Antifa-AG der Uni Hannover:
Wir haben bereits bei
verschiedenen Gelegenheiten darauf hingewiesen, dass die palästinensische politische
Landschaft heftig in Bewegung geraten ist. Der Ansehens- und Vertrauensverlust
der Fatah und die tiefe Spaltung zwischen der „alten Garde“ um den Präsidenten
der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas (alias „Abu Mazen“),
und der „jungen Generation“ um den in Israel inhaftierten (eher linken) Marwan Barghuti und den
US-freundlichen Gaza-Warlord, Mohammed Dahlan sind dafür ebenso ein Beleg wie der Pragmatismus und
die Integrationsbereitschaft der Hamas sowie ihre relative Offenheit für Verhandlungen
mit Israel (den Chef der Auslandsführung Khaled Masha’al
einmal ausgenommen), die bis zu seiner Anerkennung in den Grenzen von 1967
reichen. Aber auch die internen Auseinandersetzungen zwischen der liberaleren
Hamas der West Bank und der eher „fundamentalistischen“ Hamas Gaza sowie der Iran-nahen Auslandsführung in Damaskus, die Übernahme der
alten, intransigenten Hamas-Linie durch den stärker gewordenen (wenn auch noch
deutlich kleineren) Islamischen Dschihad,
Achtungserfolge für den aus der ehemaligen palästinensischen KP (d.h. der heutigen
Volkspartei PPP) hervorgegangenen Arzt und „Zivilgesellschafter“ Mustafa Barghuti sowie eine lang andauernde und auch durch den
möglichen Zufluss frustrierter Fatah-Wähler, die ihrer Partei einen „Denkzettel“
verpassen wollen, nicht überwundene Krise der traditionellen laizistischen
Linksparteien PPP, DFLP und FIDA demonstrieren dies.
Im Vorfeld der am
25.Januar 2006 anstehenden Parlamentswahlen der palästinensischen
Autonomiebehörde gibt es nun einen weiteren spektakulären Beleg für diese Tatsache:
In Bethlehem und Ramallah wurden die
Spitzenkandidaten der marxistischen Volksfront für die Befreiung Palästinas
(PFLP) mit den Stimmen der Hamas gegen die bisher regierende Fatah in ihren
Städten zu Bürgermeistern gewählt. In Ramallah (dem
Sitz der Autonomiebehörde!) wurde dabei mit der Christin Janet Michael obendrein
die erste palästinensische Bürgermeisterin gewählt. In dem folgenden
Kurzinterview für die linke italienische Tageszeitung „il manifesto“ vom 31.12.2005 erläutert Janet Michael ihre Position.
Alle die diese taktische
Allianz von PFLP und Hamas für „völlig daneben“ oder gar für einen neuerlichen
Beweis der Richtigkeit der Totalitarismustheorie („das Zusammenwirken der
Extremisten von rechts und links“) halten, seien daran erinnert, dass sich
zeitgleich eine Mehrheit der Israelis für Verhandlungen ihrer Regierung mit der
Hamas ausgesprochen hat (siehe nebenstehenden Artikel). Und sie seien auf die
Erkenntnis der bürgerlich-liberalen „Süddeutschen Zeitung“ vom 13.1.2006
verwiesen, die im Gegensatz zum Großteil der hiesigen „Linken“ längst gemerkt
hat: „Im Falle eines Wahlerfolgs werden auch die hartleibigsten Islamisten neuen Pragmatismus an den Tag legen. Ihr
Wahlprogramm fällt schon vergleichsweise milde aus. (…) Was sich aber kaum
ändern wird, sind die Grundpositionen der Hamas: Die Jerusalemfrage oder die
israelische Anerkennung der Grenzen von 1967 als Minimalgrundlage eines Palästinenserstaats.
Aber da sind in bester nahöstlicher Manier auch die Israelis unerbittlich.“
Auch der wahnhafteste
Antideutsche wird im Eintreten der Hamas für die „Grenzen von 1967 als
Minimalgrundlage eines Palästinenserstaats“, wohl kaum die Vernichtung des Apartheidstaates
Israels und das berühmte „Ins-Meer-treiben aller
Juden“ erkennen können. Obwohl, bei den Freunden von Ariel Sharon ist man ja
vor keiner Überraschung gefeit…
Ramallah: Erste Frau Bürgermeister
Es spricht Janet Michael, Christin
und Kandidatin der PFLP, die auch dank der Hamas-Stimmen gewählt wurde.
MICHELE GIORGIO – Jerusalem
Der neue Bürgermeister von Ramallah heißt Janet Michael (62 Jahre), Christin,
Schulleiterin und der Volksfront für die Befreiung Palästinas nahe stehend. Daher
wird ab Anfang 2006 eine Frau an der Spitze der bedeutendsten palästinensischen
Stadt Cisjordaniens stehen, wo sich das Hauptquartier
der Autonomiebehörde befindet. Das ist ein bedeutendes Ergebnis, vor allem für
die palästinensischen Frauen und die palästinensische Gesellschaft, zu dem man auf
einer hitzigen Sitzung des am 15.Dezember 2005, in der vierten und vorletzten
Phase der palästinensischen Kommunalwahlen, gewählten Stadtrates von Ramallah
gelangte. Durch das Ziel der Verdrängung der Fatah von Präsident Abu Mazen geeint, koalierten die Volksfront und die islamische
Bewegung Hamas und ernannten mit 9 Ja-, bei 6 Nein-Stimmen
Janet Michael zur Bürgermeisterin. Dasselbe war im Mai 2005 in Bethlehem geschehen,
wo die Stimmen der Hamas und des Islamischen Dschihad
bei der Wahl des katholischen Victor Batarseh (auch
er von der Volksfront) ausschlaggebend waren.
Gesternabend gelang es uns,
Janet Michael telefonisch zu erreichen, die sich bereit erklärte, auf unsere
Fragen zu antworten.
Frau Bürgermeister, Ihre Wahl wurde in Rammallah und auch im Ausland mit Befriedigung aufgenommen.
Nach den Wahlen werden Sie jedoch vor der Aufgabe stehen, eine bedeutende Stadt
zu verwalten, den Dreh- und Angelpunkt des palästinensischen politischen Lebens
in Cisjordanien. Was sind die Hauptpunkte ihres
Programms?
„Mein wichtigstes Ziel ist
es, die Stadtverwaltung den Bedürfnissen der Bürger anzunähern. Die Situation
ist gravierend und um den Versuch zu unternehmen, sie zu verbessern, wird es
fundamental sein, ein Verhältnis der Zusammenarbeit zwischen den Einwohnern und
ihren Administratoren zu schaffen. Sofort danach werde ich mich für die
Verbesserung der Dienste einsetzen. Heute funktioniert nur die Müllabfuhr der
festen Abfälle in der Stadt und ich weiß sehr gut, dass meine Mitbürger sehr
viel mehr erwarten. Nicht nur im öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesen,
sondern auch bei der Verbesserung des kulturellen Angebots. Natürlich fehlt es
an Geld und alle müssen die Kommunalabgaben bezahlen, aber ich erwarte auch
internationale Hilfen.“
Die Realität in dem Gebiet ist jedoch sehr schwierig.
Es genügt an die Abriegelung der Stadt durch die israelische Armee zu denken,
die neue Einfälle ins Herz Ramallahs nicht
ausschließt.
„Das stimmt, aber wir müssen
an zwei Fronten aktiv werden: der Verbesserung der Verwaltung und der
städtischen Dienstleistungen sowie an der der Anprangerung der Bedingungen,
unter denen wir aufgrund der israelischen Besatzung zu leben gezwungen sind. Das
sind zwei Wege, die parallel verlaufen und gleichzeitig beschritten werden
können.“
Ramallah ist eine vibrierende Stadt, voller Pubs und Restaurants, mit einer bedeutenden kulturellen Produktion
und wo Filmfestivals von internationalem Niveau organisiert werden. Ihre
Einwohner sind auf all das stolz und betrachten daher die Allianz zwischen
Ihrer Partei und der islamischen Bewegung Hamas, die ganz andere Lebensstile vorschlägt, mit Sorge.
„Ich kann mit Sicherheit
behaupten, dass es zwischen der Volksfront und der Hamas kein programmatisches
Abkommen, keine besondere Übereinkunft gibt. Die Führer der islamischen Bewegung
haben im letzten Augenblick beschlossen, nicht für den Kandidaten von Al-Fatah (Ghazi Hanania) zu stimmen und meine Ernennung vorzuziehen. Der
Lebensstil Ramallahs wird sich nicht ändern. Er wird
so bleiben wie immer. Da habe ich keinen Zweifel. Ich hoffe jedoch, dass meine
Wahl zum Bürgermeister eine Veränderung in der Mentalität der Leute hervorruft
und eine stärkere Beteiligung der Frauen am politischen Leben und in der
Zivilgesellschaft fördert.“
Vorbemerkung
und Übersetzung: Antifa-AG der Uni
Hannover