Antifa-AG der Uni Hannover:
Der Dauerbeschuss des Gaza-Streifens, die
ständigen Razzien und Verschleppungen von Palästinensern in der West Bank, die
gezielten Ermordungen von Intifada-Aktivisten durch Todesschwadrone der israelischen „Verteidigungsstreitkräfte“
(IDF), bei denen jedes dritte Todesopfer ein sog. „Kollateralschaden“ ist, der bereits zwei
Wochen andauernde Terrorfeldzug der israelischen Truppen im Gaza-Streifen und
nun auch die totale Blockade und die Bombardements des Libanon mit über 50
Todesopfern werden von den Freunden des Kolonialstaates Israel und den sog. „Äquidistanten“ gern damit
gerechtfertigt, dass „die Palästinenser“,
„die Terroristen“, „die Extremisten“ etc. schließlich
angefangen hätten. Mit dieser Theorie beschäftigt sich Gideon Levy aus
gegebenem Anlass in der israelischen Tageszeitung „Ha'aretz“
vom 9.7.2006. Sein Artikel wurde von Ellen Rohlfs für „ZNet Deutschland“ übersetzt und dort in deutscher
Sprache zuerst veröffentlicht. (Siehe: www.zmag.de)
Der
international bekannte und renommierte israelische Journalist Gideon Levy aus Tel Aviv, der u.a. Chefredakteur der Wochenendbeilage der linksliberalen „Ha’aretz“
ist, gehört zu den wenigen israelischen Journalisten, die über das Leben der
Palästinenser unter der israelischen Besatzung berichten und ist wegen seiner
kritischen Berichte bei staatstreuen Israelis wenig beliebt. Gideon Levy
recherchiert in den Palästinensergebieten und ermöglicht so den Israelis, die
das wollen, einen von der Militärzensur ungetrübten Blick auf die Situation.
Politisch war Gideon Levy lange Zeit ein enger Mitarbeiter des ehemaligen Chefs
der sozialdemokratischen Arbeitspartei (Avoda), und
zweimaligen Ministerpräsidenten Shimon Peres, der vor wenigen Monaten zur von
Ariel Sharon gegründeten Kadima-Partei wechselte und
Mitglied der amtierenden Regierung Olmert ist.
Wer
hat begonnen?
von Gideon Levy
„Wir sind aus dem Gazastreifen
abgezogen und nun feuern sie Qassams“. Es gibt keine genauere
Formulierung der vorherrschenden Ansicht über die augenblickliche Runde des
Konfliktes. „Sie haben begonnen“, ist
die Routineantwort gegenüber jedem, der zu behaupten versucht, dass z.B.
Stunden bevor die erste Qassam auf die Schule in Ashkalon fiel (und keinen Schaden verursachte), Israel an
der Islamischen Universität in Gaza viel Zerstörung anrichtete.
Israel verursachte Stromausfall, belagert, bombardiert und beschießt mit
Artillerie, mordet und verhaftet, tötet und verwundet Zivilisten,
einschließlich Kindern und Babys in erschreckender Zahl – aber „sie haben begonnen.“
Sie „brechen auch die Regeln“, die
von Israel festgelegt wurden: Uns ist es erlaubt, alles zu bombardieren, wie es
uns gefällt – ihnen ist es nicht erlaubt, eine Qassam
abzuschießen. Wenn sie eine Qassam nach Ashkalon abfeuern, dann ist dies eine „Eskalation des Konfliktes“, und wenn wir eine Universität und eine
Schule bombardieren, ist das völlig in Ordnung. Warum? Weil sie angefangen
haben. Deshalb denkt die Mehrheit, dass alle Gerechtigkeit auf unserer Seite
ist. Wie bei einem Kampf auf dem Schulhof ist das Argument über, wer begonnen
hat, Israels entscheidendes moralisches Argument, um jede Ungerechtigkeit zu
rechtfertigen.
Wer hat also wirklich begonnen? Und haben wir (wirklich) „Gaza verlassen“?
Israel hat Gaza nur teilweise verlassen – und zwar in einer verzerrten Weise.
Der Abzugsplan, der mit phantastischen Bezeichnungen versehen wurde wie „Teilung“ und „Ende der Besatzung“, hat zur Folge, dass Siedlungen aufgelöst
wurden und die IDF aus dem Gazastreifen sich zurückzog, aber es änderte sich
fast nichts an den Lebensbedingungen der Bewohner des Streifens . Gaza ist noch
immer ein Gefängnis und seine Bewohner sind dazu verurteilt, in Armut und
Unterdrückung zu leben. Israel schloss sie vom Meer, aus der Luft und vom Lande
ab – abgesehen von einer Sicherheitsklappe am Rafah-Übergang.
