Antifa-AG der Uni Hannover:
Das „fahrlässige“ Abschlachten einer 7köpfigen
palästinensischen Familie während eines Picknicks am Freitag, den 9.Juni 2006,
am Strand von Gaza durch israelischen Granatenbeschuss hat weltweit dann doch
für etwas Empörung gesorgt. Dabei ist es gängige Praxis der „einzigen
Demokratie im Mittleren Osten“ bei ihren so genannten „gezielten
extralegalen Hinrichtungen“ die Ermordung oder Verstümmelung in der Nähe
befindlicher palästinensischer Zivilisten billigend in Kauf zu nehmen. Bei
5.000 israelischen Raketen, Panzer- und Geschützgranaten, die allein im April
diesen Jahres im Gazastreifen einschlugen, ist das Gerede von „chirurgischen
präzisen Schlägen“ ohnehin nur ein weiterer menschenverachtender Witz, den
die israelische Propaganda und ihre antideutschen Hilfstruppen hierzulande
verbreiten. Von diesem Trommelfeuer, den ständigen Razzien und der Ermordung
zahlloser Palästinenser durch die israelische Armee, die den Gaza-Streifen nun
in ein von außen bewachtes großes Gefängnis verwandelt hat, in dem die Menschen
systematisch ausgehungert werden, ist in bundesdeutschen Medien kaum die Rede.
Von der sehr viel geringeren Anzahl an Kassam-Raketen, mit denen
palästinensische Widerstandsgruppen sich gegen diesen israelischen Staatsterror
zur Wehr setzen, hingegen schon. Obgleich deren Wirkung vor allem symbolischer
und psychologischer Natur ist. („Die schießen ja zurück!“)
Ein sehr genauer und wütender Beobachter dieser
Praxis der israelischen Armee und Regierung ist der bekannte israelische Journalist Gideon Levy aus Tel Aviv, der für
die linksliberale Tageszeitung ‚Ha'aretz’ arbeitet, unter anderem als
Chefredakteur ihrer Wochenendbeilage. Er gehört zu den wenigen israelischen
Journalisten, die über das Leben der Palästinenser unter der israelischen
Besatzung berichten und ist wegen seiner kritischen Berichte bei staatstreuen
Israelis wenig beliebt. Gideon Levy recherchiert in den Palästinensergebieten
und ermöglicht so den Israelis, die das wollen, einen von der Militärzensur
ungetrübten Blick auf die Situation. Politisch war Gideon Levy lange Zeit ein
enger Mitarbeiter des ehemaligen Chefs der sozialdemokratischen Arbeitspartei
(Avoda), und zweimaligen Ministerpräsidenten Shimon Peres, der vor wenigen
Monaten zur von Ariel Sharon gegründeten Kadima-Partei wechselte und Mitglied
der amtierenden Regierung Olmert ist.
In der „Ha'aretz“-Ausgabe vom 11.06.2006 berichtete
Gideon Levy in allen grausigen Details über eine weitere „gezielte Tötung“
der israelischen Besatzungsarmee (IDF). Sein Artikel wurde von Ellen Rohlfs für
„ZNet Deutschland“ übersetzt und dort in deutscher Sprache zuerst
veröffentlicht. (Siehe: www.zmag.de)
Und
nun lebenslang gelähmt
von Gideon Levy
Das Gewirr von Röhren und
das Beatmungsgerät, das direkt mit ihrer Luftröhre verbunden ist, können nicht
ihre Schönheit verbergen. Ein kleines 3jähriges Mädchen liegt auf der
Intensivstation der Kinderklinik im Sheba-Medical-Zentrum. Maria Amans traurige
braunen Mandelaugen sind weit offen, ihre Lippen murmeln leise: „Ich möchte
etwas essen“, aber alle ihre Glieder sind auf immer gelähmt. Nicht weit von
hier auf der Intensivstation im Ichilov-Krankenhaus liegt ihr Onkel Nahed, 33,
Vater von zwei Kindern. Er ist in noch schlimmeren Zustand. Er liegt nicht nur
am Beatmungsgerät und vollkommen gelähmt, er wird in einem Koma gehalten.
