Antifa-AG der Uni Hannover:

Der nachfolgende Beitrag zur Kandidatur des (derzeit in Israel inhaftierten) Fatah-Linken Marwan Barghuti bei der Wahl des Präsidenten der palästinensischen Autonomiebehörde am 9.Januar 2004 liefert eine recht umfassende Darstellung der Hintergründe dieser Entscheidung, die für die Demokratisierung der Fatah und der palästinensischen Institutionen sowie den zukünftigen möglichen Verhandlungsprozess mit Israel (und die Bereitschaft darin die legitimen Forderungen der Palästinenser zu verteidigen und durchzusetzen) von ganz erheblicher Bedeutung ist. Wir entnahmen den Artikel der Internetversion der „Neue Zürcher Zeitung“ (www.nzz.ch) „NZZ Online“ vom 3.12.2004.

Kampfansage an die alte Garde der Fatah

Der Intifada-Führer Barghuti tritt gegen Mahmud Abbas an

Der Intifada-Führer Marwan Barghuti hat mit einer Kampfkandidatur Spannung in die Wahl eines Vorsitzenden der palästinensischen Autonomiebehörde gebracht. Die alte Garde der Fatah-Führung befürchtet die Abspaltung der jungen Aktivisten. Insgesamt sind zehn Kandidaten, unter ihnen sieben unabhängige, im Rennen.

vk. Limassol, 2. Dezember

Der Intifada-Führer Marwan Barghuti hat sich, wie bereits gemeldet, zu einer Kandidatur bei der Wahl eines Vorsitzenden der palästinensischen Autonomiebehörde entschlossen und damit der alten Garde der Fatah-Führung den Kampf angesagt. Seine Gattin, die als Anwältin in seinem Auftrag handelt, registrierte ihn am Mittwochabend offiziell bei der Wahlbehörde in Ramallah, wenige Stunden vor Ablauf der dafür gesetzten Frist. Barghuti tritt als unabhängiger Bewerber auf. Noch Ende letzter Woche hatte er unter dem Druck der Fatah-Führung eine Kandidatur ausgeschlossen. Deshalb brach der Sprecher der Fatah- Bewegung, Tayib Abderrahim, in der Nacht auf den Donnerstag in eine Standpauke aus: Barghutis Kandidatur sei unverantwortlich, leichtsinnig und grenze an politischen Aberwitz. Barghuti habe seine Zugehörigkeit zur Fatah-Bewegung aufgegeben.

«Druck der Anhängerschaft»

Barghutis Gattin erklärte, ihr Mann habe nur dem grossen Druck seiner Anhängerschaft nachgegeben. Hunderte von jungen Aktivisten und Kadern der Fatah hätten in Schreiben ihre Sympathie bekundet. Marwan Barghuti widme seine Kandidatur der Demokratie, der nationalen Sache der Palästinenser, der Kontinuität im Sinne Arafats, der Fortführung der Intifada und dem Widerstand gegen die israelische Besetzung. Barghuti ist der Sekretär des Fatah-Tanzim im Westjordanland. Die Israeli hielten ihn auch für den Leiter der Aksa-Brigaden, des bewaffneten Arms der Fatah. Er war als Auftraggeber von Angriffen und Terroranschlägen zur Verbüssung einer fünffachen lebenslänglichen Haftstrafe in einem israelischen Gefängnis verurteilt worden.

Barghuti gilt unter Palästinensern als einer der wenigen Intifada-Führer mit einem klaren politischen Profil. Als Strategie des Widerstands formulierte er die Beschränkung der bewaffneten Angriffe auf die besetzten Gebiete; Gewalt gegen israelische Zivilisten innerhalb der international anerkannten Grenzen Israels von 1948 lehnte er ab. Doch identifizierte er in den besetzten Gebieten explizit israelische Soldaten und auch jüdische Siedler als legitime Ziele. Das israelische Gericht beschuldigte ihn - gestützt auf Aussagen von Häftlingen, Dokumente aus Arafats Mukataa und israelisches Geheimdienstmaterial -, er habe auch Fatah-Terroristen innerhalb Israels gewähren lassen. Barghuti selber beanspruchte vor Gericht einen Status als politischer Führer.

