Antifa-AG der Uni Hannover:
Am 14.März 2006 griffen israelische
Elitetruppen mit Unterstützung von Panzern, Militär-Bulldozern und
Kampfhubschraubern das palästinensische Gefängnis von Jericho an. Dabei wurden
vier Palästinenser getötet (zwei Polizisten und zwei Gefangene). Ziel dieser
neuerlichen Kostprobe des israelischen Staatsterrorismus war das Kidnapping von
5 dort gefangen gehaltenen Mitgliedern der marxistischen Volksfront für die
Befreiung Palästinas (PFLP), inklusive ihres Generalsekretärs und frisch
gewählten Parlamentsabgeordneten Ahmed Saadat, sowie des ehemaligen
hochrangigen Fatah-Funktionär Fuad Shubaki, deren Freilassung durch die
neue palästinensische Regierung befürchtet wurde. Shubaki wird von der
israelischen Besatzungsmacht vorgeworfen, für einen 2002 vereitelten, „illegalen“
Importversuch von Panzerabwehrraketen, Gewehren und Munition für die Palästinensische
Autonomiebehörde verantwortlich zu sein. Insbesondere die Panzerabwehrraketen
hätten die Bewegungsfreiheit der israelischen Kampfpanzer unangenehm
eingeschränkt. Den PFLP-Genossen wird die Tötung des Führers der israelischen
Rechtsradikalen, des Ex-Generals und Ex-Tourismusministers Rechawam Seewi
am 17.Oktober 2001 zur Last gelegt. Wobei dem PFLP-Generalsekretär und
ehemaligen Mathematiklehrer Saadat in dieser Sache nie der Prozess gemacht
wurde und der Oberste Palästinensische Gerichtshof seine Inhaftierung als
illegal bezeichnet und zweimal seine Freilassung angeordnet hatte, was Israel
im Einvernehmen mit den USA und GB erfolgreich verhinderte.
Der Gründer und Führer der Moledet
(Vaterlands)-Partei Seevi wurde als Vergeltung für die gezielte Ermordung des
PFLP-Generalsekretärs Abu Ali Mustafa getötet, der am 27.August 2001
während legaler politischer Arbeit in seinem Büro in Ramallah von zwei israelische
Luft-Boden-Raketen buchstäblich zerrissen wurde. Seewis politische Maxime
lautete im übrigen: „Die jüdische Lehre ist
rassistisch und das ist gut."
(„Süddeutsche Zeitung“ 27.10.2001, S. 14)
Zur Situation nach der Verschleppung von Ahmed Saadat und Genossen befragte die Partei der Arbeit Belgiens (PTB) die PFLP-Abgeordnete Khaleda Jarrar und veröffentlichte ihre Stellungnahme am 24.3.2006 auf der Website www.ptb.be
Palästina • Interview mit der
PFLP-Abgeordneten Khaleda Jarrar
Khaleda Jarrar glaubt, daß die Vereinigten Staaten
und Großbritannien eine große Verantwortung für die Gefangennahme von Ahmed
Saadat tragen. Sie ruft auch zu einer
Demokratisierung der PLO auf.
Julien Versteegh 24-03-2006
Wie ist Ihre Meinung zu
dem, was er sich kürzlich in Jericho ereignet hat und zur Gefangennahme Ahmed
Saadats durch Israel?
(Zur Erinnerung: die
israelische Armee griff <am 14.3.2006> das
Gefängnis von Jéricho an, in dem der PFLP-Führer festgehalten wurde.)
Khaleda Jarrar: „Das ist eine
direkte Konsequenz der neuen Situation, die durch das Ergebnis der
palästinischen Wahlen und den Sieg der Hamas entstanden ist und eine direkte
Folge der israelischen Besatzung, die mit zunehmender Beschlagnahmung von Boden,
dem Bau der Mauer usw. fortgesetzt wird.
Warum jetzt? Weil Hamas bis jetzt jede Verhandlung mit
Israel ablehnt. Im Namen der Bekämpfung des Terrorismus lehnt Israel jeden
Kompromiss mit der Hamas ab und will Druck auf die neue palästinische Regierung
ausüben. Zugleich ist es eine Folge der
Abkommen, die die Inhaftierung Ahmed Saadats unter ausländischer Verantwortung
erlaubt hatte. Er wurde das erste Mal durch die palästinische Autonomiebehörde
gefangen genommen und das zweite Mal durch die Israelis. Es ist eine direkte Konsequenz
der Tatsache, dass die palästinensische Autonomiebehörde diese Art von Abkommen
akzeptiert. Natürlich tragen die
Vereinigten Staaten und England einen erheblichen Teil der Verantwortung. Aber
es fällt ebenfalls in die Verantwortung der palästinischen Autonomiebehörde, die
diese Abkommen akzeptiert und danach nichts getan hat, um ihn zu schützen. Warum
hat die palästinische Autonomiebehörde z.B. die Entscheidung des Obersten Palästinischen
Gerichtshofes nicht umgesetzt, der die Freilassung von Ahmed Sadaat verfügt
hatte.
