Antifa-AG der Uni Hannover:
Während in
großen Teilen der verbliebenen Linken hierzulande noch immer an „BILD“-Zeitungsmythen über die Islamische
Widerstandsbewegung (Hamas) festgehalten wird („mittelalterliche Islamisten“, „Fanatiker“, „Terrororganisation“, „wollen
alle Juden ins Meer treiben“ etc.) und von der Pro-Israel-Fraktion
Informationen soweit als möglich unterdrückt werden, damit die lieb gewonnenen
Vorurteile nicht in Gefahr geraten, haben die qualifiziertesten
bürgerlichen Medien diese längst über Bord geworfen und analysieren ganz
nüchtern und undogmatisch den Entwicklungsprozess der zweitstärksten
politischen Kraft in Palästina. Ähnlich wie auf ökonomischem Gebiet, wo
Zeitungen wie die FAZ oder die Süddeutsche seit langem fast nur noch von „Kapitalismus“,
„Klassen“ und „Klassengesellschaft“ sprechen, der Großteil der Linke aber
ängstlich an Propagandabegriffen wie „Marktwirtschaft“, „ArbeitnehmerInnen“
und „Schichten und Milieus“ festhält, wird es wohl auch beim Thema Palästina /
Mittlerer Osten noch Jahre dauern bis sich die Linke als Ganzes traut in punkto
Aufklärung zumindest den fähigsten Teilen des Bürgertums zu folgen (um von
einer eigenen, gar sozialistischen oder kommunistischen Avantgarderolle erst
gar nicht zu reden!). Für Alle, die sich schon vorher für die Tatsachen
interessieren und einen „fatalen“ Hang zu dialektischem und materialistischem Denken
verspüren, dokumentieren wir hier den Bericht des ARD-Hörfunkkorrespondenten
in Tel Aviv, Carsten Kühntopp, vom 6.1.2005, den wir der Homepage
der Tagesschau entnahmen (www.tagesschau.de).
Die Fotos haben wir mit Blick auf unseren begrenzten Speicherplatz weggelassen
und nur die Bildunterschriften beibehalten, weil sie die veränderte Sichtweise
besonders deutlich dokumentieren.
Natürlich
wird hier nicht nur eine „strategische Wende“ der kleinbürgerlich-antiimperialistischen
und zuweilen linkspopulistischen Hamas sichtbar (für die es bereits seit langem
eindeutige Anzeichen gab), sondern auch neue außenpolitische Optionen für den
deutschen und den EU-Imperialismus, die dieser wahrnehmen wird und die es in
linker, antikolonialer und antiimperialistischer Politik zu berücksichtigen gilt.
Palästina
vor der Wahl:
Von Carsten Kühntopp, ARD-Hörfunkkorrespondent in Tel Aviv
In einem Restaurant an der Küste von Gaza-Stadt: Sami Abu Zoheri fingert an seinem Cordjakett herum. Immer wieder zupft er an seinem Bart, alle paar Minuten schaut er sich um und späht durchs Fenster nach draußen. Abu Zoheri ist nervös, er sieht bleich und müde aus.
[Bildunterschrift: Keine Interviews: Hamas-Führer Machmud A-Zahar]
Mahmud A-Zahar, die Nummer
Eins der Hamas im Gaza-Streifen, hat ein Interview abgelehnt - zu gefährlich.
Stattdessen schickte er Abu Zoheri, sein Sprachrohr.
Eigentlich ist Abu Zoheri, 38, Universitätsdozent für
Islamische Geschichte. Doch vor fünf Monaten wurde er Sprecher der Hamas und
lebt seitdem im Untergrund. Israel habe ihn auf der Abschussliste, behauptet
er.
