Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Der Austritt des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon aus dem von ihm geführten rechten Likud-Block und die Gründung einer eigenen Partei mit Namen „Nationale Verantwortung“ hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Die linke italienische Tageszeitung „il manifesto vom 22.11.2005 brachte dazu ein Interview mit Baruch Kimmerling, der zu den schärfsten Kritikern Sharons und seiner Politik zählt. Kimmerling ist Professor für Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem und Gastprofessor an der Universität Toronto (Kanada). Er wurde 1939 in Rumänien geboren, kam 1952 nach Israel und schreibt neben seiner wissenschaftlichen und Lehrtätigkeit regelmäßig für die linksliberale israelische Tageszeitung „Ha’aretz“, aber auch für die in London erscheinende „New Left Review“. Politisch bezeichnet er sich selbst als „israelischer Patriot“, kritisiert die bis vor wenigen Tagen mitregierende Avoda (Arbeitspartei), die linkssozialdemokratische Meretz und die Peace Now-Bewegung jedoch entschieden von links. Was Sharons bisher letzten Schachzug anbelangt, folgte dieser übrigens kurz nach dem Interview Kimmerlings Vorschlag, seine Partei „Forza Sharon“ (Vorwärts Sharon) zu nennen, zumindest insoweit als Sharons Parlamentsfraktion nun „Kadima“ (Vorwärts) heißt.

Baruch Kimmerlings jüngstes Buch ist unter dem Titel „Politizid – Ariel Sharons Krieg gegen das palästinensische Volk“ auch in deutscher Sprache erhältlich (Diederichs-Verlag, München 2003, 224 Seiten, 19,95 Euro). Mehr zur Person Baruch Kimmerling gibt es auf seiner englischsprachigen Homepage unter: http://pluto.huji.ac.il/~mskimmer/

 

INTERVIEW:

 

Neue Szenarien. Und gefährliche…

 

Baruch Kimmerling: Nach Sharons Wende

 

MICHELANGELO COCCO – Jerusalem

 

Baruch Kimmerling ist einer der unermüdlichsten Widersacher von Sharon. Autor des Buches Politizid – Sharon und die Palästinenser“. Kimmerling ist Professor für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem, wo er eine Vorlesung über den arabisch-israelischen Konflikt hält. Wir sprachen mit ihm über die letzte „Metamorphose“ des Ministerpräsidenten.

 

Welches Ziel versucht Sharon mit der Bildung der neuen Partei Nationale Verantwortung zu erreichen?

 

„Ich glaube, dass sein Problem weniger ein präzises Ziel war als die Tatsache, dass er keine Wahl hatte: Im Likud zu bleiben, war, mit der halben Partei (der von Netanyahu geführten Fraktion; Anm.d.Red) gegen ihn, nicht mehr möglich. Durch die Schaffung einer neuen politischen Formation hofft er mehr Sitze als die Arbeitspartei (Avoda) und die in der Mitte angesiedelte Shinui zu erreichen. Viel wird aber vom Verteidigungsminister Shaul Mofaz abhängen. Wenn er den Ministerpräsidenten begleitet, wird der Likud wirklich Stimmen und Sitze verlieren. In jedem Fall ist das Vorgehen des Premiers eine große Wette und ich glaube nicht an die Umfragen, die ihm zwischen 30 und 35 Sitze geben. Ich rechne eher mit 18 bis 20 Sitzen.“

 

Und der Name: Nationale Verantwortung ?

 

„Er hätte sie Forza Sharon (Vorwärts Sharon) nennen sollen. Genau wie Berlusconis Partei wird sie eine hauptsächlich auf dem Charisma ihres Anführers (leaders) basierende Organisation sein. Kurz gesagt: eine persönliche Partei. Sharon ist der erfahrenste Politiker der Welt. Ich hasse ihn, aber ich erkenne seine Fähigkeiten an und weiß, dass er ein sehr gefährlicher Mann ist.“

 

<Der führende Linkszionist> Yossi Beilin bezeichnete die Formierung der neuen Gruppe als „eine große Gelegenheit für den Frieden“…

 

„Er täte besser daran, Sharon zu attackieren als Werbung für ihn zu machen. Die Wahrheit ist, dass seine Partei (der Meretz) sich in einer schlechten Position befindet, weil plötzlich zuviel Wahlkampfangebot entstanden ist.“

 

Welche politischen Szenarien eröffnen sich jetzt ?