Die palästinische
Autonomiebehörde hat am 8.März 2006 einen Brief der amerikanischen und der
britischen Botschaft erhalten, der Mahmud Abbas darüber informiert, dass die
palästinische Autonomiebehörde <nach Ansicht GB’s und der USA> die Abkommen nicht respektierte, indem sie Ahmed Saadat erlaube,
Besuche zu empfangen und im Gefängnis zu telefonieren. Infolgedessen kündigten
die Vereinigten Staaten und England den Rückzug ihrer Soldaten an, die mit der
Überwachung des Gefängnisses betraut waren.
Ich werde im palästinischen
Parlament eine Anfrage an den Innenminister bezüglich der Verantwortung der
Autonomiebehörde einbringen, damit Licht in diese Angelegenheit kommt. Wir
verlangen außerdem eine internationale Untersuchung dieser Angelegenheit.“
Die palästinische
Autonomiebehörde sagt, dass die Inhaftierung Ahmed Saadat seine Sicherheit
garantiere. Wie denken Sie darüber?
Khaleda Jarrar: „Unter der
Besatzung kann man diese Art von Abkommen nicht abschließen. Man kann keine
Leute zu ihrer Sicherheit inhaftieren. Das ist unter der Besatzung unmöglich
und die jüngsten Ereignisse sind ein Beleg dessen. Das Leben der Leute zu schützen,
bedeutet vor allem, die Besatzung zu bekämpfen und einen internationalen Schutz
zu verlangen.“
Denken Sie, dass der
Angriff auf das Gefängnisses im Zusammenhang mit den anstehenden israelischen
Wahlen erklärt werden kann?
Khaleda Jarrar: „Das hat
nichts mit den anstehenden israelischen Wahlen zu tun. Das hat etwas mit den palästinischen Wahlen
zu tun. Im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus lehnt Israel jeden
Kompromiss mit der Hamas ab und will Druck auf die neue palästinische Regierung
ausüben. Außerdem wollen die Vereinigten Staaten die palästinische
Autonomiebehörde und die Position von Mahmud Abbas (Fatah) innerhalb der neuen
Hamas-Regierung schwächen.“
Wie sieht die aktuelle
Position der PFLP nach der Gefangennahme von Ahmed Saadat aus? Ändert die etwas?
Khaleda Jarrar: „Das Fehlen
von Ahmed Saadat wiegt selbstverständlich schwer. Er befand sich allerdings
bereits vor seiner Gefangennahme seit vier Jahren im Gefängnis. Unsere
Grundposition bleibt dieselbe.
Auf internationaler
Ebene:
Auf innenpolitischer
Ebene:
Sie haben wiederholt über
internationalen Schutz gesprochen? Was
verstehen Sie darunter? Verlangen Sie
die Entsendung von Blauhelmen?
Khaleda Jarrar: „Ganz sicher
nicht. Es geht darum, Beobachter zu haben, die die zahlreichen Verletzungen der
Abkommen durch Israel dokumentieren. Das können wir natürlich auch selbst
machen.
Wir erleben die Besatzung
jeden Tag. Wir, die Palästinenser sind es, die ihre legitimen und international
anerkannten Rechte verteidigen. Wir verlangen, dass die internationale
Gemeinschaft unser Recht auf Selbstbestimmung und auf Beendigung der Besatzung endlich
anerkennt und das auch umsetzt. Dass die Gemeinschaft aufhört, im Namen der
Sicherheit von Israel Druck auf uns auszuüben und stattdessen im Namen unserer
Sicherheit Druck auf Israel ausübt.
Bei der Verurteilung des
israelischen Mauerbaus durch den Internationalen Gerichtshof war der Hauptpunkt
dieses Urteils, dass es die Tatsache der Besatzung anerkannte. Wenn das einmal
anerkannt ist, gibt uns dies das legitime Recht, Widerstand zu leisten.
Die Forderung nach einem
internationalen Schutz bedeutet, dass man die internationale Gemeinschaft dazu
auffordert, konkret gegen die Besatzung vorzugehen, denn das ergibt sich aus
der internationalen Verantwortung solange die Besatzung andauert.“
Sie sprechen davon, die Palästinensische
Befreiungsorganisation (PLO) zu reformieren.
Was verstehen Sie konkret darunter?
Khaleda Jarrar: „Es geht vor
allem darum, den Wahlprozess fortzusetzen, um zu einer Neuwahl des
Palästinischen Nationalrats (CNP) zu kommen, der wirklich alle Palästinenser
vertritt, innerhalb und außerhalb der Besetzten Gebiete. Der CNP ist das einzige
echte Parlament. Der Palästinische Gesetzgebende Rat (CLP), der kürzlich
gewählt wurde, vertritt die Palästinenser, die unter der Besatzung in
Cisjordanien und in Gaza leben, nicht aber die Palästinenser der Diaspora. Gleichzeitig geht es darum, dem Politischen
Rat der PLO durch diese Wahlen eine aktivere Rolle zu geben. Wenn man diesen
Prozess nicht einleitet, vernachlässigt man die Hauptfrage des palästinischen
Problems: die Flüchtlingsfrage und die Frage des Rückkehrrechtes dieser
Flüchtlinge, die in Cisjordanien oder in Gaza, aber auch im Libanon, in Syrien
und in Jordanien leben.“
Seit der Sache in Jericho
haben einige Führer der Fatah, d.h. der Partei des Präsidenten Mahmud Abbas,
die Debatte um die Auflösung der palästinischen Autonomiebehörde begonnen? Wie denken
Sie darüber?
