Gespräch mit Mazin
Qumsiyeh über den Israel-Palästina-Konflikt, über
Gazaabzug, Menschenrechte sowie den moralischen Imperativ der
Ein-Staaten-Lösung
Interview: Sabine Matthes
* Mazin B. Qumsiyeh, christlich palästinensisch-amerikanischer
Menschenrechtsaktivist und im Vorstand der »Gesellschaft für einen
demokratischen Staat in Palästina/Israel« (http://one-democratic-state. org), bietet in seinem Buch »Sharing the Land
of Canaan. Human Rights and the Israeli-Palestinian Struggle« (Pluto Press
2004) eine alternative Vision. Weitere Informationen: http://qumsiyeh.org
Um die Ungerechtigkeit und den wunden Punkt im
festgefahrenen Israel-Palästina-Konflikt zu erkennen, genügt ein Blick auf zwei
Karten. Eine, die den Verlauf des israelischen Grenzwalls zeigt, der nach
Fertigstellung die De-facto-Grenze des sogenannten
palästinensischen Staates sein wird: vier eingemauerte palästinensische Kantone
– nördliche und südliche Westbank, Jericho und Gazastreifen – auf etwa zwölf
Prozent des ehemaligen Mandatsgebiets Palästina. Und eine Karte des
UN-Hilfswerks UNRWA, mit den 59 palästinensischen Flüchtlingslagern, verstreut
über ganz Libanon, Syrien, Jordanien, Westbank und Gazastreifen, wo über vier
Millionen palästinensische Flüchtlinge gezwungenermaßen im Exil leben, seit
Israel sie 1948 vertrieben hat, ihre Dörfer zerstörte, ihr Land und Eigentum
konfiszierte, und ihnen seitdem die Rückkehr verweigert. Die Erwartungen, die
der kommende Woche beginnende Gazarückzug weckt, wobei Israel lediglich 8.000
(zwei Prozent) seiner insgesamt 400.000 jüdischen Siedler in den besetzten
Gebieten Westbank, Ostjerusalem und Gazastreifen abzieht, scheinen angesichts
dessen nicht angebracht. Sie entlarven die Unmöglichkeit einer
Zwei-Staaten-Lösung und verlangen nach anderen Ideen. Warum sind das
Oslo-Abkommen und die Zwei-Staaten-Lösung gescheitert?
„Amnesty International
sagte, der Grund dafür, daß Oslo und andere »Friedensvorschläge« scheitern, ist, daß sie Menschenrechte ignorieren. Die Organisation
argumentiert, daß kein dauerhafter Frieden erreicht
werden kann, ohne grundlegende Menschenrechte wie das Rückkehrrecht von
Flüchtlingen. In Wirklichkeit gab es nie eine echte Zwei-Staaten-«Lösung«, die
mit dem politischen Zionismus vereinbar ist. Es liegt im Wesen des politischen
Zionismus, Ungerechtigkeit und Rassentrennung zu verursachen. Bei seinen alten
Standpunkten zu Themen wie Jerusalem miteinander zu teilen oder Flüchtlingen
die Rückkehr zu erlauben, kann er keine Kompromisse eingehen.
Es gab viele
»Friedensvorschläge«: von Hart, Zinni, Mitchel, Tenet, in Oslo, Genf,
und dann die »Road Map«.
Sie alle kranken an demselben ursächlichen Fehler: Unkenntnis von Menschenrechten
und grundsätzlichen Lehren des internationalen Rechts. Die Tatsachen vor Ort,
bestätigt durch israelische Aussagen, zeigen, daß der
vorgesehene palästinensische »Staat« nach israelischen Plänen (sowohl von Labor
wie Likud), den Bantustans der südafrikanischen
Apartheid entsprechen wird. Israel errichtet weiterhin seine massive
Trennungsbarriere um die verbliebenen palästinensischen Enklaven. Alle
israelischen Siedlungen in den seit 1967 besetzten Gebieten sind nach
internationalem Recht und der Vierten Genfer Konvention illegal, trotzdem leben
dort 400000 Siedler, und weitere Siedlungen werden gebaut. Die »Road Map«,
ein Ergebnis der Oslo-Abkommen, umfaßt 2.218 Worte,
aber es fehlen drei Schlüsselworte: Menschenrechte, internationales Recht.“
Gideon Levy beschrieb in der israelischen Zeitung „Haaretz“ die
bittere Ironie des Gazarückzugs: Während die Siedler von Gush
Katif aus dem Gazastreifen umgesiedelt werden in die
Küstenebene zwischen Jaffa und Gaza, um dann dort auf den Ruinen der zerstörten
palästinensischen Dörfer zu leben, bleiben die vertriebenen Einwohner dieser
Dörfer weiterhin Gefangene der Flüchtlingslager in Gaza. Vergrößert der
israelische Rückzug die Chance für einen lebensfähigen »palästinensischen Staat«?
