Antifa-AG
der Uni Hannover:
Bisher
haben wir zur Einschätzung des jüngsten Libanon-Krieges und der Lage in
Palästina angesichts des israelischen Amoklaufes im Gaza-Streifen und in der
West Bank vor allem Interviews mit US-amerikanischen Analytikern und Strategen
gebracht. Das war nahe liegend und notwendig, weil die USA nach wie vor der
Leader des imperialistischen Lagers sind. Es ist allerdings nicht ausreichend,
da natürlich auch die anderen imperialistischen Mächte (wie Deutschland,
Frankreich, Großbritannien und Italien) ihre Interessen wahrzunehmen versuchen
und eigene Einschätzungen und Strategien entwickeln. Daher dokumentieren wir im
Folgenden den Beitrag von Professor Dr. Volker Perthes
zum Thema aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 26.8.2006.
Perthes ist Direktor der Stiftung Wissenschaft und
Politik (SPW) in Berlin. In den 70er und 80er Jahren war die SPW (http://www.swp-berlin.org/) die führende
Denkfabrik der deutschen Außenpolitik und auch wenn sie seitdem etwas an Einfluss
eingebüßt hat, zählt sie doch noch immer zu den führenden think
tanks des deutschen Imperialismus. Wäre dem nicht
so, hätte die „FAZ“ (www.faz.net) dem
folgenden Beitrag auch kaum soviel Raum und einen derart exponierten Platz auf
der letzten Seite ihres Politikteils gewährt, die traditionell Kommentaren und
Hintergrundanalysen des aktuellen politischen Zeitgeschehens gewidmet ist. Dass
wir Perthes politische Linie gar
nicht und seine Einschätzungen nur zum Teil teilen, sollte klar sein. Dennoch
lohnt es sich immer, die Ansichten der intelligentesten Vertreter der
Gegenseite zu kennen, zumal er auch mit einigen, in der so genannten „radikalen Linken“ sehr beliebten
Vorurteilen aufräumt (Stichwort: Existenzgefährdung Israels) und einen guten Überblick
sowie eine kritische Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen
Interpretationsansätzen dieses Krieges liefert.
Komplexe Konfrontationen
Deutungen des jüngsten Nahost-Krieges im Libanon
Von Professor Dr. Volker Perthes
Ereignisse wie der jüngste
Libanon-Krieg sind verschiedenen Deutungen unterworfen. Die
Konfrontationslinien und Ereignisse lassen sich in – mindestens – fünf
Analyserahmen einordnen, die unterschiedliche Aspekte hervortreten und
bestimmte Entscheidungen sinnvoll erscheinen lassen: der globale Krieg gegen
den Terror, islamischer Fundamentalismus gegen das moderne Israel,
asymmetrischer Krieg, schwache Staatlichkeit, nahöstlicher Machtkonflikt.
Vor allem der amerikanische
Präsident George W.Bush und viele seiner Mitstreiter
haben den Libanon-Krieg als lokale Ausprägung des globalen Krieges gegen den Terrorismus
wahrgenommen, den Amerika und seine Verbündeten zu führen haben. Freund und
Feind, Gut und Böse sind klar unterscheidbar; es gibt auch nur diese zwei
Lager: Israel kämpft im Nahen Osten den gleichen Krieg, den Amerika weltweit
führt; die libanesische Hizbullah und die Dschihadisten vom Schlage Al Qaidas
sind letztlich derselbe Feind. Die Unterstützung Israels bei dem Versuch, Hizbullah zu zerstören, ist aus amerikanischem nationalen Interesse geboten. Die Schwäche dieses Analyserahmens
liegt vor allem darin, dass er die notwendige Unterscheidung zwischen globalen Dschihadisten und nationalen Gruppen wie der Hizbullah und der palästinensischen Hamas verwischt. Letztere
haben eine lokale Agenda und eine soziale Basis, die konkrete Dienstleistungen
erwartet; sie können für realpolitische Kompromisse gewonnen werden. Darauf zu
verzichten, erschwert nicht nur die Bekämpfung des globalen Terrors, sondern
auch die Suche nach Stabilität und Lösungen im Nahen Osten.
Eine Reihe israelischer und
europäischer Politiker hat den von der Hizbullah
losgetretenen Libanon-Krieg als Krieg des radikalen Islam gegen das moderne
Israel verstanden. Schließlich sei es nicht um Territorium oder
Selbstbestimmung gegangen wie bei anderen nahöstlichen Kriegen; Hizbullah habe sich vielmehr mit der islamistischen
Hamas, die das Existenzrecht Israels ablehnt, verbündet, den Hass auf Israel
regional mobilisieren können und Israel existenziell schwächen wollen. Gelegentlich
wird dabei auch impliziert, dass Israel im Nahen Osten für die westliche
Moderne stehe und dass sich somit im Libanon-Krieg Elemente eines
Kulturkonflikts zwischen islamischem Fundamentalismus und westlicher
Zivilisation zeigen. Dieser Analyserahmen mag helfen zu erklären, warum etwa
ägyptische sunnitische Islamisten mit Fahnen der
schiitischen Hizbullah demonstrieren. Er bleibt
gleichwohl unzureichend, um die Ereignisse angemessen zu fassen: Er lässt etwa
übersehen, dass die von Hamas geführte Regierung in den palästinensischen Gebieten
keineswegs glücklich darüber war, wie Hizbullah
versucht hat, die palästinensische Seite zu instrumentalisieren, und er lässt
wichtige Konfliktlinien verschwinden. Die eigentliche Linie eines
Kulturkonfliktes, wenn man davon reden will, verläuft nicht zwischen „dem Westen“ und „dem Islam“, sondern quer durch die arabisch-muslimische
Zivilisation zwischen denjenigen, die ihre Länder und Gesellschaften in eine
globalisierte Welt integrieren, und jenen, die ebendas
verhindern wollen. Im übrigen weiß auch die Hizbullah, dass sie mit ihren Raketen die Existenz Israels
nicht gefährden kann. Die „Partei Gottes“
wollte offenbar eine begrenzte Konfrontation, begann aber tatsächlich einen
Krieg, der vor allem das Experiment eines unabhängigen, multikonfessionellen
und demokratischen Libanons gefährdete.
Viele haben darauf
hingewiesen, dass dieser asymmetrische Krieg zwischen einem hochgerüsteten
Staat und einer Guerillabewegung viele Erkenntnisse für zukünftige Konflikte
dieses Musters hergibt. Der Analyserahmen ist eng, macht aber deutlich, dass
man eine Guerillabewegung nicht besiegen kann, indem man die zivile
Infrastruktur zerstört. Vielmehr zeigt sich, dass eine solche Bewegung schon
einen Sieg proklamieren kann, wenn sie lang genug dem starken staatlichen Gegner
standhält; deutlich wird auch die hohe Bedeutung des „Krieges der Bilder“ im Zeitalter medialer Globalisierung. Der
Analyserahmen zeigt auch, dass in einem solchen Krieg nicht nur die
Guerillabewegung, von der dies ohnehin kaum erwartet wird, sich nicht an das
humanitäre Völkerrecht hält, sondern auch die beteiligten staatlichen Akteure
dazu tendieren, diese Regeln zu ignorieren.
Wer als Analyserahmen das
Konzept „schwache Staaten“ benutzt,
richtet den Blick auf die Risiken, die eine Schwächung staatlicher
Institutionen in der arabischen Welt mit sich bringt. Die Führungen einiger
arabischer Staaten wurden durch die Sympathie, die Hizbullahführer
Nasrallah über Grenzen hinweg auf sich ziehen konnte, politisch herausgefordert.
Nun sind nichtstaatliche Akteure, die Krieg führen, im
Nahen Osten keine neue Erscheinung. In der Regel haben sie Krieg geführt, um,
wie die PLO, einen eigenen Staat durchzusetzen. Anders im Libanon-Krieg: Die Hizbullah fordert keinen eigenen Staat; sie ist als Partei
im libanesischen Parlament und mit zwei Ministern auch in der Regierung vertreten.
Gleichwohl hat sie sich angemaßt, einem Nachbarstaat den Krieg zu erklären. Im
Ergebnis entstand eine Konfrontation, bei der Hizbullah
Krieg gegen Israel führte, Israel gegen den Libanon und der libanesische Staat
nur noch international um Hilfe und eine Beendigung der Kämpfe bitten konnte. Der Blick auf den Libanon sollte nicht verschleiern,
dass auch andere Staaten in der Region gefährdet sind. In den palästinensischen
Gebieten erleben wir einen Staatszerfall ohne Staat; im Irak kann die
Staatsgewalt sich nicht einmal in der Hauptstadt gegen Milizen, Verbrecherbanden
und Terrororganisationen durchsetzen. Gleichzeitig wachsen in der gesamten
Region konfessionelle Spannungen, vor allem zwischen Sunniten und Schiiten. Wo
staatliche Institutionen durch Korruption, schlechte Regierung und Despotismus
entwertet sind, steigt die Bindekraft ethno-nationalistischer
oder konfessionalistischer Identitäten. Wer an einer Stabilisierung der Region interessiert
ist, muss darüber nachdenken, wie die staatlichen Institutionen wieder gestärkt
werden können: in erster Linie in den palästinensischen Gebieten und im
Libanon. Nur wenn die Bürger erleben, dass der Staat die grundlegenden
öffentlichen Güter – Sicherheit, Wohlfahrt, Wiederaufbau – zur Verfügung
stellt, werden sie sich auch an staatlicher Politik und nicht an
konfessionellen oder tribalen Gemeinschaften und
Parteien orientieren.
Schließlich lässt sich der
Libanon-Krieg als eine weitere Episode der ungelösten arabisch-israelischen
Konflikte um Macht, Territorium, Souveränität und Ressourcen betrachten. Diese
Sichtweise der Dinge nimmt in erster Linie die Interessen der beteiligten
Staaten ins Visier. Sie kann erklären, warum Israel in Sorge um den Erhalt
seiner Abschreckungsfähigkeit so unverhältnismäßig auf die Kommandoaktion der Hizbullah reagiert hat oder warum Syrien, international
isoliert und mit wenig Hoffnung auf neue Friedensverhandlungen, durch die sich
der israelisch besetzte Golan zurückgewinnen ließe, so demonstrativ die Hizbullah unterstützt und den Waffenstillstand als Sieg des
„Widerstandes“ gegen Israel gefeiert
hat. Dieser Analyserahmen bleibt der wichtigste für internationale Akteure, die
nach haltbaren diplomatischen Lösungen suchen. Wir wissen, dass ein vom
Sicherheitsrat angeordneter Waffenstillstand und eine internationale
Friedenstruppe, so wichtig sie sind, keinen dauerhaften Ausgleich und damit
auch keine dauerhafte Stabilität bringen. Beides lässt sich nur erreichen, wenn
man die realen, legitimen Interessen der beteiligten Staaten und Quasi-Staaten
berücksichtigt. Die grundlegenden legitimen Interessen (wir sprechen nicht von
illegitimen, zu denen die Vernichtung oder Beherrschung eines Nachbarn gehören
würden) schließen sich nicht einmal aus. Etwas simplifiziert lassen sie sich
wie folgt charakterisieren: Israel verlangt in erster Linie nach Sicherheit;
die Palästinenser wollen einen Staat; der Libanon will seine Souveränität
bewahren; Syrien will den besetzten Golan zurückgewinnen.
Die wichtigsten Akteure der
internationalen Gemeinschaft würden gut daran tun, sich um neue Verhandlungen
zwischen Israel und den drei Nachbarn zu bemühen, mit denen es noch keine Friedensverträge
gibt – sinnvollerweise wohl in Form einer Konferenz
nach dem Modell von Madrid 1991. Wenn die internationale Gemeinschaft, allen
voran Amerika und die EU, sich nicht um eine umfassende Konfliktregelung im Nahen
Osten bemüht, dürfte dies jenen Kräften in der arabisch-muslimischen Welt
Auftrieb geben, die die Dinge ohnehin ganz anders einordnen: als
unverhandelbare Konflikte, in denen dem westlichen Imperialismus nur mittels
eines islamischen Widerstandes entgegenzutreten ist.
Vorbemerkung
und Kursivsetzungen: Antifa-AG der Uni
Hannover