Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Nachdem die EU Deutschland trotz der zweiten Verletzung des Stabilitätspaktes in puncto Haushaltsdefizit nicht mit ernsthaften Sanktionen belegte, führte die Tageszeitung von Rifondazione Comunista (PRC), „Liberazione“, mit dem Sekretär der Partei, Fausto Bertinotti, ein Interview, in dem dieser seine Einschätzung der Situation in der Parole zusammenfasste: „Maastricht ist tot !“ Diese Ansicht ist unseres Erachtens genauso diskussionswürdig wie seine These, die Globalisierung befinde sich in einer tiefen bzw. finalen Krise. Beide Positionen sind allerdings für den seit Juni 2003 intensiv verfolgten Kurs auf eine Regierungsbeteiligung in einer erneuten Mitte-Links-Regierung (dieses Mal sogar mit eigenen Ministern) äußerst funktional, da man auf ihrer Grundlage wunderbar neue Spielräume für Reformen behaupten kann. Zur Rechtswende von Rifondazione werden wir demnächst noch weitere Übersetzungen bringen. Hier zunächst das vollständige Bertinotti-Interview aus „Liberazione“ vom 27.11.2003:
Interview mit dem Generalsekretär von Rifondazione, Fausto Bertinotti:
Ein anderes Europa beginnt bei den Löhnen
Fausto Bertinotti hat Maastricht niemals geliebt. Er hat es sogar bekämpft als es die erfolgreiche Linie des gesamten politischen und wirtschaftlichen Establishments des neuen Europas zu sein schien. Heute, nach den Beschlüssen des Ecofin scheint sich das Bild erneut und auf unvorhersehbare Weise gewandelt zu haben.
Also, können wir davon sprechen ? Ist Maastricht tot ?
„Wir können sagen: Maastricht ist tot. Nieder mit Maastricht ! Wir können davon sprechen, dass die <uns> von der europäischen herrschenden Klasse zur Verfolgung der Ziele einer wirtschaftsliberalen / Freihandelspolitik aufgezwungene Politik der wirtschaftlichen und sozialen Kompatibilität in die Luft geflogen ist.“
Es gibt heute viele, die sich über dieses Scheitern beklagen. Und nicht nur Exponenten der herrschenden Klassen. Das Problem der Staatsverschuldung und des Haushaltsdefizites schien ein gemeinsames Problem in Europa zu sein. Ein objektives, könnte man sagen und eines für das Maastricht eine Lösung zu sein schien.
„Das stimmt. Maastricht war eine den europäischen Ländern angelegte Zwangsjacke mit dem Ziel das Haushaltsdefizit und die Staatsverschuldung zu verringern. Man wollte das als eine objektive und notwendige Operation erscheinen lassen. In Wirklichkeit wurde ein systematischer Druck ausgeübt, um die Sozialausgaben zu reduzieren und um eine Privatisierungspolitik und die Schwächung der Verhandlungsmacht der Werktätigen durchzusetzen.“
Welches sind die entscheidenden Gründe für das Scheitern von Maastricht ?
„Das Scheitern der wirtschaftsliberalen Politiken und die Krise der europäischen Ökonomien. In den letzten Monaten ist etwas Neues geschehen: Die Maastricht-Kriterien, die lange Zeit nur von uns auf der Grundlage einer Argumentation mit sozialer Gerechtigkeit kritisiert wurden, wurden auch für die Effizienz der Wirtschaftspolitiken unakzeptabel, die die Krise hätten überwinden sollen. Und es sind in der Tat gerade diese starken Subjekte, die sie wieder in Frage gestellt haben. Offenkundig muß man weder auf Marx noch auf Keynes zurückgreifen, um zu begreifen, dass zur Bekämpfung der Rezession eine öffentliche Intervention und eine expansive Politik nötig ist.“
Die Position von Rifondazione Comunista war immer „exzentrisch“. Wir waren lange vor dem Bruch des Stabilitätspaktes gegen Maastricht…
„Ja, das können wir sagen. Wir lagen richtig als wir eine Position bezogen, die wirklich ‚exzentrisch’ erschien, die sich heute jedoch als die einzig mögliche erweist. Wir sagten: ‚Ja zum Euro – Nein zu Maastricht !’ Wir waren der Meinung, dass es falsch war, Maastricht als Peitsche gegen die Arbeit und den Sozialstaat zu benutzen, um – das war die These seiner Verfechter – endlich das Unternehmen und den Markt von allen großen und kleinen Bindungen zu befreien. Heute, wo die Krise und die Rezession die Dummheit dessen aufgedeckt haben, erweist es sich als völlig desaströs und nicht tolerierbar.“
Willst Du damit sagen, dass unsere Position realistisch war, während die Anderen reaktionäre Utopisten waren ?