Dass er dennoch zum Interview erscheint, hat einen Grund: Die Hamas hat dieser Tage etwas mitzuteilen und legt Wert auf internationale Zuhörer. "Hamas ist sehr daran interessiert, am politischen Prozess teilzunehmen, und damit meinen wir die Wahlen", sagt Abu Zoheri. "Die Präsidentschaftswahl am 9. Januar boykottieren wir. Dazu sind wir gezwungen, weil wir verlangt hatten, dass die Präsidentschaftswahl und die Wahl zum Parlament gleichzeitig stattfinden. Es ist irrational, dass ein gewählter Präsident mit einem Parlament arbeiten muss, das nicht mehr legitimiert ist."
[Bildunterschrift: Hamas-Kämpfer mit Koran]
Bei der Wahl zum Legislativrat, also dem Parlament, die vermutlich im Sommer
stattfinden wird, dürfte die Hamas wahrscheinlich antreten. Als die
Volksvertretung vor acht Jahren zum ersten und bislang letzten Mal gewählt
wurde, hatte die Hamas nicht teilgenommen - aus Protest gegen den verhassten
Osloer Friedensprozess, mit dem das Parlament überhaupt erst geschaffen wurde.
Die Wende nun zeigt: In den letzten vier Jahren ist das Ansehen der Islamisten bei den Palästinensern gestiegen; die Hamas ist laut Meinungsumfragen mittlerweile die zweitstärkste Bewegung nach Fatah und möchte diese Zustimmung in politischen Einfluss ummünzen.
Abu Zoheri möchte eine weitere wichtige Botschaft loswerden: Die Hamas respektiert den neuen PLO-Chef Machmud Abbas, auch Abu Masen genannt, die Kontakte zu ihm sind gut. Die Organisation ist an einem Beitritt zur PLO interessiert und bietet ihre Mitarbeit an. "Abu Masen stützt sich klar auf die Politik des Kompromisses, auf Oslo. Das widerspricht natürlich der politischen Grundlage unserer Bewegung. Aber es gibt viele Sachen, die wir in einer Zusammenarbeit lösen können, vor allem in der Innenpolitik. Wir müssen das palästinensische Haus umorganisieren auf einer neuen gemeinsamen Basis. Da geht es um Reformen, um die Bekämpfung der Korruption, um die politische Umgestaltung durch Neuwahlen, die neue Volksvertreter hervorbringen werden."
Im Westjordanland war es lange Zeit noch schwieriger als im Gaza-Streifen, ein Interview von einem hochrangigen Vertreter der Hamas zu bekommen. Wer dort in der Hamas etwas zu sagen hatte oder hat, ist entweder durch die israelische Armee getötet worden, sitzt in Haft oder ist untergetaucht.
[Bildunterschrift: Freigelassen: Scheich Hassan Jussuf
salutiert am Grab Arafats]
Das hat sich erst vor kurzem geändert, als Israel Scheich Hassan Jussuf wieder auf freien Fuß setzte, nach
zweieinhalbjähriger Haft. Jussuf ist 47 Jahre alt und
arbeitet in der Wohlfahrtsabteilung der der Islamischen Stiftung Wakf, in Ramallah. Auch er bietet
der etablierten palästinensischen Führung an, dass Fachleute, die zur Hamas
gehören, in den Regierungsapparat eintreten; die Hamas hat viele Akademiker in
ihren Reihen, die als geradeaus und unkorrumpierbar gelten.
"Zu unserem Bedauern werden die Beamten und die politischen Funktionsträger innerhalb der Palästinenserbehörde nach Parteizugehörigkeit ausgewählt", erzählt Scheich Jussuf. "Wir in der Hamas rufen die Palästinenserbehörde zu einer Selbstprüfung auf, wenn sie die internen Fehler beheben will - also die Korruption bei den Finanzen, in der Verwaltung und in der Politik. Das palästinensische Volk hat das Recht darauf, dass der richtige Mann am richtigen Ort ist. Die richtigen und die qualifizierten Menschen müssen eine Chance bekommen. Wir haben die Fähigkeit, bestimmte Lücken zu füllen. Wir können viele Fehler beheben."
(Stand: 06.01.2005 15:47 Uhr)
Palästina
vor der Wahl:
Von Carsten Kühntopp, ARD-Hörfunkkorrespondent in Tel Aviv
[Bildunterschrift: Immer wieder sind Hamas-Mitglieder Ziel israelischer Angriffe]
Keine Frage: Die Hamas drängt es in das politische Machtzentrum. Nach Arafats
Tod ruft die etablierte Führung der Palästinenser um Machmud Abbas zur Einheit
auf, zu einer Rückkehr zu Recht und Ordnung und zu einem Ende der Gewalt gegen
Israel. Die unablässigen Armeeaktionen und Liquidierungen durch die Israelis
haben die Führung der Hamas deutlich geschwächt; auf der Straße ist die
Bewegung dennoch - oder gerade deswegen - populär geblieben.
Aus diesen vielfältigen Gründen überarbeitet die Hamas nun offenbar ihre politischen Positionen. Man hat Angst davor, im Regen stehen zu bleiben und will innenpolitisch den Anschluss nicht verpassen. Selbst diejenigen in der Hamas, die Terror nach wie vor für das richtige Mittel des Kampfes gegen die Besatzung halten, sind jetzt der Meinung, dass es Zeit ist, die Errungenschaften, die man gemacht hat, in konkreten politischen Gewinn umzumünzen.
[Bildunterschrift: Die radikale Hamas-Organisation feuert zurück]
Dazu gehört auch, dass die Hamas bereit zu sein scheint, Abbas an der Spitze
des palästinensischen Volkes eine Chance zu geben. "Das palästinensische
Volk wird sich entscheiden, und wir werden nichts unternehmen, was den
Wahlprozess beeinträchtigen würde", sagt Sami Abu-Zoheri,
der Hamas-Sprecher aus Gaza. "Abu Masens
Entscheidungen müssen sich auf ein neugewähltes
Parlament stützen, weil das jetzige Parlament seine Legitimität verloren hat,
und auf die PLO, die allerdings umstrukturiert werden muss."
Die Hamas ist offenbar sogar dazu bereit, Abu Masen eine Chance zu geben, ein Abkommen mit Israel auszuhandeln. Schließlich sei die Hamas ein Teil des palästinensischen Volkes und wolle sich verantwortungsbewusst verhalten - wie in einer Demokratie, meint Scheich Hassan Jussuf: "Wir glauben ausschließlich an den demokratischen Weg, an die Sprache der Kompromissbereitschaft und der Auseinandersetzung. Wir, die Söhne des palästinensischen Volkes, müssen über jede Angelegenheit diskutieren - in einer zivilisierten Sprache. Wir haben überhaupt kein Interesse daran, ein Chaos zu verursachen. Dies werden wir auch niemand anderem erlauben."
Sollte Abu Masen einen Kompromiss mit Israel aushandeln können, wäre die Hamas bereit, dies zu akzeptieren - unter der Voraussetzung, dass ein neugewähltes Parlament diesen Kompromiss billigt. Dies wäre im übrigen ein geschickter Weg für die radikalen Islamisten, sich von ihrer Maximalforderung zu verabschieden, der Forderung nach der Zerstörung Israels. Die Hamas würde stattdessen darauf hinweisen, dass eine Mehrheit der Palästinenser einen Kompromiss mit Israel akzeptiere, weswegen das eigene Ziel der völligen Zerschlagung des sogenannten "zionistischen Gebildes" auf Jahre oder gar Jahrzehnte nicht durchsetzbar sei.
Zugegeben: Dies ist erst der Anfang einer Entwicklung, und es handelt sich um eine Rechnung mit vielen Unbekannten; doch die deutlichen Botschaften, die die Hamas dieser Tage aussendet, machen Hoffnung auf eine grundlegende Umorientierung der Bewegung.
(Stand: 06.01.2005 14:57 Uhr) Quelle: www.tagesschau.de