„Nein. Dov
Weisglass, rechte Hand von Premierminister Ariel
Scharon, war sehr deutlich, als er den Zweck der Gespräche über den Gazaabzug
erklärte: um das Entstehen eines souveränen palästinensischen Staates zu
verhindern, um den Friedensprozeß »in Formaldehyd« zu legen, und aus
Washington wichtige Unterstützung herauszuholen. Außerdem dürfen wir den Prozeß vor Ort nicht vergessen. Israel führte seine
kolonialen Aktivitäten, wie Landkonfiszierung, den Bau der Apartheidmauer und
den Siedlungsbau in der Westbank (einschließlich Ostjerusalem) fort. Alle
spielen ein Spiel: »Laßt
uns so tun, als ob.« Wir tun so, als ob Israel
sich aus Gaza zurückzieht – tatsächlich findet, laut israelischer Führer, nur
eine Verschiebung statt. Wir tun so, als ob Flüchtlinge einfach ihre Rechte
vergessen würden. Wir tun so, als ob Israel, das die Zahl der Siedler in den
besetzten Gebieten verdoppelt hat, nachdem es die Oslo-Abkommen unterzeichnet
hatte, »die Siedlungen in Angriff nehmen
wird«. Und wir tun so, als ob all dies Gerede Frieden bringen würde.“
Welchen Vorteil haben Israelis und Palästinenser in einem
gemeinsamen Staat?
„Es wäre ein Gewinn für
alle, wenn der Konflikt keine Opfer mehr fordert. Auf palästinensischer Seite
war deren Zahl unverhältnismäßig hoch. Staatsangehörigkeit mit gleichen Rechten
und Pflichten, unabhängig von der Religion, ist ein wesentlich besseres
nationales Konzept. Es trägt zum Wirtschaftswachstum bei und verbessert den
Lebensstandard für alle.“
Kann ein gemeinsamer israelisch-palästinensischer Staat
antijüdische und antiisraelische Haltungen auf arabischer Seite verringern, und
so zum Ende des Terrors und zur Abrüstung im Nahen Osten beitragen?
„Frieden muß auf Wahrheit und Gerechtigkeit, nicht bloßer »Befriedung«, beruhen. Ein
Schlüsselelement für Gerechtigkeit ist Gleichberechtigung, und wenn Menschen
gleich behandelt werden, haben sie wenig Anlaß zur
Feindseligkeit. Antijüdische – normalerweise, aber irrtümlich, als
anti-»semitisch« bezeichnet –, antimuslimische und antichristliche
Ressentiments mögen bei einer winzigen Minderheit bestehen bleiben. Aber solche
Lösungen, die auf Gleichberechtigung basieren, sind das beste Heilmittel gegen
die pathologischen Ursachen von Gewalt und Haß: die
Krankheiten Habgier und Kontrolle, die der kolonialen Besatzung eigen sind.
Frieden in einem gemeinsamen Staat könnte weitreichende
Folgen haben, etwa für das Streben nach gleichen Bürgerrechten der islamischen
Gemeinden im Westen, die mit der Notlage der palästinensischen Flüchtlinge
(Muslime und Christen) sympathisieren.“
Der libysche Staatschef Muammar el Ghaddafi ist mit seinem
Buch »Isratine«
(Israel + Palestine = Isratine)
Fürsprecher der Ein-Staaten-Lösung. Warum ist bei den Palästinensern die
Zwei-Staaten-Lösung dominant, obwohl sie früher einen einheitlichen Staat
befürwortet haben?
„Das palästinensische
nationale Konzept vertrat von den 1930ern bis 1988 die Ein-Staaten-Lösung. Der
Übergang zum Zwei-Staaten-Konzept wurde keineswegs von allen palästinensischen
Führern akzeptiert. Viele Splitterparteien und Anführer treten immer noch für
einen einheitlichen Staat ein. Während der Zwei-Staaten-Mythos verblaßt, werden mehr Menschen den Kampf für nationale
Einheit und Gleichberechtigung wieder aufnehmen.“
Im Widerspruch zu den UN-Resolutionen 181 und 194 definiert
sich Israel selbst als »jüdischer Staat« im Sinne des politischen Zionismus:
ein Staat mit jüdischer Mehrheit, in flexiblen Grenzen. Warum haben trotzdem
alle israelischen Regierungen, Labor und Likud gleichermaßen, Siedlungen in den
besetzten Gebieten gebaut, und dadurch seit 1967 eine de facto binationale Realität geschaffen?
„Israel ist einzigartig in
der Welt, indem es nicht ein Staat seiner Bürger ist, sondern sich als Staat
für »jüdische Menschen überall« definiert. Der politische Zionismus hat Judäa
und Samaria (die Westbank) immer als Teil des
zionistischen Staates betrachtet. Das Dilemma war, was man mit den
ursprünglichen Bewohnern machen sollte. Gelöst wurde es so, daß
man sich allmählich ihr bestes Land und ihre Bodenschätze (Wasser!) aneignete,
und sie wirtschaftlich unter Druck setzte, damit sie fortgehen. Die Siedlungen
waren das Werkzeug, um dieses Ziel, ein Maximum an Land mit einem Minimum an
Palästinensern, zu erreichen. Als klar wurde, daß die
Mehrheit blieb, wurden andere Ideen, wie die sie in kleine Kantone
einzuzwängen, entwickelt.“
In Israel / Palästina wurde die Mehrheit der
Einheimischen vertrieben, wie in Südafrika, eingeschlossen in Flüchtlingslager
und Kantone oder Townships und Homelands. Der südafrikanische Erzbischof
Desmond Tutu sagte: »Meine Besuche im Heiligen Land erinnern mich so sehr an
Südafrika. Die Apartheid ist zurück, komplett samt ›Trennungsmauer‹ und Bantustans. Geschichte scheint sich zu wiederholen.
Trotzdem, wenn der Frieden nach Südafrika kommen konnte, kann er sicher auch
ins Heilige Land kommen.« Ist die Ideologie des
politischen Zionismus mit der Apartheid vergleichbar?
„Da gibt es Ähnlichkeiten
und Unterschiede. Beide Systeme – Apartheid-Südafrika und zionistisches Israel
– glaubten an eine offenbarte Vorsehung mit religiöser Segnung, um das Land
wiederzuerlangen. In beiden Fällen ging es den Siedlern nicht um die Ausdehnung
eines bestehenden Reichs, wie bei der Kolonisation Algeriens oder Indiens,
sondern kamen aus verschiedenen Ländern. Sie wurden von größeren Mächten
unterstützt, England und USA. In beiden Fällen wurden die Einheimischen
unterschiedlich als nichtvorhanden betrachtet, als Quelle für Ärgernisse oder
billige Arbeit. Beide entwickelten Gesetze, um eine Gruppe gegenüber anderen zu
fördern, basierend auf der Hautfarbe im einen Fall, auf der Religion im
anderen. Aber es gibt auch Unterschiede. Das weiße Regime in Südafrika wollte
schwarze Arbeit in viel größerem Umfang. Der Zionismus versuchte, eine
koloniale jüdische Arbeitskraft zu entwickeln, während er palästinensische
Arbeit benutzte, und manchmal sephardische Juden im
Dienst der aschkenasischen Eliten ausnutzte. In
Südafrika wurden die Schwarzen in Bantustans
verwiesen. In Israel/Palästina wurde die Mehrheit der Palästinenser vertrieben
und/oder in Kantone mit hohen Mauern und Zäunen gedrängt, während man von einem
»palästinensischen Staat« spricht.“
Um eine jüdische demographische Mehrheit sicherzustellen,
entwickelte Israel eine »ethnische Demokratie«, die Palästinensern entweder gar
keine Staatsangehörigkeit gibt (Flüchtlinge) oder eine Staatsangehörigkeit
dritter Klasse (interne Flüchtlinge: »anwesende Abwesende«) oder zweiter
Klasse. Welche diskriminierenden Gesetze müßten
geändert werden, um Israel/Palästina in eine pluralistische Demokratie zu
verwandeln, mit gleichen Rechten für all seine Bürger und Flüchtlinge?