Khaleda Jarrar: „Ich hoffte,
dass sie das tun würden und zwar vor dem Sieg der Hamas. Man muss die Regeln
von Autonomiebehörde ändern. Die palästinische Autonomiebehörde muss vor allem
unter der Kontrolle der PLO stehen. Die Autonomiebehörde muss wirklich dem Volke
dienen und ihm dabei helfen der Besatzung die Stirn zu bieten, ihm soziale
Dienste anbieten und jedes Abkommen mit Israel ablehnen. Die Autonomiebehörde muss
dem Volk helfen, soziale Gerechtigkeit durchzusetzen und ihm wirtschaftliche
Chancen eröffnen. Natürlich geht es nicht um wirtschaftliche Freiheit, solange
man unter der Besatzung lebt, aber man kann über Bekämpfung der Korruption,
über die Kontrolle des Privatsektors und über eine gemischte Wirtschaft
sprechen. Außerdem muss man das politische System ändern. Die Autonomiebehörde
darf kein Monopol eines Führers oder einer Partei mehr sein, sondern muss eine
vereinte und effektive Führung besitzen, um der Führung der Autonomiebehörde
wieder einen echten nationalistischen Charakter zu verleihen und mit dem
bürgerlichen Individualismus zu brechen, der heute vorherrscht.“
Wie sehen Sie die Rolle der
Vereinigten Staaten und Europas im Mittleren Osten?
Khaleda Jarrar: „Die
Vereinigten Staaten beherrschen den Mittleren Osten nicht nur wirtschaftlich,
sondern praktizieren eine regelrechte militärische Besatzung des Mittleren
Ostens. Und diese Besatzung dient nur ihren eigenen Interessen. Die Vereinigten
Staaten kontrollieren und lenken die europäische Politik. Ich hoffe, dass Europa eines Tages eine andere Haltung einnehmen
kann, aber im Augenblick ist das nicht der Fall. Die Vereinigten Staaten haben
ihre eigene wirtschaftliche Agenda: die Schaffung eines freien Marktes und die
Kontrolle unserer Bodenschätze. Gleichzeitig haben sie politische Interessen:
unsere Bevölkerungen zu Sklaven ihrer Interessen zu machen. Sie attackieren
Syrien und den Libanon, denn sie wollen dort ‚US-demokratische’ Regimes
installieren. Wenn diese Länder im Gegensatz zu ihren Interessen stehen, werden
sie als nicht demokratisch betrachtet. Das ist Imperialismus wie er leibt und
lebt. Europa spielt dieselbe Rolle wie die Vereinigten Staaten. In der Praxis
ist es dieselbe Politik, selbst wenn sich einige Details unterscheiden. Wenn Europa nicht am Krieg in Irak
teilgenommen hat, so lag das nicht an humanitärer Besorgnis, sondern am innenpolitischen
Druck der Massen.“
Einige Palästinenser bedauern,
daß Ahmed Saadat sich ergeben hat und hätten es vorgezogen, ihn als Märtyrer
sterben zu sehen, um die palästinische öffentliche Meinung zu verstärken...
Khaleda Jarrar: „Es handelt
sich nicht hier um eine Kapitulation, sondern um eine Gefangennahme. Er hat
abgelehnt, sich auf israelische Anweisung hin auszuziehen. Er hat abgelehnt,
seine Hände hinter den Kopf zu legen und er lehnt es ab, ihre Fragen zu
beantworten. Er wurde gefangen genommen und hat es abgelehnt, sich zu ergeben,
bis alles um ihn herum zerstört war. Er hatte keine Waffen. Was hätte er tun
sollen? Sich einfach töten lassen? Es handelt sich um eine Gefangennahme und um
eine Entführung.“
Was kann man in Europa tun,
um die Befreiung von Ahmed Saadat zu unterstützen?
Khaleda Jarrar: „Jede Art von
Unterstützung, von Demonstrationen, von Sammlungen ist willkommen. <Die
Gefangenenhilfsorganisation>
Addammeer wird demnächst eine große Kampagne für ihn starten, eine Kampagne,
die Sie / Ihr unterstützen könnt. Am 17. April 2006 ist der Tag der Gefangenen.
Alle internationalen Organisationen werden aufgefordert, an diesem Tag Demonstrationen
durchzuführen und mit diesen insbesondere vor die britischen und amerikanischen
Botschaften zu ziehen.“
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen
Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover