Antifa-AG der Uni
Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Bestimmte
Streiks erlangen landesweite Bedeutung obwohl sie lokal begrenzt sind und die
absolute Zahl der Streikenden eher gering ist. Ein solcher Streik fand am
30.Juni 2004 in der Londoner U-Bahn (der „Tube“) statt. Landesweite und auch
politische Bedeutung erlangte er durch das Verkehrchaos, das er in der
britischen Hauptstadt verursachte, die wachsende Bedeutung der
Transportarbeiterstreiks international und durch die Tatsache, dass die den
Streik organisierende Gewerkschaft RMT zu den kämpferischsten und inhaltlich am
weitesten links stehenden unter den offiziellen Gewerkschaften in Europa zählt.
Politisch brisant ist insbesondere die heftige Auseinandersetzung, die er mit
dem sog. „roten Ken“, dem ehemaligen Labourlinken und vor kurzem in die Partei
zurückgekehrten Londoner Bürgermeister Ken Livingstone, hervorrief. Gerade im
Vorfeld des 3.Europäischen Sozialforums, das Mitte Oktober in London
stattfindet und nicht zuletzt der Profilierung der Kreise um Livingstone dienen
soll, ist ein Blick auf die konkrete Politik dieses britischen Oskar Lafontaine
sehr lehrreich. Der Londoner Korrespondent der von Rifondazione Comunista herausgegebenen Tageszeitung „Liberazione“
fasste das Geschehen in zwei Artikeln zusammen. Der erste erschien in der
Ausgabe vom 30.6.2004:
Der
Protest der U-Bahn-Beschäftigten: „35 Stunden für alle!“ Harte
Auseinandersetzung zwischen Livingstone und der Gewerkschaft RMT.
London: Der Streik der „Tube“
bringt „den roten Ken“ in Verlegenheit
London (unser Dienst) – Die
Stunde X“ kam gestern um 18.30 Uhr. Ca. 7.500 Beschäftigte der Londoner U-Bahn,
die Mitglied der Transportarbeitergewerkschaft Rail, Maritime and Transport
(RMT) sind, haben für 24 Stunden die Arbeit eingestellt und den Stadtverkehr
faktisch lahm gelegt. Die Mitglieder der anderen Transportarbeitergewerkschaft
– ASLEF – die fast ausschließlich aus Zugführern besteht, kündigten an, dass
sie die an den Eingängen der wichtigsten Stationen gezogenen Streikpostenlinien
nicht überschreiten werden. Am Montag war, während eines Treffens der
Gewerkschaftsdelegierten und der Vorstandsmitglieder der London Underground
(LU), das kaum 20 Minuten dauerte, das Ende der Verhandlungen mit den
Vertretern der Beschäftigten erklärt worden, von denen die LU-Manager als
„unehrenhaft und nicht vertrauenswürdig“ bezeichnet wurden. Die Gewerkschaft
hat durch den RMT-Ortssekretär von London, Bobby Law, auch die Vermittlung des
Londoner Bürgermeisters Ken Livingstone gefordert.
Dieser Letztere hatte die
Aufforderung jedoch abgelehnt und die Auffassung vertreten, dass der Disput
durch die Intervention eines professionellen Verhandlungsführers gelöst werden
sollte. „Das wäre ein schöner, großer Knalleffekt, aber auch eine schlechte
Sache für die industriellen Beziehungen“, erklärte der Bürgermeister der
Hauptstadt kurz und bündig.
Der Streik wurde
hauptsächlich durch einen Streit um die Arbeitszeit ausgelöst. Die
Gewerkschaften fordern für alle eine Reduzierung der Arbeitszeit von
gegenwärtig 37,5 Wochenstunden auf 35 Stunden. Die Vorstandsmitglieder der LU
hatten gestern eine Lohnerhöhung um 3,5% für das kommende Jahr (6,5% innerhalb
von 2 Jahren) und die Einführung einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden bis
2006 angeboten. Den Gewerkschaften zufolge gewährt die von der
Betreibergesellschaft angebotene Arbeitszeitverkürzung keine Garantie für die
Anwendung auf alle Beschäftigten. Der Generalsekretär der RMT, der kämpferische
Bob Crow, beurteilte das Angebot, aufgrund der zu vielen Verpflichtungen, die
die Beschäftigten hätten auf sich nehmen müssen, wenn das Angebot angenommen
worden wäre, als „völlig unakzeptabel“.
Der, von fast der gesamten
Presse verschwiegene, wahre Grund, der der Beendigung der Verhandlungen und dem
Einfrieren der Beziehungen zwischen Gewerkschaft und LU zugrunde liege, sei
allerdings der angebliche Plan von Livingstone und LU die Tube,
abweichend von der sog. „Section 12-Order“, einem nach dem Feuer in der
U-Bahn-Station King’s Cross 1986 (bei dem 112 Menschen das Leben verloren)
erlassenen Gesetz, 24 Stunden am Tag in Betrieb zu halten. Das Gesetz sieht
eine Mindestanzahl an Personal vor, das (gemessen an der Größe) in den
Stationen anwesend sein muss, um die Sicherheit der Fahrgäste und des Personals
zu garantieren. War dies der Grund dafür, dass der Londoner Bürgermeister die
Beschäftigten der U-Bahn dazu aufforderte, die Streikpostenlinien zu
überschreiten und damit auch auf der Rechten für Verblüffung sorgte ?