„Israel hat keine
Verfassung, sondern eine Reihe von grundlegenden Gesetzen, die von der Knesset
erlassen wurden. Diese Gesetze aus der Zeit von 1949 bis 1955 schließen einige
wichtige ein, die grundsätzliche Menschenrechte verletzen. Das »absentee property law« (Gesetz zum
Eigentum Abwesender) garantiert den Erwerb des Eigentums von Palästinensern,
die aus ihren Häusern entfernt wurden, und wandelt solches Eigentum um, zur
ausschließlich jüdischen Benutzung. Mit den Gesetzen zu den
Staatsangehörigkeitsrechten wird christlichen und muslimischen Palästinensern
das Recht auf Staatsbürgerschaft verweigert, nachdem sie von ihren Häusern und
Grundstücken vertrieben worden sind. Dieselben Gesetze erlauben automatische
Staatsangehörigkeit nur für Juden, einschließlich zum Judentum Konvertierte.
Eine ganze Reihe von Gesetzen und Regelungen wurde in Kraft gesetzt oder
selektiv aus den osmanischen und britischen Gesetzen übernommen, um effektiv
sicherzustellen, daß Land von Christen und Muslimen
in jüdischen Besitz übergeht.“
Als Genetiker stellen Sie das zionistische Konzept der
»Rückkehr« in Frage. Warum?
„Politische Zionisten
reklamieren gerne eine gemeinsame jüdische Abstammung in Palästina, was eine
»Rückkehr« von »Diaspora-Juden« rechtfertige. Wissenschaftliche Belege aus der
Archäologie, Geschichte, Genetik, Kultur und vielen anderen Bereichen zeigen
jedoch deutlich, daß Juden eine religiöse Gemeinschaft
sind, die verschiedene Ethnien, Kulturen und Sprachen
einschließt. So gibt es klare Belege dafür, daß viele
gebürtige jüdische Araber verwandt sind mit anderen Arabern, die in denselben
Gegenden leben, aber alle ziemlich verschieden von europäischen (Aschkenasim)
und äthiopischen Juden sind. Jemenitische Juden sind jemenitischen Muslimen
nahe, äthiopische Juden sind äthiopischen Christen nahe, und so weiter. Für
einen Blick in diese Diskussion siehe http://ambassadors.net/ archives/issue11/opinions2.htm.“
Was zeigt, daß Israel bereits eine
Vielvölkergesellschaft ist, für die ein binationaler
Staat keine Bedrohung darstellen sollte. Arabische Juden, die etwa die Hälfte
der jüdischen Bevölkerung Israels ausmachen, könnten eine kulturelle Brücke in
einem jüdisch-palästinensischen Staat sein. Sind sie auch natürliche Verbündete
einer palästinensischen Bürgerrechtsbewegung?
„Palästinenser sind, meiner
Meinung nach, natürliche Verbündete aller Menschen, die sich nach
Gleichberechtigung und Gerechtigkeit sehnen. Sephardische
Juden haben durch aschkenasische Zionisten viel
gelitten. Aber es ist auch wahr, daß sephardische Juden bei der Unterdrückung der Palästinenser
mitmachten, und daß aschkenasische
Juden sich gegen den politischen Zionismus engagierten und aussprachen – von
Martin Buber zu Albert Einstein und Hannah Arendt.
Verallgemeinerungen wären also schwierig.“
Das umfangreiche
Online-Angebot der „junge Welt“
findet sich unter: www.jungewelt.de