                                                                 

„Vor allem wird es ein Wahlkampf Aller gegen Alle werden, mit Tiefschlägen und Giftspritzereien. Theoretisch müssten sich die Rechte und die Linke etwas mehr differenzieren, mit einer etwas rechteren Rechten und einer linkeren Linken (hin zu den Meretz-Positionen) und mit einem Sharon, der versucht, den politischen Raum der Shinui zu besetzen.“

 

Ist ein Ausgleich in Sicht ?

 

„Ich sehe ein großes Chaos voraus, dem wenige substanzielle Veränderungen folgen. Das was da beginnt, ist eine sehr heikle Periode. Sharon ist zu einem Krieg bereit, nur um der Rechten Parlamentssitze abzunehmen. Er kann die Palästinenser angreifen, das iranische Kernkraftwerk in Isfahan oder aber Syrien. Er hat immer drei oder vier von diesen verdeckten Plänen in der Schublade. Nach der Auflösung der Knesset verfügt er über uneingeschränkte Vollmachten. Man muss sich einen Diktator vorstellen, der zu allem bereit ist, um Netanyahu Stimmen abzujagen. Ein derartiger Angriff könnte sich jedoch als Boomerang erweisen. Ariel ist immer ein großer Taktiker gewesen, aber niemals ein guter Stratege.“

 

Wird er im Falle eines Wahlsieges mit der Räumung weiterer Kolonien in Cisjordanien fortfahren ?

 

„Ja, er wird einige weitere von den weit östlich der Grünen Linie errichteten auflösen. Aber was die großen Siedlungsblöcke Male’eh Adumim, Modi’in Illit, Ariel und andere anbelangt, wird er nicht einmal darüber reden. Die würde auch <der neue Chef der Arbeitspartei / Avoda> Peretz nicht infrage stellen. Sharon ist, mit der Mauer und den Siedlungsblöcken daran interessiert, die Staatsgrenze de facto von der 1967er Grenze weg nach Osten zu verschieben.“

 

Würde ihm die israelische Gesellschaft nach dem Rückzug aus Gaza folgen ?

 

„Es existiert keine israelische Gesellschaft. Man sagt, dass 10 Juden immer 11 verschiedene Meinungen haben. Es gibt über nichts einen allgemeinen Konsens. Jedenfalls wären nur jene ungefähr 15% der Bevölkerung, die das biblische Israel (vom Nil bis zum Euphrat) im Sinn haben, durch die Idee eines weiteren Teilrückzuges traumatisiert.“

 

Stellen die neuen Avoda-Leute von Amir Peretz eine Hoffnung für den Frieden mit den Palästinensern dar ?

 

„Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Man wird abwarten müssen, wie die Aschkenasim <d.h. die aus Mittel- und Osteuropa stammenden Juden> auf den Aufstieg eines sephardischen <d.h. iberisch-orientalischen> Parteiführers reagieren. In jedem Fall ist es Peretz jedoch gelungen, den Sephardim wieder zu Selbstbewusstsein zu geben und es wird sehr interessant sein zu sehen, wie viele von ihnen für ihn stimmen, nachdem der ehemalige <Avoda-> Ministerpräsident Barak sie isoliert und der <ultra-orthodoxen> Shas-Partei sowie dem Likud überlassen hatte. Was die Palästinenser anbelangt, war Peretz sehr zweideutig. Kaum als neuer Parteichef nominiert, sprach er sich für die Genfer Initiative aus (sofortiger Frieden, allerdings mit einer Reihe von ungelösten Problemen, darunter den Flüchtlingen). Nun spricht er von Oslo, also von der Rückkehr zu endlosen Verhandlungen ohne klare Ziele. Seine Kühnheit wird von dem Kredit abhängen, den er in Form von Wählerstimmen erhält.“

 

 

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:

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