Nein, das sind nicht die Opfer der Wochenendoperation (9.6.2006), sondern die
einer vorausgegangenen Operation: Opfer einer Ermordung aus der Luft vor drei
Wochen in Gaza. Es war eine Operation, die hier in Israel fast niemand
geschockt hat. Die Vorfälle an diesem vergangenen Wochenende sollte für
niemanden eine Überraschung gewesen sein. Es war von Woche zu Woche schlimmer
geworden. Und die Frage, die gestellt werden sollte ist nicht, was Israel tut,
um die Qassams zu zählen, sondern was es nicht tut. Eine Armee, die Raketen auf
bevölkerte Straßen abschießt und Granaten auf einen Strand, kann nicht
behaupten, dass es keine Absicht sei, unschuldige Zivilisten zu treffen.
Die Mutter des Mädchens, Naima (27), ihr Bruder Mohand (7), und ihre Großmutter
Hanan (36) wurden bei dieser „gezielten Tötung“ mit getötet. Es war eine
verhältnismäßig glückliche Familie. Acht Leute waren am Samstagnachmittag auf dem
Wege zu Verwandten in einem Wagen, der zwei Stunden vorher gekauft worden war.
Nur der Vater Hamdi (28), der auf dem Carmel-Markt in Tel Aviv groß geworden
ist, sein kleiner Sohn Moaman (2), und der Cousin Imad kamen verhältnismäßig
unbeschadet weg, nur von Splittern verletzt. Die Granate war auf den
islamischen Jihad-Aktivisten Mohamed Dahduh gezielt worden und tötete ihn,
nachdem schon seine beiden Brüder in der Vergangenheit umgebracht worden waren.
Die Granate traf auch die Aman-Familie, die direkt neben dem Dodge Magnun war,
in dem der gesuchte Mann fuhr.
Dahduh war übrigens auf dem Weg ins Shifa-Krankenhaus, um seine Frau zu
besuchen, die gerade ein Kind geboren hatte. Da war also keine Bombe, sicher
keine tickende – Israel hat aber seit langem die Ermordungen zu einer legitimen
und gerechtfertigten Massenwaffe gemacht – und es gibt noch immer keine
öffentliche Debatte darüber.
Neben Marias Bett sitzt Tag und Nacht nur Nabil ihr Großonkel. Er ist hungrig
und müde, die Augen vor Müdigkeit blutunterlaufen. Neben dem Bett von Nahal
sitzt nur sein Bruder Mahe, der in Jaffa lebt. Der Rest der Familie bleibt
eingesperrt in ihrer Wohnung in Gazas Stadtteil Al-Hawa. Sie rufen Dutzende
Male am Tag an, um zu erfahren, wie es den Verwandten geht . Dem Vater war es
zunächst nicht erlaubt, seine Tochter zu besuchen. Nun möchte die Familie
nicht, dass er seine Tochter sieht, damit er seine Kräfte schont und auf sich
selbst achtet. Er weist auf den terroristischen Angriff hin, während sein Sohn
noch immer geschockt über den Sandboden in der Wohnung hin und herläuft und
vergeblich nach seiner Mutter schreit.