Nach Ablauf des Termins befinden sich nun nach Angaben der Wahlbehörde insgesamt zehn Präsidentschaftskandidaten im Rennen, die drei Favoriten sind der neue PLO-Chef Mahmud Abbas, der Intifada-Führer Marwan Barghuti sowie der Arzt und Politiker Mustafa Barghuti, ein ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei <die nun als Palästinensische Volkspartei – PPP – firmiert> und ein Vetter Marwans. Zu den weiteren Bewerbern zählen die Journalistin Majda al-Batsh aus Jerusalem, der Interimspräsident des Legislativrats, Hassan Khreisheh, Taysir Khaled von der Demokratischen Front <DFLP> und der islamistisch angehauchte Politologe Abdessattar Kasim aus Nablus. Die Hamas hat am Mittwoch erneut zum Boykott aufgerufen, und die Volksfront <PFLP> verzichtet auf eine Kandidatur. Dank Marwans Teilnahme ist eine echte Kampfwahl zu erwarten; er hat den Fatah-Bonzen ihr Vorhaben einer Bestätigungswahl für den Konsenskandidaten Abbas verdorben. Kenner aus Ramallah erklären, in Meinungsumfragen, die vor Marwans Kandidatur durchgeführt worden seien, hätten die beiden gewaltlosen Politiker Mustafa Barghuti und Mahmud Abbas fast gleich gut abgeschnitten. Deshalb sei Marwan schliesslich doch in den Ring gestiegen, um seine klaren Erfolgschancen auszuschöpfen und die Präsidentschaft in den Reihen der wehrhaften Fatah zu halten. Falls er tatsächlich gegen Abbas gewinnt, so bedeutet das eine doppelte Palastrevolution in der Fatah-Bewegung: die der jungen Militanten gegen die alte Garde der Bürokraten und die der Aktivisten aus den besetzten Gebieten gegen die «Tunesier-Mafia», die Arafat seinerzeit 1994 aus dem Exil mitgebracht hatte.

Symbolfigur der palästinensischen Lage

Barghuti, der Häftling in Israel, müsste zwar mit einer ähnlichen Boykottierung durch Ministerpräsident Sharon und Präsident Bush rechnen wie zuvor schon Arafat; doch das liesse sich durch ein Verhandlungsmandat an einen gemässigten Regierungschef umgehen. Umgekehrt wäre Barghuti das treffendste Symbol für die Lage der Palästinenser nach dem Zusammenbruch des Oslo-Friedensprozesses. Vielleicht böte sich die Gelegenheit, überhaupt aus der Zwangsjacke der Strategie vom Frieden auf Raten auszubrechen. Darüber hinaus mag man auf einen entscheidenden Eingriff der Amerikaner zugunsten eines souveränen, lebensfähigen Palästinenserstaats hoffen.

Doch wer auf die Entwicklung seit der Erklärung von Oslo zurückblickt, hat wenig Anlass zu Optimismus. Die Israeli bogen den Verhandlungsprozess mit Amerikas Duldung unaufhaltsam um in eine Prozedur, bei der sie weitgehend allein über das Ausmass der Zugeständnisse an die Palästinenser bestimmten. Bereits im Anhang des Hebron-Abkommens von 1997 sicherte der amerikanische Aussenminister Christopher dem damaligen Ministerpräsidenten Netanyahu zu, Israel könne unilateral das Ausmass der Territorien festlegen, welche es der Autonomiebehörde abtreten wolle. Als schliesslich Arafat im Jahr 2000 Ministerpräsident Baraks Angebot in Camp David zurückwies (welches nur rund 80 Prozent von Cisjordanien umfasste, aufgeteilt in vier separate Kantone), schob Israel ihm die volle Verantwortung für den Misserfolg des Brückenschlags zu. Der amerikanische Präsident und Schutzherr Clinton schloss sich dem an. Israel seinerseits hatte - in einem klaren Verstoss gegen das vertragliche Verbot einseitiger Massnahmen zur Präjudizierung des Endresultats - die Zahl der jüdischen Siedler zwischen 1994 und 2001 von rund 120 000 auf 200 000 erhöht. Nach dem 11. September 2001 gab Präsident Bush Sharon freie Hand im Zeichen des Anti-Terror-Kriegs. Im Frühling 2002 eroberte die israelische Armee die Autonomiegebiete in Cisjordanien wieder und setzte Arafat unter Hausarrest in seinem Amtssitz. Als Nachfolger in dieser Situation wäre der Gefangene Marwan Barghuti zweifellos gut genug.

 

 

Ergänzende Einfügungen in eckigen Klammern:  Antifa-AG der Uni Hannover