Antifa-AG
der Uni Hannover:
Allen Beobachtern ist klar, dass der schon einen Monat
dauernde Libanon-Krieg, den Israel nach der Gefangennahme zweier seiner
Soldaten entsprechend lange vorbereiteten Plänen geführt hat, um die Hisbollah
zu zerschlagen oder entscheidend zu schwächen und in der ehemaligen “Schweiz
des Mittleren Ostens” eine pro-imperialistische Marionettenregierung zu
installieren (wie u.a. Uri Avnery
zutreffend festgestellt hat) erhebliche Auswirkungen auf die Region und darüberhinaus haben wird – insbesondere da es der Atommacht
Israel mit seiner hochgerüsteten Armee, trotz des bekannt skrupellosen
Vorgehens nicht gelungen ist ihr Ziel auch nur annähernd zu erreichen. Was
werden also die Konsequenzen sein? Diese Frage versucht der führende
libanesische Politologe Karam Karam
in dem folgenden Interview für die von Rifondazione Comunista (PRC) herausgegebene italienische Tageszeitung “Liberazione” vom 30.7.2006 zu
beantworten. Wir halten seine Einschätzungen (die sich in einigen Punkten
deutlich von den nebenstehenden Amr Hamzawys unterscheiden) für einen weiteren interessanten
Beitrag zur notwendigen Erarbeitung einer linken und antiimperialistischen
Analyse der neuen Lage im Mittleren Osten, auch wenn wir in zentralen Punkten
durchaus nicht seiner Meinung sind und seinen Klassenstandpunkt ebenso wie
seine durchscheinende neoliberale Ausrichtung nicht teilen. Im Gegenteil, der
Reiz dieses Interviews liegt für uns u.a. darin, dass
sich mit Karam Karam ein
Vordenker der libanesischen Bourgeoisie äußert. Deren Interesse liegt nicht
zuletzt in einer nachhaltigen Schwächung der Hisbollah als wichtiger
Stützpfeiler auch des anti-neoliberalen Lagers im Libanon. Das heißt nicht nur
als bedeutendes Hindernis für die geostrategischen Pläne des Imperialismus in
der Region, sondern auch als bedeutendes Hindernis für die Durchsetzung einer
neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik im Libanon.
Wenn wir die Auswahl der Interviewpartner zum Libanon und die
gestellten Fragen betrachten, können wir uns allerdings des Verdachts nicht
erwehren, dass die Tageszeitung der neuen Regierungspartei der G8-Macht
Italien, Rifondazione “Comunista”,
in den bei Karam (und anderen interviewten
Kapitalstrategen) zum Ausdruck kommenden Klasseninteressen kein Problem sieht.
Interview mit dem Experten für die libanesische Innenpolitik, Karam Karam
“Beiruts Souveränität wird aus dieser Krise gestärkt hervorgehen”
Ein Libanon,
der (angesichts einer Partei Gottes, die sich hingegen in einem der Augenblicke
größter, jemals erlebter Fragilität befindet) aus der gegenwärtigen Krise
gestärkt hervorgeht. Karam Karam,
Politologe am Lebanese Center for Policy Studies
(LCPS – http://www.lcps-lebanon.org/web04/english/index.html)
in Beirut bewegt sich außerhalb des Chores der arabischen Analytiker. Karam Karam beschäftigt sich seit
langem mit Demokratisierung und politischer Mobilisierung in seinem Land und
ist gegenwärtig Leiter eines Forschungsprojektes über die politischen Parteien
in der Region. Die von ihm geäußerte ist eine entschieden optimistische
Sichtweise der Ereignisse der letzten Wochen.
Wie kann man – nach einer Krise von dieser Tragweite – von einer Stärkung des politischen Apparates des Libanons sprechen?
“Wenn man
sich die Geschichte des Libanon der letzten 15 Jahre anschaut, kann man meine
Analyse vielleicht besser verstehen. Der Libanon war niemals ein souveränes
Land. Lange Zeit haben Viele sogar daran gezweifelt, dass er ein Staat ist und
ihn nur als einen komplizierten Marasmus <allgemeiner körperlich-geistiger Verfall> verschiedener Ethnien
und Religionen geshen, aus dem niemals etwas werden
könne. In Wahrheit wurden von 1990 bis heute eine Reihe grundlegender Etappen
zur Definition eines souveränen Staates zurückgelegt. Seit dem Abkommen mit den
Vereinigten Staaten 1996 bis zum (durchaus nicht absehbaren) Rückzug Israels
von unserem Territorium im Jahr 2000. Wenn sich die Lage militärisch beruhigt –
und davon kann man vernünftigerweise ausgehen – glaube ich, dass Beirut endlich
die Gelegenheit haben wird eine der letzten Etappen in Richtung einer stabilen
Verfassung zu absolvieren.”
