Vorbemerkung der Antifa-AG der Uni Hannover:
In den letzten Jahren verzeichneten
eine Reihe linksradikaler Organisationen in verschiedenen EU-Staaten
bemerkenswerte Wahlerfolge, z.B. die Rog-Groene Enhedslisten in Dänemark, die
Scottish Socialist Party (SSP) in Schottland, die Sozialistische Partei in den
Niederlanden, der Bloco de Esquerda in Portugal und das Bündnis aus Lutte
Ouvrière + Ligue Communiste Révolutionnaire (LO-LCR) in Frankreich. Dabei
handelt es sich um Formationen, die aus unterschiedlichen trotzkistischen bzw.
maoistischen Traditionen kommen und zum Teil erheblichen Zulauf enttäuschter
Anhänger und Mitglieder der jeweiligen sozialdemokratischen oder
„kommunistischen“ Parteien verzeichneten. An ihnen gibt es (wie an allen
anderen Teilen der Linken) mehr oder weniger markante Kritikpunkte. Gleichwohl
stellen sie auch in den außerparlamentarischen Kämpfen einen wichtigen Faktor
dar und bewegen sich inhaltlich auf einem höheren Niveau als beispielsweise die
PDS oder die sozialdemokratische Wahlalternative hierzulande. Im Rahmen des
notwendigen Erfahrungsaustausches und Blickes über den nationalen Gartenzaun
dokumentieren wir deshalb im Folgenden das Interview mit Francois Duval, einem
führenden Vertreter der LCR, zum schlechten Abschneiden der LO-LCR-Liste bei
den Europawahlen, die auch zum Verlust ihrer 5 Sitze im Europaparlament
führten, aus der:
„SoZ - Sozialistische
Zeitung“, September 2004
Bei den Europawahlen 1999 erreichte die gemeinsame
Liste LCR—LO über 5% der Stimmen und den Einzug ins Europaparlament. Bei den
Präsidentschaftswahlen 2002 kamen drei revolutionäre Kandidaten in der ersten
Runde zusammen auf 10%, der Kandidat der Ligue Communiste Révolutionnaire,
Olivier Besancenot, auf 4,2%. Bei den Europawahlen 2004 war das Ergebnis von
2,5% für die gemeinsame Kandidatur von LCR und Lutte Ouvrière eine herbe
Enttäuschung. Das nachstehende Interview führte Manuel Kellner Anfang August
mit François Duval, einem Leitungsmitglied der LCR (französischen Sektion der
IV.Internationale).
Wie analysiert ihr das schlechte Ergebnis bei den Europawahlen?
“Dieses Ergebnis ist für die LCR ein Misserfolg. Es unterstreicht noch einmal
den Trend der Regionalwahlen vom März 2004. Er fällt auch mit europaweiten
Tendenzen zusammen. Alle Regierungsparteien — außer denen, die gerade an die
Regierung gekommen sind — wurden abgestraft. Davon hat in Frankreich die
sozialdemokratische PS profitiert. Die abhängig Beschäftigten und Besitzlosen
haben PS gewählt, um der bürgerlichen Rechten eine erneute Niederlage zu
bereiten.
Wenn die PS nicht an der Regierung ist, wird
sie trotz ihrer Anpassung an den Neoliberalismus (die auch in ihrer Zustimmung
zur EU-Verfassung zum Ausdruck kommt) immer noch gewählt, um Opposition gegen
den entfesselten Neoliberalismus auszudrücken. Das bedeutet keine Zustimmung zu
ihrer Politik der PS. Der wahlpolitische Wiederaufschwung der PS setzt sich
keineswegs in eine stärkere Verankerung dieser Partei unter den »einfachen
Leuten« oder in verbesserten Beziehungen zu den sozialen Bewegungen um. Die Verbündeten der PS, die vorher im Rahmen
der »pluralen Linken« mit ihr zusammen regiert haben, haben ebenso wie die
radikale Linke Stimmenanteile verloren. Sie konnten den Rückgang in Grenzen
halten, aber sie sind schwächer geworden. Gegenüber den letzten Europawahlen
1999 haben die Grünen etwa 4 Prozentpunkte, die Französische Kommunistische
Partei (PCF) hat 1,5 Prozentpunkte verloren. Diese Verluste zeigen ebenso wie
die der radikalen Linken, dass sich der wahlpolitische Raum links von der PS
verengt hat. Doch auch die Wahlenthaltung, die mit fast
57% auf ein Rekordniveau gestiegen ist, hat der revolutionären Kandidatur
geschadet. Sie ist Ausdruck der Krise der politischen Repräsentation. Soziale
Ausgrenzung, Atomisierung der Individuen und die in Misskredit geratene Politik
produzieren politische Ausgrenzung. Hinzu kommt, dass die Bevölkerung in Sachen
Europa politisch regelrecht enteignet worden ist. Wozu soll man ein Parlament
wählen, das keine Macht hat, während die entscheidenden Entwicklungen sowieso
nicht beeinflusst werden können? 75% der Lohnabhängigen und 78% der Jungwähler
sind den Urnen ferngeblieben. Aber gerade in diesem Milieu findet sich das Gros
der Wählerschaft der revolutionären Linken.“
Nach dem Erfolg der revolutionären Linken beim ersten Wahlgang der
Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002 standen sich im zweiten Wahlgang in der
Stichwahl der Gaullist Chirac und der Faschist Le Pen gegenüber. Hat diese
Erfahrung bei den nachfolgenden Wahlen eine Rolle gespielt?