Die israelischen Medien haben dieses schreckliche Unglück , das durch ihre
Luftwaffe verursacht wurde fast völlig ignoriert. Wie gewöhnlich berichten die
Medien kaum darüber. Der Luftwaffenkommandeur General Eliezer Shkedi sagte mit erschreckender
Gleichgültigkeit, dass die Luftwaffe „noch den Bericht über eine verletzte
Familie überprüfen will.“ Zwei Wochen später sagte der Sprecher des
IDF-Büros zu Haaretz, dass in der Zusammenfassung des Untersuchungsberichtes
der Stabschef die Bemühungen der Armee betont, wie sehr sie sich „bemüht
Unschuldige nicht zu Schaden kommen zu lassen.“ Und der Generalstabschef
Dan Halutz’s Gewissen ist wie gewöhnlich so ruhig wie nach dem Mord an Salah
Shehade, bei dem auch 16 andere Unschuldige ums Leben kamen. Der Stabschef
bemerkte noch, „dass die Operation auf einer hohen Ebene von Professionalität
ausgeführt wurde, mit großer Genauigkeit den gesuchten Mann traf und eine wenig
verkehrsreiche Straße wählte.“
Die Straße, in der die Granate abgeschossen wurde, die Industrie-Straße in Gaza
ist eine verkehrsreiche Straße. Keiner entschuldigte sich, und was noch
schlimmer ist, keiner dachte daran, dieser unglücklichen und unschuldigen
Familie Hilfe anzubieten.
Nach zwei Wochen im Krankenhaus wurde geplant, Maria und Nahed nach Hause zu
schicken. Es gibt keine Rehabilitationsklinik im Gazastreifen und so ist ihr
Schicksal besiegelt. Sie werden dort unter unmenschlichen Umständen sterben.
Nachdem nun das drakonische Wiedergutmachungsgesetz verkündet wurde, hat die
Familie keine Chance, den Staat zu verklagen. Als letzte Woche Vater Hamdi, ein
junger und sensibler Mann, davon erfuhr, dass Maria nach Gaza zurückgesandt
wird, wurde er wütend ...
Nur die tatkräftige und engagierte Intervention der Ärzte für Menschenrechte
verhinderte in letzter Minute die Rückkehr der beiden nach Gaza. Ein Brief der
Organisation an das Verteidigungsministerium mit der Bitte, dass das Mädchen
und sein Onkel in Israel behandelt werden, blieben länger als eine Woche
unbeantwortet – bis Knessetmitglied Dov Khenin von <dem KP-geführten linken
israelischen Wahlbündnis> Hadash im
Korridor der Knesset mit <dem
israelischen Kriegsminister> Amir
Peretz <von der
sozialdemokratischen Avoda>
zusammenstieß und ihn über diesen Fall befragte. Peretz, der gar nichts darüber
wusste, versprach sich darum zu kümmern. Erst nachdem über diese Sache im Radio
Israel vom Militärkorrespondenten berichtet wurde, gab das Büro des
Verteidigungsministeriums ein Statement heraus, das besagt, dass ein Komitee
berufen würde, um eine medizinische Behandlung der beiden in Israel zu
genehmigen.
Heute (11.6.2006) wird Maria ins Alyn-Krankenhaus nach Jerusalem verlegt und
anscheinend ihr Onkel auch. Der Verteidigungsminister hat versprochen, die
Behandlung werde übernommen werden.
Selbst wenn dies geschieht, kann das unschöne Verhalten der IDF, seiner
Kommandeure und des Verteidigungsministerium bei diesem erschreckenden Vorfall
nicht ignoriert werden. Selbst wenn keiner die Legalität dieser Mordpolitik,
geschweige denn ihre Moral, hinterfragt, muss man sich fragen, warum erst die
Einfluss nehmenden Bemühungen einer Ärztegruppe, ein Knessetmitglied der
Opposition und die Medien nötig sind, um aus dem Staat ein Minimum an
menschlicher Bemühung zu holen, einem Staat, der behauptet, moralisch auf der
Höhe zu sein. Die kleine Maria wird ihr Leben lang gelähmt zu sein – genau wie
der Staat und die Armee, die ihr das angetan haben und nicht einmal daran
dachten, sich bei ihr zu entschuldigen oder volle medizinische Hilfe und eine
entsprechende Wiedergutmachung anzubieten.
Übersetzung: Ellen Rohlfs
Vorbemerkung und Einfügungen in eckigen
Klammern:
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