhaltige Verbesserung der
Beschäftigungsentwicklung zu sichern, so werden die Tarifvertragsparteien nach
gemeinsamer Prüfung mit den Betriebsparteien ergänzende Tarifregelungen
vereinbaren oder es wird einvernehmlich befristet von tariflichen
Mindeststandards abgewichen (z.B. Kürzung von Sonderzahlungen, Stundung von
Ansprüchen, Erhöhung oder Absenkung der Arbeitszeit mit oder ohne vollen
Lohnausgleich).«
Der „Kölner
Stadtanzeiger“ (14.3.2004) gibt die Einschätzung von Arbeitgeberpräsident
Martin Kannegießer von Gesamtmetall folgendermaßen wieder: »… erstmals habe sich die IG Metall verpflichtet, zur Sicherung von
Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit Abweichungen vom Flächentarif
zuzustimmen. Sie habe auch mit dem Glaubenssatz gebrochen,
Arbeitszeitverlängerungen seien kein Beitrag zur Beschäftigungssicherung.« Thomas Straubhaar, Chef des von Steuergeldern
abhängigen Hamburger Weltwirtschaftsarchivs, frohlockt bereits, das
Tarifkartell der Gewerkschaften sei de facto gesprengt worden (nach Reinhard Blomert, „Berliner Zeitung“
2.4.05)
Statt den gemeinsamen Abwehrkampf zu führen, statt
die von Erpressung bedrohten Betriebe zu vernetzen, lässt die IG Metall es zu, daß diese einzeln vom Kapital vorgeführt werden und schafft
obendrein noch die Rahmenbedingungen dafür. Und, was der Gipfel ist: die
Kapitulation wird noch als Erfolg, als Rettung der Arbeitsplätze gefeiert. Da
nimmt es nicht wunder, daß die Kollegen glauben,
gegen die Globalisierung sei kein Kraut gewachsen, aber mit Zugeständnissen
könne man Verlagerungen verhindern.
Die Folgen sind: Über 300 Betriebe haben im Jahr 2004
ähnliche Standortsicherungsabkommen abgeschlossen (nach Berthold Huber in FR,
11.11.04), zirka 2000 wollen ebenfalls die Öffnungsklausel nutzen. Bereits
jetzt nutzt fast jedes zehnte Metallunternehmen die Möglichkeit für
betriebliche Abweichungen. (SZ, 21.2.05)
Genauso kritisch ist der Abschluss beim öffentlichen
Dienst (Bund und Kommunen) zu sehen. Ver.di behauptet,
sie habe mit diesem Abschluss den Flächentarifvertrag gerettet. Die Logik ist
ähnlich: die öffentlichen Arbeitgeber drohen teils mit Privatisierung, teils
mit Ausstieg aus dem Tarifvertrag, wie es die Länderarbeitgeber schon getan
haben. Die Einführung von Niedriglohngruppen, von Arbeitszeitverlängerung usw.
würde diese Gefahr bannen. Wieso eigentlich? Wenn die Bedingungen für die
Beschäftigten verschlechtert werden, wird es für private Krankenhausbetreiber,
Busunternehmer usw. nur noch interessanter, den Betrieb zu übernehmen. Und auch
der Ausstieg aus dem Flächentarifvertrag kann so nicht verhindert werden, da
die Kommunen sehen, daß die Belegschaften alles mit
sich machen lassen, daß sie kampflos ihre sozialen
Rechte preisgeben. Das Argument der leeren Kassen, das die Politiker stets
anführen, bleibt bestehen. Und solange wir nicht den öffentlichen Dienst
verteidigen, weil das Leistungen für uns alle sind – Schulen, Kindergärten,
Krankenhäuser und Verkehrsmittel – so lange wird der Druck auf die dort
Beschäftigten bleiben.
Die ver.di-Führung hat sich
kampflos zu den massivsten Verschlechterungen der letzten Jahrzehnte erpressen
lassen (Lohnverzicht, Einführung einer Niedriglohngruppe, Arbeitszeitverlängerung,
massive Schlechterstellung der Neueingestellten usw. usf.). Das wird für die
Unternehmer nur ein Zeichen sein, die Daumenschrauben noch fester anzuziehen.