„Ja, die Realisten waren wir als wir das, was undenkbar und unmöglich schien, in Aussicht stellten. Die Tatsachen sind hartnäckig. Im Gegensatz dazu hat sich die Bettdecke des Neoliberalismus, die Maastricht am Leben hielt, <in Wohlgefallen> aufgelöst.“
Ich insistiere darauf: Es waren nicht nur die Ultraliberalen, die für Maastricht eintraten…
„Das weiß ich sehr gut. Jene wirtschaftsliberale Politik war die konzeptionelle Grundlage der Wirtschaftspolitik einer großen Koalition, die in Italien und in Europa im Namen der Regierungsfähigkeit sowohl von der Mitte-Rechten wie von der Mitte-Linken akzeptiert wurde. Die Regierungsfähigkeit war der absolute Wert fast aller europäischen Leitungsklassen. Jetzt ist die Regierungsfähigkeit von der Krise beerdigt worden.“
Müssen wir also die Entscheidung des Ecofin als Selbstkritik zumindest eines Teils der Leitungsklasse betrachten ?
„Nicht nur. Jene Bettdecke, die so dick schien, wurde durch einen sozialen Konflikt zerschlissen, der sich in starker Weise manifestiert hat, wenn auch nicht in allen europäischen Ländern in eindeutiger Form. Daneben sind starke Bedürfnisse von Ländern wie Frankreich und Deutschland ans Licht gekommen, die offensichtlich einen stärkeren Sinn für das nationale Interesse haben. Diese Interessen haben die Oberhand über die von der europäischen Technokratie vorgebrachte und vertretene Forderung nach Strenge gewonnen. Heute hat sich die <haushaltspolitische> Strenge als das offenbart, was sie ist: Das Trugbild einer Politik, die keinerlei Möglichkeit zur Verwirklichung hat.“
Die wirtschaftsliberale / Freihandelspolitik scheint in vielen Ländern und von vielen Gesichtspunkten aus in der Krise zu sein. Aber was kann man ihr konkret entgegensetzen ?
„Wir können sagen, dass Maastricht wie Cancun ist. Hier wie dort haben wir festgestellt, dass die wirtschaftsliberale / Freihandelspolitik zum Stillstand kommt und in die Krise gerät. Die europäische Wirtschaft und die nationalen Ökonomien leiden heute unter den tiefgreifenden Widersprüchen dieser Phase der kapitalistischen Globalisierung und dem Rahmen an Prekarität und Unsicherheit, die diese hervorruft. Darauf kann man entweder eine rechte oder eine linke Antwort geben. Passiv bleiben aber kann man nicht.“
Und wie kann die neue Antwort von rechts aussehen ?
„Wie das, was die Robinson ‚Bastard-Keynesianismus’ nennt. Eine Antwort, die die Wirtschaft durch Militärausgaben und Großprojekte <im Bereich Infrastruktur> wieder in Gang bringen will.“
Die Antworten von Bush und Berlusconi…
„Ganz genau. Die Antwort, die Bush in den USA zu geben versucht und die Berlusconi in Italien ausprobieren möchte. Auch wenn sie in sozialer Hinsicht gravierende Folgen hat, ist sie doch eine ohnmächtige Antwort. Aber es gibt eine linke Antwort, die man heute vorschlagen kann. Die von einer neuen expansiven Ausgabenpolitik und von der öffentlichen Intervention spricht. Die eine Erhöhung der Löhne und der Renten fordert – als Antrieb für eine Wiederbelebung der Wirtschaft. Heute eine linke Antwort auf die Krise der Globalisierung der wirtschaftsliberalen / Freihandelspolitik zu geben, bedeutet über den Keynesianismus hinauszugehen, um eine neues Entwicklungsmodell zu schaffen, das auf dem Frieden und den internationalen Beziehungen basiert. In der Substanz auf einem anderen Europa.“
<Das Interview führte:> Ritanna Armeni
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover