Antifa-AG der Uni Hannover:

Die von Anfang der 60er bis Anfang der 70er Jahre in Uruguay aktive Nationale Befreiungsbewegung – Tupamaros (MLN-T) war eine der stärksten Stadtguerillabewegungen in der Geschichte und eine der revolutionären Kräfte, die auch in der westeuropäischen Linken starke politische Wirkung hinterließen. Sie genossen auch nach ihrer weitgehenden Zerschlagung durch die Militärdiktatur ein hohes Ansehen in der uruguayischen Linken und den sozialen Bewegungen. Was nach der Wiedereinführung der bürgerlichen Demokratie 1985 ihre Neugründung der Organisation als revolutionäre linke Partei ermöglichte und ihnen in der Folge eine Reihe von Wahlerfolgen bescherte. Mittlerweile gehört sie als Teil des mitte-linken Frente Amplio (Breite Front) der Regierung Vazquez an. Der Wahlsieg der Frente Amplio am 31.Oktober 2004 ist Teil des Linksrutsches, der in Lateinamerika zu beobachten ist. Doch ein Blick hinter die Kulissen zeigt, dass beileibe nicht alles Gold ist, was glänzt. Ganz im Gegenteil, die Bilanz der „Links-Regierung“ in Uruguay fällt mehr als erschreckend aus und die Tupamaros driften heftig mit in Richtung (neoliberale) „Realpolitik“. Den „historischen“ Tupamaro-Aktivisten Jorge Zabalza veranlasste dieser Trend bereits vor einiger Zeit zur Trennung von der Organisation, der er seit Mitte der 60er Jahre angehört hatte. Die „Lateinamerika-Nachrichten“ brachten in der Nummer 378 vom Dezember 2005 ein sehr interessantes Interview mit ihm, das auch jetzt noch nichts an Aussagekraft eingebüßt hat. Wir entnahmen es ihrer Website http://www.lateinamerikanachrichten.de/  die auch über ein umfangreiches Archiv verfügt.

Uruguay:

„Die Frente Amplio müsste auf die Bevölkerung hören“

Der Tupamaro Jorge Zabalza übt heftige Kritik an der neuen uruguayischen Regierung

Mitte der 60er Jahre schloss sich Jorge Zabalza der Stadtguerilla Tupamaros an. Zweimal wurde er verhaftet, zweimal gelang ihm die Flucht, bis er 1973 zum dritten Mal verhaftet wurde und bis zum Ende der Diktatur 1985 im Gefängnis blieb. Insgesamt verbrachte er 16 Jahre in Haft. Nach dem Ende der Militärdiktatur nahm er an der Neuorganisation der Tupamaros teil: Die nationale Befreiungsbewegung Tupamaros (MLN) wurde zu einer legalen Organisation, und nahm als Teil des Linksbündnisses Frente Amplio (FA) an Wahlen teil. Im Laufe der 90er Jahre trennte sich Tambero, wie Zabalza von vielen Freunden genannt wird, schrittweise von der Organisation und bezieht bis heute immer wieder öffentlich Position gegen Entscheidungen und Entwicklungen der FA, die seit März dieses Jahres die Regierung in Uruguay stellt. Im Gespräch mit den „Lateinamerika Nachrichten“ spricht er über die bisherige Regierungspolitik und über Veränderungen innerhalb der MLN, die ihn schließlich zur Abkehr von den Tupamaros bewegten.

 

Was bedeutet der Wahlsieg der Frente Amplio für Uruguay?

“Am 31. Oktober 2004, dem Tag des Wahlsiegs der Frente Amplio, feierte eine Million Menschen überschwänglich auf den Straßen von Montevideo und überall im Land – bei einer Bevölkerungszahl von etwas mehr als drei Millionen Einwohnern in Uruguay. Die Menschen gingen auf die Straße, um ihre Freude auszudrücken, Freude über die Zurückweisung der alten bürgerlichen Parteien, die am Militärputsch teilgenommen und bis heute die Militärs in Schutz genommen haben, und Freude über die Absage an das Wirtschaftsmodell des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die Hoffnung war groß, dass jetzt der Wahlkampfslogan „für ein produktives Land“ in die Realität umgesetzt werden würde. Im Zentrum des Projekts der neuen progressiven Regierung steht das Vorhaben, den produktiven Apparat Uruguays zu reaktivieren. Die Menschen verstehen darunter: mehr Arbeit, bessere Löhne, Erhöhung der Renten. Die Regierung der Frente bedeutet für die Bevölkerung genau diese Perspektive.“

Haben sich die Erwartungen an die neue Regierung knapp ein Jahr nach ihrem Wahlsieg bestätigt?

“In Wirklichkeit war die Frente in ihren Äußerungen zu den Themen Wirtschaft oder Menschenrechte schon vor den Wahlen sehr gemäßigt – und nominierte Danilo Astori als Wirtschafts- und Finanzminister, weil er das Vertrauen der internationalen Finanzorganisationen in Washington besitzt. Die erste politische Aktion der Frente Amplio war dann, Verhandlungen mit dem IWF über die Verträge zu beginnen, die die Regierung Battle mit ihm ausgehandelt hatte. Vor einiger Zeit noch verlangte die Frente in ihrem Progamm ein Moratorium für die Auslandsschulden. Astori hat jetzt einfach die Zahlungsbedingungen des IWF akzeptiert, ohne diese überhaupt neu zu verhandeln. Die Wirtschaftspolitik der Frente liegt auf derselben Linie wie die der Vorgängerregierung.
Ich denke nicht, dass darüber der Glaube und das Vertrauen der Wähler in ihre Führung, also in Astori, Tabaré Vázquez oder Pepe Mujica, bricht. Die Leute sagen sich: Es sind ja erst sieben Monate seit der Regierungsübernahme vergangen, sie werden schon noch was ändern. Aber wenn man die einzelnen Schritte der Regierung genauer verfolgt hat, dann erkennt man, dass sie unumkehrbar sind.“

Die Regierung sagt immer, dass sie nicht von bereits unterzeichneten Verträgen zurücktreten könne.

“Könnte sie wohl – wenn sie die Bevölkerung mobilisieren würde, von der sie schließlich gewählt worden ist. Nehmen wir als Beispiel Hugo Chávez: Mit einer politisierten und mobilisierten Bevölkerung im Rücken hat er seine Positionen Stück für Stück radikalisiert. Die Führungsspitze der uruguayischen Linken ist den umgekehrten Weg gegangen: Statt sich an die Spitze der mobilisierten Bevölkerung zu stellen, nimmt sie diese Unterstützung nicht ernst und meint stattdessen, dass sich die Stärke der Regierung aus dem Kontakt und den Übereinkünften mit der besitzenden Klasse, den internationalen Finanzorganisationen und den Militärs ergebe.“

Pepe Mujica ist der mit den meisten Stimmen gewählte Politiker und ist heute Landwirtschaftsminister. Die Tupamaros sind die stärkste Fraktion der Frente Amplio. Sie entstanden in den 60er Jahren aus der Forderung einer Landreform heraus. Ist das heute ein Thema für die Regierung?

“Die Tupamaros begannen unter Raúl Sendic mit der Besetzung von Großgrundbesitz, um mit den Landarbeitern eine Kooperative zu gründen. „Der Boden gehört denen, die ihn bearbeiten“, war unsere Forderung. Als wir 1985 aus dem Gefängnis kamen, war gerade Raúl in dieser Hinsicht sehr konsequent und gründete eine Bewegung zum Kampf um Landbesitz für die Landarbeiter, die sich gegen den Großgrundbesitz richtete. Mujica hat zum Thema Agrarreform bloß gesagt, es handele sich hierbei um ein intellektuelles Problem.“

Von der Frente gibt es dazu also keinen Vorschlag?

“Gar nichts. Als in Salto 30 Familien der Landlosenbewegung MST (Movimiento Sin Tierra) forderten, ihnen unbebautes Staatsland zu übergeben, meinte Mujica nur, ob sie denn ganz blöde seien. Es gibt ein staatliches Institut, das formal die Aufgabe hat, Land zu übereignen, dieser aber in keiner Weise nachgeht. Raúl Sendic hatte damals vorgeschlagen, Großgrundbesitzer, die Schulden bei der staatlichen Bank haben, dazu zu verpflichten, Land abzugeben, wenn sie ihre Schulden nicht bezahlen. Dieses Land sollten dann die Landarbeiter bekommen. Das Thema wurde nie aufgegriffen und heute wird darüber nicht mehr geredet. Wie aber soll die Reaktivierung des landwirtschaftlichen Produktionsapparats funktionieren, wenn dazu nicht die Struktur des Großgrundbesitzes diskutiert wird? Uruguays Petroleum ist grün, sein Reichtum ist die Erde. So bleibt das Schlagwort vom produktiven Uruguay nur Demagogie, ein Werbeslogan.“

Du warst lange Zeit führendes Mitglied der Tupamaros. Schon vor einigen Jahren hast du aber begonnen, andere Auffassungen öffentlich zu äußern, und dich schließlich von der Organisation getrennt. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

“Als Organisation haben wir immer, auch nach 1985, versucht, eine revolutionäre Perspektive zu behalten. Der Kampf der Ideen innerhalb der Frente, die Diskussionen in unseren eigenen Versammlungen, waren für uns stets mit dem Ziel einer revolutionären Umwälzung verknüpft. Dafür haben wir gearbeitet. Nicht zur Verteidigung der Institutionen der bürgerlichen Demokratie, sondern um die uruguayische Bevölkerung zu stärken.
Aber dann gab es 1994 die Möglichkeit, als Abgeordnete auf parlamentarischer Ebene Politik zu machen. Und da tauchte auch die Idee auf, dass es möglich sei, revolutionäre Kraft über Wahlen zu akkumulieren. In der Realität wurde es dann sehr schwierig, diese Möglichkeit umzusetzen. Jedenfalls kann man nach meiner persönlichen Erfahrung von einem Parlamentssitz aus oder in einer Wahlkampagne, deren Ziel es ist, Stimmen zu sammeln und nicht Bewusstsein zu entwickeln, keine revolutionäre Option stärken.
Auf diesem Weg sind die Tupamaros jetzt an eine Grenze gelangt. Jeder von ihnen ist bei jedem Schritt weitere politische Verpflichtungen mit sozialen Schichten eingegangen, die wir eigentlich nicht in Betracht gezogen hatten. Mujica hat Abkommen mit der Vereinigung der Landbesitzer abgeschlossen. Ñato (gemeint ist der langjährige Tupamaro-Führungskader Fernando Huidobro; Anm. der Red.) hat gefährliche Beziehungen zu Sektoren der Militärs, speziell zu der Logia der Tenientes Artigas, die den Militärputsch 1973 organisiert hatten. Diese Beziehungen bedeuten Verpflichtungen. Ein Schritt zieht dabei den nächsten nach sich. So war es zum Beispiel möglich, dass das Militärmanöver UNITA mit den USA genehmigt wurde. Die Zustimmung zu diesen Manövern folgt der Entsendung von Truppen nach Haiti. Während der Regierungszeit von Batlle war die Frente Amplio gegen die Teilnahme an den UNITA-Manövern, jetzt ist sie dafür.“

Die neue uruguayische Regierung hat außerdem militärische und polizeiliche Beförderungen ausgesprochen, die sehr überrascht haben.

“Einige Schritte der Regierung segnen die Straflosigkeit ab. So wurden mehrere Polizisten befördert, die wegen ihrer Teilnahme an dem Massaker von Jacinto Vera (dort wurden 1995 bei einer großen Mobilisierung gegen die Auslieferung von vier Basken nach Spanien zwei Demonstranten erschossen; Anm. der Red.) verurteilt worden sind und ein weiterer aus Colonia, der wegen Folterungen angezeigt ist. Der jetzige Leiter des Gefängniswesens war 1972 an der Erschießung von acht Kommunisten beteiligt und war Einsatzleiter in Jacinto Vera. Es wurden Militärs befördert, die wegen Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur bekannt sind. Zum Beispiel leitete der jetzt zum General ernannte Dalmao Kasernen, in denen wir während unserer Haft gefoltert wurden. Auch der neue Koordinator der Geheimdienste ist ein bekannter Folterer und in jüngster Zeit ging sein Name wegen Korruption durch die Presse. Ebenso ist der neue Leiter der Kommission zur technischen Zusammenarbeit zwischen Uruguay und Argentinien am Río de la Plata als Folterer bekannt. Das alles stärkt die Militärs in ihrem Gefühl der Straflosigkeit.“

Gibt es Anklagen wegen Folterungen?

“Bis heute wurde kein einziger Militär wegen seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor oder während der Militärdiktatur angeklagt. Uruguay ist ein Paradies der Straflosigkeit. Pinochet kann darauf nur neidisch sein. Es gibt auch keine Verfahren gegen zivile Personen, die vor oder während der Militärdiktatur Menschen verschwinden ließen. Die uruguayische Justiz betrachtet das Verschwindenlassen von Personen bis heute als Mord, der nach 30 Jahren verjährt – im Gegensatz zu den Beschlüssen des Interamerikanischen Gerichtshofes, dem die uruguayische Justiz unterworfen ist. Alle Untersuchungen werden zu den Akten gelegt.“

Was macht die Regierung in Bezug auf die Verschwundenen?

“Am Anfang wurden große Hoffnungen geweckt. Direkt nach der Amtsübernahme ordnete Vázquez an, dass die Gelände um einige Kasernen auf der Suche nach den Resten von Verschwundenen durchforstet werden sollten. Allerdings auf der Basis von Informationen, die die Militärs selbst gegeben hatten. Heute wissen wir, dass das alles Falschinformationen waren. Vázquez hätte damit vorsichtiger umgehen müssen. Es war offensichtlich, dass die Militärs logen und überhaupt kein Interesse daran hatten, die Regierung zu stärken.
Ein weiteres Beispiel ist der jetzige Kommandeur der Luftwaffe Bonelli. Er hat öffentlich zugegeben, dass er Kopilot bei einem der Todesflüge war, mit denen Gefangene aus dem Folterlager Orletti in Buenos Aires nach Uruguay gebracht wurden und die danach verschwanden. Tabaré hat Bonelli nicht abgesetzt, er ist weiterhin Chef der Luftwaffe.
So wird ein Klima geschaffen, in dem die Regierung dem Druck der Militärs beim Thema Straflosigkeit nachgibt. Wenn man all das zusammenfasst, also erstens, dass das Wirtschaftsmodell des IWF beibehalten wird, zweitens Aufträge des Pentagons übernommen und drittens klare Signale für die Aufrechterhaltung der Straflosigkeit gegeben werden, dann kann man sagen, dass diese Regierung nicht einmal sozialdemokratisch, sondern einfach eine Fortsetzung der vorausgegangenen ist.“


Interview: Margrit Schiller