Eine gewerkschaftliche
Quelle, die anonym bleiben wollte, berichtete „Liberazione“ von einem
hitzigen Wortgefecht zwischen Livingstone und Crow, die beim Kampf gegen die
Privatisierung der U-Bahn einmal Verbündete gewesen waren, in dem Livingstone
Crow einen „Gangster“ genannt und Crow den Bürgermeister in der Erwiderung als
„Streikbrecher“ <direkt
übersetzt: als „Abfall“>
apostrophiert habe. Dieselbe gewerkschaftliche Quelle behauptet, dass
Livingstone sich nach seinem jüngst erfolgten Wiedereintritt in die Labour
Party darauf vorbereitet, die Parteispitze zu erklimmen, falls der Kampf um die
Macht zwischen Tony Blair und Gordon Brown (dem Schatzminister) Labour in die
Wahlniederlage und für beide zum Ende der politischen Karriere führt.
Guy Fawkes
Der
zweite Artikel erschien in „Liberazione“ vom 1.7.2004:
Hohe
Beteiligung am Protest der U-Bahn-Beschäftigten, die „35 Stunden für alle!“
fordern.
Großbritannien: Der Streik der „Tube“
legt London lahm
London (unser Dienst). Der
gestern von den Beschäftigten der Londoner U-Bahn, die der Gewerkschaft Rail,
Maritime and Transport (RMT) angehören, organisierte Streik hat einen
politischen Tonfall bekommen, wie es in der letzten Zeit in den industriellen
Beziehungen in Großbritannien häufig der Fall war. Am Vorabend des Streiks
hatte der wiedergewählte Bürgermeister von London, Ken Livingstone, die
RMT-Mitglieder aufgefordert am Arbeitsplatz zu erscheinen. Die Antwort des
Generalsekretärs der Gewerkschaft RMT, Bob Crow, hatte nicht auf sich warten
lassen. Es scheint nämlich, dass Crow, während einer hitzigen Diskussion
zwischen den beiden, Livingstone mit einem „Du bist ein Streikbrecher!“
apostrophiert hat. „11.Gebot: Die Streikpostenlinien nicht überschreiten!“
lautet ein von den Beschäftigten der Londoner U-Bahn vorbereitetes Transparent
außerhalb der Station Laytonstone. Da wird „der rote“ Ken sicherlich ein
Pfeifen in den Ohren gehabt haben.
Der Streik war – vom
Standpunkt der Gewerkschaft aus – ein Erfolg. Gesperrte U-Bahn-Haltestellen,
verstopfte Straßen und 7 Millionen Menschen, die gezwungen waren die
Arbeitsstätten zu Fuß, per Fahrrad oder – wer Glück hatte – im Bus zu
erreichen. Gestern morgen hat nur wenig gefehlt und es wäre an vielen
Bushaltestellen zwischen Pendlern, deren Nerven zum Zerreißen gespannt waren,
zu Schlägereien gekommen. Es ist 50 Jahre her, dass der Streik der Tube
solches Ungemach verursachte. London war
buchstäblich lahm gelegt. „Ja, es ist ein Albtraum“, titelte die meistgelesene
Londoner Tageszeitung „The Evening Standard“ (die täglich mit 5
verschiedenen Ausgaben erscheint). In der 16 Uhr-Ausgabe von gestern
veröffentlichte sie eine unter mehr als 1.000 Londonern durchgeführte
Meinungsumfrage, die ergab, dass 93% der Befragten die Argumente der
Streikenden nicht teilen. Die Gewerkschaft RMT hat für das Personal der
Stationen einen Mindestlohn von 22.000 Sterling (31.000 Euro) <im Jahr> gefordert, was einer Lohnerhöhung von 16% entspricht
sowie den sofortigen Übergang von der 37,5-Stunden-Woche zur 35-Stunden-Woche,
um schließlich zu einer 32-Stunden-Regelung (aufgeteilt auf 4 Arbeitstage) zu
gelangen. Die London Underground (LU) antwortete darauf mit einem Angebot von
6,75% innerhalb von 2 Jahren und einem Übergang auf 36 Stunden im ersten und
auf 35 Stunden im zweiten Jahr, vorausgesetzt, dass – darauf besteht sowohl
Livingstone als auch die LU – sich das Ganze „selbst finanziert“. Crow
bekräftigte, dass „Selbstfinanzierung“ übersetzt Kürzungen bei den Ausgaben und
beim Personal bedeutet. „Durch das Drohen terroristischer Anschläge müsste das
Personal aufgestockt und nicht entlassen werden“, erklärte Crow. Der Streit
zwischen LU und RMT zieht sich mittlerweile seit langem wie ein Krieg niedriger
Intensität hin.
Livingstone, der jüngst von New
Labour wieder aufgenommen wurde, wiederholt weiterhin: „Es tut mir leid, ich
habe kein Geld mehr.“ Und hat eine Erhöhung der Fahrpreise, die allerdings auch
bereits sehr hoch sind, zur Finanzierung der Forderungen der Beschäftigten
ausgeschlossen. Die Gewerkschaften wiederholen allerdings weiterhin und haben
Berechnungen bei der Hand, dass das Geld vorhanden und es nicht notwendig ist
die Tarife zu erhöhen, um die Lohnerhöhungen zu finanzieren. Crow schloss
weitere Streiks nicht aus, wenn die LU nicht ernsthaft beschließt, sich mit der
Gewerkschaft an den Verhandlungstisch zu setzen. Der Streik ging gestern um
18.30 zu Ende. Die Rückkehr zur Normalität auf den Straßen wird allerdings erst
für die ersten Stunden des heutigen Tages erwartet.
Guy Fawkes
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover