Antifa-AG der Uni Hannover:
Nach dem
spektakulären und erfolgreichen Angriff palästinensischer Guerillakämpfer der Komitees
des Volkswiderstandes (PRC), der Ezzedin Al-Qassam (des bewaffneten Arms der Hamas) und der bislang
unbekannten „Armee Allahs“ auf den israelischen Militärposten Kerem Shalom Ende Juni an der
Grenze zum Gaza-Streifen wird viel über Spaltungen innerhalb der regierenden
Islamischen Widerstandsbewegung (Hamas) spekuliert. Wobei die Hamas in
Hardliner (der militärische Flügel und die Auslandsführung unter dem in Syrien
lebenden Politbürochef Mashaal) und Pragmatiker (der
Großteil der Inlands-Hamas unter Führung von
Ministerpräsident Haniyeh) unterteilt wird. Die linke
italienische Tageszeitung „il manifesto“ brachte am 27.6.2006 dazu ein Interview mit dem in Bethlehem lebenden
palästinensischen Politologieprofessor und Meinungsforscher Nabil
Kokali.
Interview:
„Die
Mäßigung der Führung mobilisiert die jüngeren islamistischen
Jahrgänge“
Die Waffenruhe als Verrat. Dem
Politologen Kokali zufolge hat Haniyehs
Wende die Radikalen dazu veranlasst eine von den Chefs unabhängige Linie zu
verfolgen.
MICHELE GIORGIO – Jerusalem
Das Bekenntnis zu dem von
einem palästinensischen Kommando in Kerem Shalom durchgeführten Überraschungsangriff hat Spaltungen
innerhalb der Hamas sichtbar werden lassen. Die Beteiligung von Männern der Ezzedin Al-Qassam (dem
bewaffneten Arm der Bewegung) scheint darauf hinzuweisen, dass nicht alle islamischen
Aktivisten die, erst vor wenigen Tagen von Ministerpräsident Ismail Haniyeh bekräftigte, Linie der Einhaltung der Waffenruhe
mit Israel unterstützen. Die internationale Isolation, in der die Bewegung
gehalten wird seit sie die Wahlen gewonnen hat, und die Unmöglichkeit Haniyehs, aufgrund der Streichung der internationalen
Finanzhilfen, zu regieren, sind die Ursache für einen zunehmenden Gärungsprozess
unter den jüngeren Aktivisten. Darüber sprachen wir mit Professor Nabil Kokali, einem Politologen
und Leiter des Palästinensischen Zentrums für Öffentliche Meinung <Palestinian
Center for Public Opinion -
PCPO>.
Wir können nicht ausschließen, dass die Hamas-Führer
über die Vorbereitungen für den Angriff in Kerem Shalom auf dem Laufenden waren. Es ist allerdings weit
verbreitete Meinung, dass sie (angefangen bei Ministerpräsident Haniyeh) davon überrascht wurden.
„Auch ich bin dieser Ansicht.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die bewaffnete Aktion in Kerem
Shalom von Aktivisten organisiert wurde, die aus der
Hamas ausgetreten sind, weil sie von der moderaten Wende enttäuscht sind, die
die islamische Bewegung vollzogen hat. Der Angriff fand im übrigen statt als Haniyeh mit den heiklen Verhandlungen mit dem Präsidenten <der Autonomiebehörde> Abu Mazen zur Festlegung
der nationalen politischen Plattform beschäftigt war, die auch die implizite
Anerkennung Israels einschließen sollte – einem Thema, das im Zentrum der
Debatte nicht nur zwischen Hamas und Al-Fatah (der
Partei von Abu Mazen) steht, sondern auch innerhalb
der islamischen Bewegung selbst. Wir stehen vor einem Bruch zwischen
denjenigen, die das schwierige aber bedeutende politische Experiment, das Hamas
und Andere durchführen, fortsetzen möchten und Anderen, die angesichts eines Israels,
das beschlossen hat, die von Hamas vollzogene Wende nicht zur Kenntnis zu nehmen
und angesichts der internationalen Obstruktionspolitik die Rückkehr zum
bewaffneten Kampf fordern. Die Option des politischen Weges als Alternative zum
militärischen hat nicht alle zufrieden gestellt. Die von der Hamas über ein
Jahr lang eingehaltene Waffenruhe erscheint nicht wenigen Militanten als ein ‚Verrat’ und könnte die Radikaleren dazu
veranlasst haben, sich für eine von der Führungsgruppe unabhängige Linie zu entscheiden.“
Die israelischen Analytiker tendieren dazu die These
eines Konfliktes zu bevorzugen, der zwischen den islamischen Führern in Gaza
und denen im Exil stattfindet. Die israelische Tageszeitung „Ha’aretz“
schrieb, dass die Blitzaktion von Kerem Shalom vom Chef des Hamas-Politbüros, Khaled Mashaal, (der zwischen Damaskus und Doha
lebt und als ein „Unbeugsamer“
betrachtet wird) gefördert worden sein könnte. Was meinen Sie zu dieser These?
„Sie überzeugt mich nicht. Die Differenzen
zwischen den weicheren Positionen von Haniyeh und den
unversöhnlicheren von Mashaal existieren, sind
allerdings von den Medien überbetont worden. Die Entscheidung eine einseitige
Waffenruhe gegenüber Israel zu erklären wurde im vergangenen Jahr von Haniyeh, Mashaal und allen
anderen Mitgliedern der obersten Führungsebene getroffen und nicht nur von
denjenigen in den Besetzten Gebieten. Mashaal hat
sich in jüngster Zeit nie für ein Ende der Waffenruhe ausgesprochen und das
trotz der israelischen Militäroperationen, die in Gaza zu Dutzenden von Toten
geführt haben (darunter zahlreiche Zivilisten). Die Hamas hat immer Geschlossenheit
und Entschlossenheit gezeigt, auch in den schwierigsten Momenten ihrer Geschichte.
Politik und Gesellschaft befinden sich allerdings in ständiger Evolution und
die in den 18 Jahren der Opposition gezeigte Geschlossenheit zeigt nun, wo die
islamische Bewegung an die Regierung gekommen ist, einige Risse.“
Soll das heißen, dass die Macht die Hamas
verschleißt?
„Hamas genoss vor einigen
Monaten in Gaza und in Cisjordanien eine sehr viel
breitere Unterstützung, die es ihr erlaubte die Macht zu erringen. Jetzt gibt
es Enttäuschung unter den Leuten. Alle wissen, dass die Verantwortung für den
internationalen Boykott nicht den islamischen Führern angelastet werden kann. Aber
nicht wenige Palästinenser werfen der Hamas vor, nicht in der Lage gewesen zu
sein das Embargo zu durchbrechen und die internationale Anerkennung zu
erreichen. Deshalb befinden wir uns in einer neuen Phase, in der sogar eine so
organisierte und disziplinierte Bewegung wie die Hamas anfängt Mühe zu haben
ihre verschiedenen Strömungen <wörtlich: Seelen> zu
kontrollieren.“
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG
der Uni Hannover