Sie können ihre Verwandten in der Westbank nicht besuchen und nicht nach Arbeit
in Israel schauen, von dem die Wirtschaft des Gazastreifens 40 Jahre lang
abhängig war. Manchmal werden Waren transportiert, manchmal nicht. Gaza hat
unter diesen Umständen keine Chance, aus seiner Armut herauszukommen. Keiner
wird dort investieren, keiner kann es wirtschaftlich entwickeln, keiner kann
sich dort frei fühlen. Israel verließ den Käfig, warf die Schlüssel weg und
überließ die Bewohner ihrem traurigen Schicksal. Nun – weniger als ein Jahr
nach dem Abzug kehrt Israel mit Gewalt und Macht zurück.
Hat man etwas anderes erwartet? Dass sich Israel unilateral zurückzieht, brutal
und empörend die Palästinenser mit ihrer Not ignoriert – und sie ruhig ihr
bitteres Schicksal tragen und nicht ihren Kampf für Freiheit, Leben und Würde
fortführen würden? Wir versprachen eine sichere Passage in die Westbank und
hielten unser Versprechen nicht. Wir versprachen, Gefangene zu befreien und
hielten auch dieses Versprechen nicht. Wir unterstützen demokratische Wahlen
und boykottierten dann die legal gewählte Führung, konfiszierten Geldmittel,
die ihr gehört und erklärten ihr den Krieg. Wir hätten uns mit Verhandlungen
und Koordination aus dem Gazastreifen zurückziehen können und dabei die
vorhandene palästinensische Führung stärken können – aber wir verweigerten
dies. Und nun beklagen wir uns über „einen
Mangel an Führung“? Wir taten alles, um ihre Gesellschaft und Führung zu
untergraben, um sicher zu gehen, dass der Abzug nicht ein neues Kapitel in
unseren Beziehungen zum benachbarten Volk ermöglicht. Und nun sind wir
verwundert über die Gewalt und den Hass, den wir mit unsern eigenen Händen
gesät haben.
Was wäre wohl geschehen, wenn die Palästinenser nicht die Qassams
abgeschossen hätten? Hätte Israel dann die wirtschaftliche Belagerung, die es
über den Gazastreifen verhängt hat, aufgehoben? Hätte es die Grenzen für
palästinensische Arbeiter geöffnet? Die Gefangenen befreit? Sich mit der
gewählten Führung getroffen und Verhandlungen durchgeführt? Zu Investment im
Gazastreifen ermutigt? Unsinn. Wenn die Bewohner des Gazastreifens ruhig
geblieben wären, wie es Israel von ihnen erwartet hatte, dann würde ihr Fall
von der Agenda verschwinden – hier wie auf der ganzen Welt. Israel würde mit
der Konvergenz fortfahren, die nur seinen eigenen Zielen dient und ihre
dringenden Bedürfnisse ignorieren. Keiner würde einen Gedanken über das
Schicksal der Menschen von Gaza verlieren, wenn sie sich nicht gewaltsam rühren
würden. Das ist eine sehr bittere Wahrheit. Die ersten 20 Jahre der Besatzung
verliefen ruhig – und wir rührten keinen Finger, um sie zu beenden.
Stattdessen bauten wir unter dem Deckmantel der Ruhe das enorme, kriminelle
Siedlungsunternehmen (auf palästinensischem Land; Anm. Rohlfs). Mit unsern eigenen Händen bringen wir die
Palästinenser dahin, ihre armseligen Waffen zu benützen; als Antwort gebrauchen
wir das ganze uns zur Verfügung stehende militärische Arsenal und beklagen uns
weiterhin, dass „sie angefangen hätten“.
Wir haben begonnen. Wir haben mit der Besatzung begonnen, und wir sind
verpflichtet, sie zu beenden, und zwar eine wirkliche, vollständige Beendung.
Wir begannen mit der Gewalt. Es gibt keine schlimmere Gewalt als die des
Besatzers, der Gewalt gegen ein ganzes Volk anwendet. Deshalb ist die Frage,
wer zuerst schoss, eine Ausrede, um das tatsächliche Bild zu verzerren. Auch
nach Oslo gab es Leute, die behaupteten, „wir
hätten die Gebiete verlassen“ – es war ein ähnliches Gemisch von Blindheit
und Lügen.
Gaza steckt in sehr großen Schwierigkeiten. Es herrscht Tod, Schrecken und
tägliche Not – aber weit entfernt von den Augen und Herzen der Israelis. Uns
werden nur die Qassams gezeigt. Die Westbank leidet
noch immer unter dem Stiefel der Besatzung, die Siedlungen blühen, und jede
vorsichtig ausgestreckte Hand nach einem Abkommen, einschließlich der von
Ismail Haniyeh, wird sofort zurückgewiesen. Sollte
jemand nach all dem noch Hintergedanken haben, dann wird prompt die
entscheidende Antwort geliefert: „Sie
haben begonnen.“ Sie haben begonnen – und die Gerechtigkeit liegt auf
unserer Seite, während nicht sie begonnen haben – und die Gerechtigkeit nicht
auf unserer Seite liegt.
Übersetzung: Ellen Rohlfs
Vorbemerkung:
Antifa-AG der Uni Hannover