Vorbemerkung der Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Nachdem die ersten drei Runden Montagsdemonstrationen gegen das Gegenreformpaket Hartz IV im wesentlichen spontan und vor allem in Ostdeutschland stattgefunden hatten, interviewte die linke Tageszeitung „junge Welt“ für die Ausgabe vom 19.8.2004 Isolde Kunkel-Weber, die für die Ver.di-Gewerkschaftsführung an der Ausarbeitung des Hartz-Konzepts teilgenommen hatte, zum Stand der Dinge. Ihre Aussagen sind unserer Ansicht nach vor allem aus vier Gründen höchst interessant: 1. zeigt sich hier der Kurs, den die ver.di-Spitze jenseits großer Sprüche und leerer Gesten (insbesondere ihres Chefs Frank Bsirke) tatsächlich verfolgt. Ein Kurs, der nicht nur für die direkt Betroffenen wenig Positives enthält. 2. wird deutlich wie falsch und kontraproduktiv der Opportunismus der attac-Führung gegenüber ver.di und DGB ist und wie wenig die von der gesamten ver.di-Spitze gern zur Schau gestellte Nähe zur Antiglobalisierungsbewegung real zu bedeuten hat. (Fast alle führenden ver.di- und IG Metall-Funktionäre sind weisungsgemäß auch attac-Mitglieder!)  3. stellen viele Antworten von Kunkel-Weber in sozio-kultureller Hinsicht einen Beitrag zur Realsatire dar, da sie den Typus des Gewerkschaftsbürokraten und seine Neigung zur Produktion von heißer Luft, wenn Druck von unten entsteht, geradezu exemplarisch vorführen. Daher ist es 4. notwendiger denn je auf diese Sprüche nicht hereinzufallen, eine kämpferische und fortschrittliche soziale Bewegung von unten aufzubauen, ihr dauerhaftere Strukturen zu geben und gleichzeitig an der Entwicklung einer starken linken Gewerkschaftsopposition zu arbeiten.

 

„junge Welt“ vom 19.08.2004

 

Interview

Interview: Damiano Valgolio

 

Ver.di-Führung und »Hartz IV«: Kippen oder lieber mitgestalten?

 

Isolde Kunkel-Weber ist Mitglied des ver.di-Bundesvorstandes und zuständig für den Fachbereich Sozialversicherung. jW fragte sie

 

* Isolde Kunkel-Weber gehörte 2002 der von Peter Hartz geleiteten Kommission an, deren Vorschläge Grundlage der sogenannten Hartz-Pakete der Bundesregierung sind

F: Jeden Montag demonstrieren in Deutschland mehr Menschen gegen »Hartz IV« und Sozialabbau. Vom ver.di-Bundesvorstand wurde allerdings noch niemand auf der Straße gesichtet. Sind alle Vorstandsmitglieder im Urlaub, oder haben Sie Angst vor den Demonstranten?

Es ist richtig, daß im Moment Urlaubszeit ist und viele in den Ferien sind. Aber im Ernst: Ich halte die Demonstrationen für einen wichtigen Ausdruck unserer Demokratie. Natürlich habe ich keine Angst vor den Demonstranten. Warum auch?

F: Man könnte Sie als ehemaliges Mitglied der Hartz-Kommission für die Sozialkürzungen mitverantwortlich machen. Bereuen Sie heute Ihre Mitarbeit in dem Gremium?

Das ist eine schwere Frage. Denn vieles, was heute unter dem Label »Hartz« läuft, hat nichts mit dem zu tun, was die Kommission erarbeitet hat. Die Regierung hat die »Hartz-Vorschläge« nicht wie angekündigt eins zu eins umgesetzt. Weiter verschärft wurden die Maßnahmen dann durch die CDU im Bundesrat, das sollte man nicht vergessen. Die Kommission hätte es im übrigen auch ohne die Beteiligung der Gewerkschaften gegeben. Wir wollten unsere Positionen einbringen und diesen Prozeß mitgestalten. Dazu stehe ich auch heute noch.

F: Verlieren die Gewerkschaften so viele Mitglieder, weil sie den Sozialabbau mitgestalten wollen, statt ihn zu bekämpfen?

Ich glaube, das Problem des Mitgliederverlustes ist komplexer, hat viele Gründe und steht nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Hartz-Kommission. Im Bereich der Bundesagentur für Arbeit haben wir übrigens sogar deutliche Mitgliederzuwächse.

F: Als Mitglied der Hartz-Kommission hatten Sie versichert, die Bundesregierung werde die Arbeitslosenhilfe nicht auf Sozialhilfeniveau absenken. Waren Sie wirklich so naiv?

Ich bin davon überzeugt, daß es ein Erfolg war, diese Position in der Hartz-Kommission zu erarbeiten. Mich verbittert, was daraus geworden ist. Die Kommission hat ausdrücklich festgestellt, daß es keinen Zusammenhang gibt, zwischen Leistungskürzungen und der Bereitschaft der Menschen, Arbeit anzunehmen. Wir haben nie gefordert, Druck auf die Arbeitslosen auszuüben, solange es keine offenen Stellen gibt. Das hat die Bundesregierung nicht verstanden, worüber ich sehr enttäuscht bin. Denn hier hapert es an Arbeitsplätzen und nicht an Arbeitswilligen.

F: Und wann treten Sie aus der SPD aus?

Ich bin Mitglied und habe auch vor, es zu bleiben. Wer austritt macht es sich viel einfacher als jemand, der weiter in der Partei für seine Positionen kämpft.

F: Der ver.di-Erwerbslosenausschuß und der deutsche Städtetag haben schon 2002 Leistungen auf Sozialhilfeniveau vorausgesagt. Warum haben Sie nicht auf die Betroffenen gehört?

Ver.di ist eine große Organisation, und natürlich hat jede Gruppe ihre eigenen berechtigten Interessen. Das alles zu bedienen und zu berücksichtigen war ziemlich schwierig. Insofern stand am Ende nicht nur ich, sondern der gesamte ver.di-Bundesvorstand vor der Frage, ein Gesamtpaket zu würdigen.

F: Peter Hartz wollte durch seine Vorschläge die Arbeitslosigkeit bis Ende 2005 halbieren. Das wird knapp.

Das hat auch damit zu tun, daß ein wesentliches Element des Hartz-Berichtes völlig untergegangen ist. Wir haben öffentliche Investitionen, angemessene Wirtschaftsförderung und Stabilisierung der Kommunen gefordert, um Arbeitsplätze zu schaffen. Wäre das so umgesetzt worden, würden wir der Vision von Peter Hartz zumindest näherkommen.

F: Die Bundesregierung setzt eher auf den Niedriglohnsektor und die sogenannten 1-Euro-Jobs ...

... was eine arbeitsmarktpolitische Katastrophe ist. So werden keine existenzsichernden Einkommen geschaffen. Außerdem sind dramatische Auswirkungen auf das gesamte Tarifgefüge der Bundesrepublik zu befürchten.

F: Also wurden die Gewerkschaften bei ihren Mitgestaltungsversuchen über den Tisch gezogen. Gehen sie jetzt auf die Straße?

Über den Tisch gezogen ist ein schweres Wort, ich würde sagen: Wir wurden enttäuscht. Wir werden beides machen, demonstrieren und dort mitarbeiten, wo politische Entscheidungen vorbereitet werden. Die Gewerkschaften haben in der Vergangenheit erfolgreich mobilisiert, etwa bei den Großdemonstrationen am 3. April.

F: Konkret: Wann ruft der ver.di-Bundesvorstand zur Beteiligung an den Montagsdemonstrationen auf?

Bisher hat es schon regionale Aufrufe gegeben. Noch im Juni war für niemanden absehbar, daß eine solche soziale Bewegung entstehen würde. Der Vorstand wird am kommenden Montag die Lage insgesamt bewerten. Dem möchte ich nicht vorgreifen.

F: Die meisten ver.di-Mitglieder sind von »Hartz IV« noch nicht direkt betroffen. Können die aktuellen Proteste dennoch mit den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen in den Betrieben verbunden werden?

Im Frühling gab es in Berlin einen Perspektiven-Kongreß von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, an dem ver.di wesentlich beteiligt war. Es wurde über soziale Alternativen diskutiert. Wir sind im Moment dabei, diese komplexen Fragen in die Betriebe hineinzutragen. Es gibt Betriebsversammlungen und Infostände. Wir werden die Proteste mit dezentralen Aktionen aufgreifen und die Aktivitäten zum Ende des Jahres noch einmal bündeln.

F: PDS-Chef Lothar Bisky hat Anfang der Woche die Anhebung des Arbeitslosengeld II auf 400 Euro gefordert. Unterstützen Sie den Vorschlag?

Ich warne vor solchem Stückwerk. Es bringt nichts, jetzt irgendwelche Vorschläge in die Debatte zu werfen, nur weil die Menschen gerade auf die Straße gehen. Neben Herrn Bisky kritisieren inzwischen ja auch einige die »Hartz-Maßnahmen«, die noch vor wenigen Monaten für eine Verschärfung geworben haben. Wir müssen uns hinsetzen und das ganze Paket überprüfen.

F: Und wollen Sie das ganze Paket kippen wie die Demonstranten auf der Straße?

Die Regierung ist auf dem falschen Weg. Mit unserer Vorstellung von Reform hat »Hartz IV« wenig zu tun. Deshalb muß die Regierung jetzt auch unter dem Druck der Straße nachbessern. Aber ich würde nicht nur die schlechten Seiten der Maßnahmen herausstellen. Die Forderung »Hartz muß weg« teile ich nicht, weil die Probleme komplexer sind. Man hätte, wenn man so schwerwiegende Eingriffe vorhat, auch rechtzeitig mit einer guten Informationskampagne beginnen müssen.