Auf diese Weise können wir uns vor dem Angriff des Kapitals nicht schützen!
Gewiss ist die Kampfkraft der öffentlichen Betriebe
überwiegend gering. Aber selbst im Bereich der Länder hat sich gezeigt, daß einige Belegschaften zu ungeahnten Aktionen bereit
waren. Aber ver.di wollte ja gar nicht mobilisieren,
hat ausdrücklich darauf verzichtet, um das Jahrhundertwerk mit den
Arbeitsgebern ruhig über die Bühne bringen zu können.
Spaltung der Belegschaften
Unsere Gewerkschaftsführungen sind nach wie vor im
sozialpartnerschaftlichen Denken verhaftet, obwohl ihnen der Sozialpartner
längst schon abhanden gekommen ist. Sie sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen.
Und sie verschlechtern für uns nicht nur unsere Lebens- und
Arbeitsverhältnisse, sondern auch die Kampfbedingungen. Denn überall führen die
Abkommen auch zu einer Spaltung der Belegschaft. Die langjährig Beschäftigten
werden beinahe noch abgesichert, aber die Neueingestellten und Auszubildenden
werden gnadenlos schlechter gestellt. Die Kollegen der Dienstleistungsbereiche,
die ohnehin schon weniger verdienen, werden noch stärker benachteiligt und von
den Facharbeitern preisgegeben. Damit wird das Prinzip der Solidarität, das
unsere einzige Stärke, die Voraussetzung unseres gemeinsamen Kampfes ist,
massiv verletzt. (Umso bemerkenswerter ist die Aktion bei DaimlerChrysler
in Bremen, wo unter dem Motto protestiert wurde: »Ein Betrieb – eine Belegschaft – eine Gewerkschaft – ein Tarifvertrag
– kein Dienstleistungs-Tarifvertrag!«)
Dazu kommt noch das Versagen der Gewerkschaftsführung
bei der Verhinderung des Sozialkahlschlags und der politischen Entrechtung der
Arbeiterklasse, was hier nicht weiter vertieft werden soll. Nur soviel: Die
erfolgreichen Demonstrationen der 500000 im April vergangenen Jahres waren
lediglich ein Dampfablassen. Die Mobilisierung zu betrieblichen Aktionen wurde
bewusst unterlassen. DGB-Chef Sommers Ausführungen, der Trend, den »Sozialstaat« auf eine Grundversorgung
zu reduzieren, sei wegen der Globalisierung und der demographischen Entwicklung
unumkehrbar, zeugen davon, daß die
Gewerkschaftsführung sich inzwischen damit abgefunden hat.
Sicherlich gibt es Kollegen, die immer noch nicht die
Hoffnung aufgegeben haben, daß es bei besserer
Konjunktur ein Zurück zum »Sozialstaat«
geben könne. Das Handeln der Gewerkschaftsführung ist aber nicht allein durch
Hilflosigkeit und fehlende Analyse geprägt, sondern wir haben es mit einer
typisch sozialdemokratischen Art von Krisenlösung zu tun: einer Mischung aus
Kapitulation und Betrug. Kapitulation vor der Kapitaloffensive – und zugleich
Betrug, indem den Kollegen vorgegaukelt wird, daß
durch die Standortsicherungsabkommen die Arbeitsplätze gesichert würden. Daß die Ursache der Erwerbslosigkeit im Kapitalismus selbst
liegt, wird verschleiert, höchstens »Auswüchse«
des kapitalistischen Systems werden verurteilt.
Die opportunistischen Gewerkschaftsführungen haben
das Ziel der Gewerkschaft in sein Gegenteil verkehrt: Nicht mehr die Aufhebung
der Konkurrenz unter den Beschäftigten wird angestrebt, sondern die
Wettbewerbsfähigkeit einzelner Betriebe soll hergestellt werden. Das ist ein
grundlegender Bruch in der Gewerkschaftspolitik und im Selbstverständnis der
Gewerkschaften, der über das bisherige sozialdemokratische Verständnis
hinausgeht.
Keine politischen Streiks
Daß die Kapitulation im Klassenkampf mit der Ablehnung
des politischen Streiks verbunden ist, ist folgerichtig, aber verheerend für
uns. Damit steht die deutsche Sozialdemokratie europaweit isoliert da. Sie
unterstützt so die Bourgeoisie, die der Arbeiterklasse ihr elementarstes Mittel
zum Widerstand gegen Lohn- und Sozialabbau, Entrechtung und im Kampf gegen die
Rechtsentwicklung aus der Hand zu nehmen sucht.
Egal, ob die betreffenden Gewerkschaftsführer und
Konzernbetriebsräte nur hilflose Erfüllungsgehilfen des Kapitals oder
Arbeiterverräter sind – sie stehen objektiv auf der Seite der Bourgeoisie. Sie
betreiben eine gegen unsere Klasseninteressen gerichtete Politik. Und sie sind
fest entschlossen, jeden Widerstand gegen ihre Politik zu brechen, wie z.B. die
Kollegen von Daimler in Untertürkheim erfahren mussten, die mit Ausschluss bedroht
wurden und die die Betriebsratsmehrheit aus dem Betriebsrat zu drängen sucht.
Allerdings ist klar, daß sie nur so selbstbewusst
agieren können, sich die Gewerkschaften so offensiv zu eigen
machen konnten, weil die Masse der Kolleginnen und Kollegen sie nicht daran
gehindert hat. Auch sie hängen mehrheitlich der
Ideologie der Sozialpartnerschaft an. Es ist ihre Passivität und Uninformiertheit,
ihr mangelndes Klassenbewusstsein und ihr Hoffen, daß
es schon jemand für sie richten werde, den sie delegieren, sei es in der
Gewerkschaft, sei es von einer Partei. Diese Haltung ist das Resultat
jahrzehntelanger sozialpartnerschaftlicher Politik. Der Kampf gegen die
Stellvertreterpolitik gehört deshalb zu unseren vordringlichsten Aufgaben, denn
er verlangt ein eigenständiges Denken und Handeln von den Belegschaften. Die
Beispiele, wo mutig und erfolgreich gekämpft wurde und wird, bei Alstom, Siemens, Bosch-Siemens, Jungheinrich,
den Hafenarbeitern usw. sollten wir deshalb hervorheben und breit bekannt
machen.
Fatale Standortlogik
Inhaltlich ist der Dreh- und Angelpunkt die
Standortlogik, die sowohl das Denken der Gewerkschaftsführung als auch das der
meisten Betriebsräte und Kolleginnen und Kollegen beherrscht. Der Ideologie von
der Stärkung des einzelnen Unternehmens gegen die Konkurrenz entspricht die
Ideologie, die den Standort Deutschland fit machen will gegen den Rest der
Welt. Dagegen formulierte ein Vertrauensmann bei DaimlerChrysler: »Meiner Meinung nach müssen wir einen ganz
anderen Kampf führen: Wettbewerbsfähigkeit ist nicht unser Ziel, denn das heißt
Konkurrenz. Ich will aber nicht mit z.B. rumänischen Arbeitern konkurrieren.
Aufgabe der Gewerkschaft ist es, Lohnkonkurrenz abzuschaffen.«
Ob wir das sozialdemokratische Denken in den
Gewerkschaften zurückdrängen können, wird deshalb entscheidend für die Existenz
der Gewerkschaften sein. Die Gewerkschaften sind die Schlüsselfrage im Kampf
gegen den Angriff des Kapitals und die Verhinderung einer weiteren
Rechtsentwicklung bis hin zum Faschismus.
Wie kommen wir wieder in die
Offensive? Die Grundlage muß die Erkenntnis sein, die
von den Gewerkschaftsführungen bis vor kurzem noch verbreitet wurde, der sie
aber ständig in ihrer Praxis widersprechen: Lohnverzicht rettet keine
Arbeitsplätze. Sicherheit im Kapitalismus gibt es nicht.
Daß der Kampf der Arbeiter auch in Zeiten der Krise
möglich ist, das zeigt die Tarifauseinandersetzung in der Druckindustrie, wo
die 35-Stunden-Woche verteidigt werden konnte, wenn auch der Abschluss nicht
als voller Erfolg gewertet werden kann.
Im größeren Ausmaß beweisen die Massenstreiks in
Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland und anderswo, wie eine Mobilisierung
der Arbeiterklasse auch bei schlechten wirtschaftlichen und politischen
Rahmenbedingungen möglich ist. Nicht alle diese Kämpfe führten zum Erfolg;
solange der Kapitalismus besteht, kann es immer nur Teilerfolge im ökonomischen
Kampf geben. Aber sie führen zu mehr Selbstbewusstsein der Kolleginnen und Kollegen,
zu einem höheren Bewusstsein über das Wesen der Bourgeoisie und den
Kapitalismus. Und vor allem führen sie zur Stärkung der Einheit der
Arbeiterklasse und damit zur Verbesserung der Kampfkraft.
Unsere Aufgaben heute sind vor allem: Die Einheit der
Klasse herstellen – gegen Standortdenken und Sozialpartnerschaft, für einen
konsequenten Kampf für die Interessen der Arbeiterklasse statt Unterordnung
unter die Interessen des Kapitals. Dabei sind vordringlich: Wiederherstellung
des Flächentarifvertrags, Rücknahme der Öffnungsklauseln (z.B. Kampf gegen den
Pforzheimer Kompromiss), weitere Arbeitszeitverkürzung.
Im politischen Kampf sind die wichtigsten Ziele:
Gesetzliche Verankerung der 35-Stunden-Woche, gesetzlicher Mindestlohn von zehn
Euro/Stunde, Stopp und Rückgängigmachung der Privatisierung der sozialen
Sicherungssysteme und des Bildungswesens, Maßnahmen gegen die faschistische
Gefahr, Rassismus und Krieg.
Dazu brauchen wir eine Sammlung und Vernetzung aller
antikapitalistischen Gewerkschafter, die sich dem verhängnisvollen Kurs der
Gewerkschaftsführung entgegenstellen. Internationale Zusammenarbeit,
internationale Solidarität ist mehr denn je das Gebot der Stunde. Daß das möglich ist, dafür gibt es Beispiele. So der Kampf
der europäischen Hafenarbeiter gegen die Deregulierungsvorstöße der EU.
Viele der kämpferischsten Kolleginnen und Kollegen
machen sich heute noch Illusionen über den Parlamentarismus und darüber, daß eine Rückkehr zum »Sozialstaat«
möglich sei. Dies drückt sich in ihrer Unterstützung der neuen Linkspartei aus.
Wenn wir ihnen vermitteln wollen, daß Millionen auf
die Straße gehen müssen, um reformistische Forderungen durchzusetzen, dann
müssen wir den Weg mit diesen Kollegen gemeinsam gehen. Dann kann unser
gemeinsamer Kampf ein Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis sein, daß die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln die
Schlüsselfrage ist. Dann kann der Kampf um Reformen ein Schritt hin zur
Revolution werden.
Die Zielrichtung des Kampfes auf eine andere
Gesellschaftsordnung ist nicht einfach ein politisches Anhängsel, sondern eine
zentrale Bedingung dafür, daß die Arbeiterklasse
wieder kämpft. Eine Gewerkschaft, die den Kapitalismus für ein ewiges Gesetz
hält, wird auch den täglichen Verteidigungskampf nicht führen können.
Kapitalismuskritik ist deshalb unabdingbar: Eine Gesellschaftsordnung, die
unsere Existenzgrundlagen dauernd in Frage stellt, ist nicht hinnehmbar. Das
könnte der Einstieg in eine Debatte sein, wie denn diese andere Gesellschaft
aussehen soll.
Machen wir die Gewerkschaften wieder zu einer
Kampforganisation der Arbeiterklasse, die den Kollegen den Blick für den
Sozialismus erneut öffnet.
(* Renate Münder ist Betriebsratsvorsitzende und aktiv bei ver.di)
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