“Ganz bestimmt, und zwar viel mehr, als wir gedacht haben. Das Herausfallen des
PS-Kandidaten aus dem zweiten Wahlgang am 21.April 2002 war ein regelrechtes
Trauma, das bis heute wirkt. Umso mehr haben auch junge Leute diesmal PS
gewählt, ohne mit der Politik der PS einverstanden zu sein. Dieses Problem
könnte leider durchaus bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen fortbestehen.
Hinzu kam für die Europawahlen auch die
widersprüchliche Auswirkung der Kämpfe gegen die neoliberale Rentenreform vom
Frühjahr 2003. Seit ungefähr zehn Jahren gibt es eine Welle von
Mobilisierungen, die wachsenden Protest ausdrücken, aber ohne Erfolg oder gar
in Niederlagen enden. Das lastet natürlich auf dem Selbstbewusstsein vieler
tausend Lohnabhängiger. Auch das erhöht die Neigung, bei Wahlen doch wieder für
das »kleinere Übel« zu stimmen. Im Frühjahr 2004 kam die Niederlage im Kampf
gegen die Reform der Krankenversicherung hinzu. Das hat bei vielen das
Bedürfnis erzeugt, sich gegenüber der konservativ-liberalen Regierung bei den
Wahlen durch eine Stimmabgabe für die PS zu revanchieren, weil sie nun einmal
die größte Oppositionspartei ist. Darin äußert sich natürlich eine Schwäche der
Revolutionäre, vor allem ihre zu geringe wahlpolitische und institutionelle
Glaubwürdigkeit. Mehrere hunderttausend Wähler haben ihr Verhältnis zur
radikalen Linken geändert, dies haben wir nicht vorausgesehen. Wir hatten zwar
nicht die Illusion, die 10% von 2002 linear fortsetzen zu können, haben aber
doch nicht damit gerechnet, so weit zurückzufallen.“
Welche Debatte hat die enttäuschenden Wahlergebnisse in der radikalen Linken
ausgelöst?
“Auf dem Kongress der LCR im Oktober 2003 gab es zwei Minderheiten, die gegen
die Orientierung der Mehrheit auftraten. Die eine (sie gewann 13% der
Delegierten) meinte, die gemeinsame Liste mit LO sei richtig, sei aber zu sehr
auf die Wahlen begeschränkt, was die Dynamik der Kandidatur behindere. Es gehe
um eine dauerhafte umfassende Einheit der Revolutionäre, vor allem vermittelt
über privilegierte Beziehungen mit LO. Die zweite Minderheit (sie gewann 29%) sah
den Fehler in der gemeinsamen Liste mit LO. Die LCR sei damit dem verengten,
sektiererischen, arbeitertümelnden, den sozialen Bewegungen äußerlichen
Tendenzen von LO aufgesessen. Teuer bezahlen müsse die LCR auch ihre — der langjährigen
Politik von LO entsprechende — Weigerung, bei Stichwahlen zur Wahl der
traditionellen Linken gegen die bürgerliche Rechte aufzurufen. Die LCR habe
sich unnötig isoliert. Die Mehrheit hält die Wahlallianz mit LO für
richtig, die sie in den Rahmen des Kampfes für eine breitere neue,
glaubwürdige, antikapitalistische Kraft der Linken stellt. Auch wenn LO selbst
diese Orientierung nicht verfolgt, so dachten wir doch, durch das Wahlbündnis
einen weiteren Schritt in diese Richtung tun zu können. Sind wir Opfer
unbeeinflussbarer Faktoren geworden, oder haben wir Fehler gemacht? Die
Diskussion darüber fängt erst an. Der Verzicht auf das Bündnis mit LO hätte die
Hinnahme der wahlpolitischen Zersplitterung der revolutionären Linken bedeutet.
Das wäre den Revolutionären schlecht bekommen, und vor allem der LCR, die sich
immer für diese Einheit eingesetzt hat. Ohne Einheit mit LO hätten wir noch
mehr verloren. Im Übrigen hätten wir uns ohne die gemeinsame
Liste mit LO gar nicht überall aufstellen können. Es wäre dann auch wenig
glaubwürdig, für die Einheit der antikapitalistischen Linken einzutreten.
Dogmatismus und Sektierertum von LO sind gleichwohl ein Problem, und dass die
LCR dafür einen politischen Preis zahlen würde, war uns klar… „
Was sind heute die Perspektiven der LCR?
“Wir müssen einen neuen Anlauf nehmen. Ermutigend sind die Ergebnisse unserer
Finanzkampagne: in sechs Wochen gingen 230.000 Euro Spendengelder ein. Wir sind
nicht so isoliert, wie die Wahlergebnisse es glauben machen, und können mit
einem breiten Milieu von Aktiven zusammen arbeiten. Neben der Kampagne für ein
linkes, internationalistisch begründetes »Nein« zur EU-Verfassung werden wir
nach der Sommerpause gegen die Offensive für eine Arbeitszeitverlängerung
vorgehen müssen — dabei berufen sich die Unternehmer und die bürgerlichen
Politiker natürlich auf das »deutsche Beispiel«. In den Mobilisierungen werden wir uns wieder
um die breite Einheit aller gewerkschaftlichen Kräfte und aller Kräfte der
Linken bemühen und der PCF besondere Aufmerksamkeit widmen. Wir wollen dieser
Partei nicht nur gemeinsames Handeln, sondern auch eine breite Debatte über
Fragen der strategischen Orientierung vorschlagen: auf die PS oder auf die
Schaffung einer breiten antikapitalistischen Kraft. Zwar geht es nicht heute konkret um
Regierungsbeteiligung, aber die politische Unabhängigkeit der Linken ist
unverzichtbar, um in den gesellschaftlichen Kämpfe ein antikapitalistisches
Programm vertreten zu können.“