Wie
könnte es aus einem Krieg gestärkt hervorgehen?
“Selbstverständlich
ist der Diskurs komplex. Wirtschaftlich wird es ein Desaster sein. Die
Schwierigkeiten, in denen sich das Land vor den Angriffen befand, sind bekannt.
Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung standen in einem Programm, dass die
Wirtschaft wieder ankurbeln sollte, auf der Tagesordnung. Politisch hat der
Krieg den Libanon allerdings vor eine endgültige Entscheidung gestellt: Er muss
das Hisbollah-Problem ein für allemal lösen und die Regierung muss zu einer
wirklichen Einheit finden.”
Haben Sie den Eindruck, dass sich das Hisbollah-Problem auf dem Weg zu einer Lösung befindet?
“Das von
der Regierung Donnerstagnacht einstimmig gebilligte Abkommen zeigt, dass sich
innerhalb der libanesischen Exekutive etwas bewegt.”
Sie sprechen von dem so genannten Plan des Ministerpräsidenten Siniora, der auf dem Gipfeltreffen in Rom vorgelegt wurde?
“ Exakt.
Alle Minister haben ihn unterzeichnet. Die entscheidenden Punkte sind wichtig.
Der Plan sieht die Herbeiführung einer sofortigen Waffenruhe vor, die durch
eine Reihe von Verpflichtungen unterstützt wird. Erstens der
Gefangenenaustausch über das Internationale Komitee des Roten Kreuzes und die
Rückkehr der evakuierten Personen in ihre Wohnungen. Sodann würde sich der
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verpflichten das Gebiet der Shebaa-Höfe, das Beirut als libanesisch betrachtet und
daher von den Israelis okkupiert ist, unter seine Rechtssprechung zu stellen.
Israel würde sich verpflichten dem Libanon die Karten der, dort nach dem
Rückzug seiner Armee 2000 zurückgelassenen, Minenfelder im Süden des Landes
auszuhändigen. Desweiteren würde sich der
libanesische Staat verpflichten seine Autorität auf das gesamte Territorium
auszudehnen und eigene Truppen zu stationieren. Die UNO-Mission im Libanon
würde gestärkt und der Umfang ihrer Aktivitäten erhöht, sodass sie zu den
humanitären und Hilfsaktionen beitragen kann. Die UNO würde sich verpflichten
das 1949 zwischen Israel und dem Libanon abgeschlossene
Waffenstillstandsabkommen umzusetzen und die internationale Gemeinschaft würde
sich verpflichten beim Wiederaufbau des Libanon zu helfen. Schließlich sollte
das Abkommen von Ta’if aus dem Jahr 1990 umgesetzt
werden, das, da es von einer Entwaffnung aller Milizen spricht, indirekt auch
von einer Entwaffnung der Hisbollah spricht.”
Warum
meinen Sie, dass die Hisbollah einen derartigen Vorschlag akzeptiert?
“Weil sie
nicht anders kann. Die Hisbollah weiß sehr gut, dass ihre Stärke heute mit der
Tatsache verbunden ist, dass sie sich selbst zum Paladin nationaler Forderungen
aufgeschwungen hat. Wenn diese Forderungen allerdings ihren Sinn verlieren
würden, würde auch die Partei Gottes an Stärke verlieren. Heute unterstützen
70% der libanesischen Bevölkerung <laut
einer in der angesehenen US-Zeitung “Christian Science Monitor”
referierten Umfrage sogar 80%!> die Hisbollah, weil die Hisbollah das Ende der Feindseligkeiten,
die Rückgabe der Territorien und die Freilassung der Gefangenen will, die seit
Jahren in den Gefängnissen Tel Avivs sitzen. Wenn diese Forderungen erst einmal
erfüllt sind, weiß ich nicht warum die Leute im Libanon die Hisbollah noch in
der Palästinenserfrage oder in der Unterstützung des Iran oder Syriens den
Rücken stärken sollten. Die panarabische Rhetorik ist Rhetorik und die
Hisbollah muss ihre eigene politische Positionierung finden.”
Mit diesem Abkommen würde die Hisbollah akzeptieren die Shebaa-Höfe unter UNO-Rechtsprechung zu stellen? Bislang war eines der erklärten Ziele des bewaffneten Kampfes der Bewegung gerade die Befreiung dieses an der Grenze zwischen Syrien, dem Libanon und Israel gelegenen, 45 Quadratkilometer großen Gebietes...
“Ja. Dieser
Schachzug stellt zweifellos ein bedeutendes neues Element dar. Übrigens hat
Israel die Entsendung internationaler Truppen akzeptiert, um eine Pufferzone
schaffen zu können, die ihm militärisch zweifellos nützen würde. Die Hisbollah
muss also reagieren und politisch kann sie nichts anderes als den Kompromiss
mit der libanesischen Regierung zu akzeptieren – der auch ihre Entwaffnung
vorsieht. Denken wir daran, dass sich die Hisbollah vor Beginn dieser Krise
nicht in einer starken Position befand. Sie hatte <zusammen mit der libanesischen KP, den linken,
sunnitischen Nasseristen, der größten Christenpartei
FPM von Michel Aoun und dem Gewerkschaftsbund
CGTL>
Demonstrationen gegen die Regierungspolitik organisiert <an denen bis zu 250.000 Menschen teilnahmen!>, um zu zeigen, dass sie noch etwas
zählt. Offensichtlich hoffte sie aus der Eskalation der Gewalt Vorteile zu
ziehen, hat sich allerdings verrechnet. Die Partei Gottes hatte keine so harte
israelische Reaktion erwartet.”
Sie sagen, dass sich die Hisbollah in einer ihrer schwierigsten Perioden befindet. Auch vom militärischen Standpunkt aus?
“Man muss
Unterschiede machen. Die Hisbollah befindet sich in politischen
Schwierigkeiten, aber Israel muss begreifen, dass sie sie auf dem Schlachtfeld
nicht zerstören kann. Heute (gestern; Anm.d.Red.)
erst wurden 50 Raketen neuer Bauart auf das israelische Territorium
abgeschossen. Ich habe nicht den Eindruck, dass das eine militärische Schwäche
zeigt. Jenseits der offiziellen Erklärungen glaube ich, dass auch Tel Aviv das
weiß. Ich glaube es sieht ein, dass der Weg um die Bewegung an den Rand zu
drängen, ein anderer ist. Und der verläuft über eine Neudefinition des
libanesischen Staates. Also über einen Sieg der Staatsräson. Ich weiß, dass ich
als zu optimistisch erscheinen kann, aber ich davon überzeugt: Nur ein starker
Libanon kann eine Frage lösen, die der internationalen Gemeinschaft so am
Herzen liegt wie die Entwaffnung der Hisbollah und sogar ihre Absorbierung in
die nationale Armee. Das bedeutet, dass die vielfältige und zersplitterte
politische Welt Beiruts zu einer Geschlossenheit finden muss, um so der alten
Situation, in der die Regierung die Geisel von allen war, zu beenden, weil man
bei jeder Entscheidung immer auf das Veto der entgegen gesetzten Fraktion
warten konnte.”
Wie
lautet Ihre Prognose in zeitlicher Hinsicht?
“Ich denke,
dass wir in einer Woche eine sehr viel klarere Situation haben werden. Wenn die
israelische militärische Lösung auf dem Schlachtfeld nicht funktioniert
– was ich glaube – dann könnte die Lösung des Siniora-Planes
als eine realistische Möglichkeit angesehen werden. Ohne Zweifel wäre die Idee
einer UNO-Truppe, die die Kontrolle über das Gebiet der Shebaa-Höfe
übernimmt, eine Möglichkeit, die sich breiter Zustimmung erfreut. Wenn ich mich
hingegen irren sollte und Israel die Oberhand gewänne, dann würden der Libanon,
die Hisbollah und die internen Kräfteverhältnisse keinen mehr interessieren.
Dann würde das reine Chaos herrschen. Ich hoffe nur, dass die Vereinigten
Staaten in einer solchen Situation nicht zuviele
Fehler begehen.”
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen
Klammern:
Antifa-AG der
Uni Hannover