Im Mai 2004 hat der israelische Gewerkschaftslinke
Dani Ben Simhon vom Workers Advice Center (WAC) die Histadrut, Israels
Dachgewerkschaft, untersucht. Wir haben drei Abschnitte seiner Untersuchung
herausgenommen: 1.) Die Einführung; 2.) Die Haltung der Histadrut gegenüber
palästinensischen Arbeitern; und 3.) ihren Niedergang während des letzten
Jahrzehnts. Wegen der Länge der Studie haben wir jene Abschnitte
herausgelassen, in denen es um die israelischen Araber und die Arbeitsmigranten
geht. Das Entsprechende kann in der 85. Ausgabe der „Challenge“ Nr. 85
(„Challenge“-Website: http://www.hanitzotz.com/challenge/)nachgelesen werden.
Dani Ben Simhon
1)
Einführung: Die Histadrut auf beiden
Seiten des Platzes
1920 wurde die Histadrut als
„Dachverband jüdischer Arbeiter“ gegründet, dessen ausgesprochene Absicht es
war, die „Arbeit“ aus den Händen der Palästinenser „zu erobern“. Schnell wurde
sie zu einer Grundlage der politischen Führung des Yishuv (die
vorstaatliche jüdische Gemeinschaft des Landes). Selbst als sie als
Gewerkschaft arbeitete, waren ihre Ziele immer auf die jüdische Bevölkerung
ausgerichtet.
Neben der Vertretung der Arbeiter entwickelte der
Verband auch einen unternehmerischen Zweig. Er wuchs zu einem Riesen heran, der
landwirtschaftliche und industrielle Belange ebenso umfasste wie das Bauwesen,
den Handel, den Transport und das Finanzwesen: z.B. die Fabriken der Chevrat
Ha’Ovdim (der Dachverband der Arbeitskooperatien in Israel), die Bank Hapoalim
(Arbeiterbank), den General Health Fund, eine Zeitung, Sportgruppen usw.
Von Beginn an war es das Ziel der Histadrut eine
autonome jüdische Wirtschaft zu etablieren. Ihre Genossenschaften (z.B. Tnuva
in der Landwirtschaft, Koor in der Produktion, Mashbir im
Vertrieb) kümmerten sich um die gesamte ökonomische Stufenleiter, von der
Beschäftigung über die Produktion bis zum Verbraucher wurde alles von
Mitgliedern der Histadrut geregelt. Ihre Gebäude wurden von einem Unternehmen
der Histadrut, Solel Boneh, errichtet und von Shikun Ovdim
(Häuser für Arbeiter) ausgestattet. Ihre Rentner nutzten ihr Netzwerk von
Altersheimen (Mish’an). Mittels des General Health Fund versorgte
sie die jüdische Bevölkerung mit einem Netz von Krankenhäusern und Arztpraxen.
1948, nach der Staatsgründung, behielt die
Histadrut ihre zentrale Rolle bei. Um einen Job zu bekommen, war ihr kleines
rotes Mitgliedsheft die Voraussetzung. Um Mitglied des großen Krankenkasse zu
sein, musstest Du in der Histadrut sein. Als einzige anerkannte Vertreterin der
Arbeiterschaft wuchs der Verband zu einem Staat innerhalb des Staates heran.
Obwohl sie das Wort „jüdisch“ aus ihrem Namen
löschte, weigerte sich die Histadrut bis 1959 arabischen Arbeitern die volle
Mitgliedschaft zu gewähren. Doch das landesweite Wachstum im Bauwesen und in
der Produktion führte zu einem solchen Mangel an Arbeitskräften, dass die
Organisation sie schließlich aufnahm.
2)
Die Besatzung, die Histadrut und die
palästinensischen Arbeiter
Die Eroberung der Westbank und des
Gazastreifens 1967 warf die Frage auf, wie sich die Histadrut gegenüber
palästinensischen Arbeitern verhalten sollte. Die wirtschaftliche Kontrolle
über die Besetzten Gebiete wurde bald zum Eckpfeiler der israelischen
Besatzung. Gemäß den Vorstellungen von Verteidigungsminister Moshe Dayan würde
die Eingliederung der palästinensischen Arbeiter in den israelischen
Arbeitsmarkt die einheimische palästinensische Ökonomie schwächen, was
absichtlich beschleunigt wurde, um die absolute Abhängigkeit von Israel zu
fördern. Auf diese Art schlug das Verteidigungswesen zwei Fliegen mit einer
Klappe: Es kontrollierte die wirtschaftlichen Aktivitäten in den Besetzten
Gebieten (die bis in die spätestens 80er Jahre hinein – nach den USA – Israels
größten Exportmarkt bildeten) und es versorgte Israels Betriebe, Bauunternehmer
und Bauern mit billigen Arbeitskräften. Die Histadrut akzeptierte dieses
Arrangement und unterstützte damit nicht nur die Ausbeutung der Palästinenser,
sondern auch deren Folge: die Erosion der Verhandlungsmacht ihrer israelischen
Gegenstücke <d.h. der
israelischen Werktätigen>.
Israel besaß ein doppeltes Interesse, seiner Wirtschaft zusätzliche Arbeitskräfte zuzuführen. Zunächst hatte sich seine Wirtschaft, weitgehend auf Grundlage ausländischer Zuwendungen, ausgedehnt. Israels jährliche Wachstumsrate hatte seit 1948 (bis 1972) immer um die 10 % herum gelegen. Man hätte annehmen können, dass sich die zunehmende Nachfrage nach Arbeitskräften in höheren Löhnen niedergeschlagen hätte, doch das große Reservoir billiger palästinensischer Arbeit verhinderte dies.
Israels zweites Interesse war es, seine politische
Kontrolle über die Palästinenser in den Besetzten Gebieten zu festigen. Dieses
Interesse „war nicht weniger wichtig und vielleicht sogar wichtiger als der“
routinemäßige „Kampf der Armee gegen palästinensische Gewalt.“[1] Statt wie eine
Gewerkschaft zu handeln, die die Arbeiter verteidigt, akzeptierte Histadrut die
Kriterien der Armee für die Ausgabe von Arbeitsgenehmigungen. Die Verfügbarkeit
von Palästinensern sicherte die Profite ihrer eigenen Produktions- und
Landwirtschaftsbetriebe, während sie als Gewerkschaft zugleich die Beiträge der
Palästinenser in ihre Renten- und Gesundheitskasse sowie den Verwaltungsapparat
einstecken konnte. „Mit bürokratischem Ehrgeiz entschlossen, ihre Kontrolle zu
festigen, arbeiteten die beiden großen israelischen Institutionen (die Armee
und die Histadrut – Anm. DBS) zusammen, um den Status Quo der
Nachkriegszeit zu erhalten und ihre Macht zu vergrößern.“[2]
Ein Kabinettsbeschluss vom Oktober 1970 institutionalisierte
die Ausbeutung der palästinensischen Arbeiter. Sie besagte, dass die
Militärverwaltung ihre Beschäftigung überwachen solle: Ihre Gehälter würden von
den Kassen des nationalen Employment Service ausgezahlt werden, der den
Arbeitgebern die Genehmigungen ausstellte, diese Arbeiter anzuwerben, und dem
der Umfang ihrer geleisteten Arbeitszeit mitgeteilt wurde. Auf diese Art
konnten sowohl die Regierung als auch die Histadrut sicher sein, ihren Schnitt
zu machen.
Histadrut und Labor-Regierung waren bei diesem
Arrangement ausgemachte Partner. Das Interesse des Verbands bestand nicht darin
die gleichen Rechte der Arbeiter zu sichern, sondern eher darin die
Beschäftigungskosten auf gleicher Höhe zu halten. Oberflächlich betrachtet
schien es, als entsprächen ihre Löhne und Sozialleistungen den geltenden
Arbeitsabkommen. Im Kleingedruckten hatte die Regierung jedoch einige
einschränkende Vorkehrungen getroffen. Was die Sozialversicherung betraf, so
trat diese in drei Fällen ein: Arbeitsunfälle, Insolvenz des Arbeitgebers und
einen Zuschuss bei der Geburt eines Kindes in einem israelischen Krankenhaus
(bei Palästinensern eine Seltenheit). Von den 11%, die vom Gehalt jedes
palästinensischen Arbeiters an die Sozialversicherung abgeführt wurden, waren
nur 1% für diese drei Bereiche vorgesehen. Der Rest wanderte in einen
besonderen „Angleichungsfonds“, der für die Versorgung der Bevölkerung in den
Besetzten Gebieten mit sozialen und kulturellen Dienstleistungen gedacht war.
Tatsächlich verwendete Israel das Geld, um die Besatzung zu finanzieren. Die
Arbeiter zahlten die vollen Beiträge zur Sozialversicherung, genossen
allerdings die meisten dieser Rechte, die durch diese Beiträge gedeckt werden
sollen, nicht. So hatten sie z.B. keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, Rente,
Krankengeld, Kindergeld und Fortbildungen.
Die Behandlung der palästinensischen Arbeiter durch
die Histadrut wich nicht erheblich von derjenigen ab, die sie durch die
Leiharbeitsfirmen erfuhren, „denn mit Hilfe der Regierung und der militärischen
Herrschaft nahm sie Arbeiter aus den Besetzten Gebieten und teilte sie
Arbeitgebern zu, im Gegenzug erhielt sie billige Arbeitskräfte für ihre eigenen
Unternehmen und eine zusätzliche Quelle für Mitgliedsbeiträge.“[3] (Zusätzlich zu den 11 %
für die Sozialversicherung musste jeder palästinensische Arbeiter 1 % seines
Einkommens als Beitrag abführen. Bei der kurzsichtigen Politik die die
Palästinenser davon abhielt, ökonomische Unabhängigkeit zu entwickeln, war die
Histadrut vollwertiger Partner. Das Ergebnis war deren absolute Abhängigkeit
von Israel, so dass die „ökonomische Trennung nicht mehr durchführbar ist, ehe
an diesen Orten (den Besetzten Gebieten – Anm. DBS) nicht zumindest eine
solidere wirtschaftliche Basis entwickelt sein wird.“[4]
Seit den späten 70er Jahren begannen in den Besetzten Gebieten neue Gewerkschaften aufzutauchen. Sie waren mit den politisch-militärischen Organisationen der palästinensischen nationalen Befreiungsbewegung eng verbunden. Diese militanten Gewerkschaften zogen Tausende von Arbeitern an, einschließlich jenen, die nach Israel pendelten. Die israelischen Behörden betrachteten sie als Teil des Widerstands und gingen mit eiserner Faust gegen sie vor. Ihre Führer wurden ins Gefängnis geworfen oder deportiert. Ihre Büros wurden geschlossen. Ihre Aktivisten waren Verfolgung, Verhören und Folter ausgesetzt. Die Histadrut unternahm nichts.
Die israelische Menschenrechtsorganisation B’tselem
berichtete, dass Israel durch den Shin Beth, den Inlandsgeheimdienst, die
Arbeitsgenehmigungen einsetzte, um Arbeiter zur Kollaboration zu zwingen. Die
Arbeiter erfuhren, dass, wenn sie sich darauf einließen, ihnen diese
Eintrittskarte in die israelische Wirtschaft sicher wäre.[5]
Auch das schaute sich die Histadrut mit
verschränkten Armen an. Zudem nutzte sie ihr Prestige im Ausland, um zu
verhindern, dass die palästinensischen Gewerkschaften international anerkannt
wurden.
Nach der Unterzeichnung der Verträge von Oslo 1993, änderte die Histadrut, entsprechend dem veränderten Verhältnis Israels zur PLO, ihre Haltung gegenüber den palästinensischen Gewerkschaften. Sie versuchte, sie unter Kontrolle zu bekommen, und benutzte sie, um ihren Zutritt zur arabischen Welt zu legitimieren.
In seinem Gründungspapier von 1998 hat das Workers
Advise Center (WAC) die Haltung der Histadrut gegenüber den
palästinensischen Gewerkschaften en detail beschrieben. Israels
Abriegelungspolitik und die „Übernahme“ der palästinensischen Wirtschaft nahm
nach Oslo noch zu.[6] Das Pariser Protokoll
von 1994, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Israel und der
Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) festlegte, verlängerte die Abhängigkeit
auf allen Ebenen, einschließlich der Zollbestimmungen, Infrastruktur, Im- und
Exporte. Die Einreise pendelnder palästinensischer Arbeiter wurde von Israels
Bedürfnissen abhängig gemacht und in dessen Ermessen gestellt.[7]
Im März 1995 schloss die Histadrut, im Rahmen von
Oslo, mit den palästinensischen Gewerkschaften eine Vereinbarung, die ihr
erlaubte, auch weiterhin Mitgliedsbeiträge in Höhe von 1 % zu erheben – aber
jetzt sollten die palästinensischen Gewerkschaften die Hälfte dieses Betrages
erhalten. Die Vereinbarung sah auch vor, dass die Histadrut als Ausgleich für die
Beträge, die sie in der Vergangenheit von den palästinensischen Arbeitern
erhalten hatte, 800 Millionen Schekel an die palästinensischen Gewerkschaften
zahlen würde. Das Abkommen stieß in palästinensischen Kreisen auf heftige
Ablehnung. Seine Widersacher wiesen darauf hin, dass dieser Betrag lächerlich
gering war. Immerhin hatte die Histadrut von Zehntausenden 26 Jahre lang
jährlich 1% Lohn eingezogen, ohne im Gegenzug dafür Leistungen zu erbringen.
Die Palästinenser schätzten die ihnen geschuldete Summe auf 1,5 Milliarden
Schekel.
Trotz dieser Auseinandersetzung wurde das Abkommen
zur vollendeten Tatsache. Die Histadrut begann endlich für
Gewerkschaftsaktivisten Seminare durchzuführen und Rechtsanwälte zu bezahlen,
die palästinensische Arbeiter vor israelischen Arbeitsgerichten vertraten. Doch
mit dem Ausbruch der zweiten Intifada <am
28.September 2000> brach sie alle Verbindungen mit den palästinensischen Gewerkschaftern ab.
3)
Die israelische Bühne: Die Rolle der
Histadrut im Stabilisierungsplan von 1985
Gegen der Ende 1970er Jahre war
Israels Wirtschaft von Problemen geplagt. Ein Hauptteil der Krise hatte die
Histadrut verursacht. Ihre Gesellschaften hatten Verluste gemacht und die
Regierung hatte für sie bürgen müssen. Bauern und Kibbuzim hatte sie allzu
große Subventionen gewährt. Auf allen Ebenen und zahlreichen Berufen hatten
ihre Angestellten Dauerstellungen erhalten und viele waren unproduktiv oder
überflüssig geworden. Fast 40% aller Arbeitskräfte waren bei der Regierung
beschäftigt. Das Land blieb von Geldern aus dem Ausland abhängig. Dann kam der
Libanon-Feldzug, 1982, der fünf Milliarden Dollar kostete – und die Regierung
druckte Geld. 1984 wurde die jährliche Inflationsrate in dreistelligen Zahlen
angegeben. Die Auslandsverschuldung hatte sich auf 23 Milliarden verdoppelt.
Die Auslandsreserven waren unter die Grenze von drei Milliarden Dollar
gefallen.
Die geschlossenen, monopolistische
Wirtschaft war in der Sackgasse gelandet und israelische Kapitalisten drangen
auf Veränderung. Nach den Wahlen 1983 bildeten die beiden großen Parteien,
Arbeitspartei und Likud, unter Yitzhak Shamir und Shimon Peres eine Regierung
der nationalen Einheit. Nationaler Konsens war nötig, wollte man zwei Dinge
erreichen: Der Rückzug aus dem libanesischen Hinterland und wirtschaftliche
Erholung.
1985 wurde ein Stabilisierungsplan
beschlossen, der zu plötzlicher Deflation und hohen Zinsen führte. Auf Koor,
das Industrieagglomerat der Histadrut, dessen Schulden bald die Zahl von 1,3
Milliarden Dollar erreichten, hatte dies die entgegengesetzte Wirkung. Die
Gewerkschaftsspitze der Histadrut stimmte einem Einfrieren der Löhne und der
Einstellung der Subventionierung von Grundkonsumgütern zu.
Der Stabilisierungsplan leitete
strukturelle Veränderungen, die die Wirtschaft an den aus Washington und London
kommenden frischen Wind der Globalisierung anpassen sollte. Er gewann die
massive Zustimmung sowohl amerikanischer als auch israelischer
Wirtschaftswissenschaftler. Die Tarife wurden gesenkt und Peres handelte einen
Freihandelsvertrag mit den USA aus. Israels Industrie würde nicht
wettbewerbsfähig sein, wenn die Arbeitsleistung sich nicht verbesserte. Peres‘
Lösung war es, vierzig Gesellschaften, einschließlich Koor, die der Regierung
und der Histadrut gehörten, abzuwickeln, zu verkleinern oder zu privatisieren.
Mit schmalem, teurem Geld waren Firmen gezwungen zu rationalisieren. Von 1985
bis 1989 schoss der industrielle Ausstoß nach oben, ohne dass es eine
Vergrößerung der Arbeiterschaft gegeben hätten. Statt dessen stieg die Arbeitslosigkeit
von 6% auf 9%.
In Folge des Peres-Plans veränderte
sich der Arbeitsmarkt, bis er nicht mehr wieder zu erkennen war: Die
Arbeitgeber wurden mehrfach von Steuern und Gehaltserhöhungen befreit, zudem
erhielten sie die Freiheit, Löhne festzusetzen, und bei der Zusammensetzung der
Arbeiterschaft. Mehr und mehr Arbeiter wurden im Akkord beschäftigt und nicht
gemäß dem Tarifvertragssystem der Histadrut. Ein zunehmender Teil
wirtschaftlicher Aktivität fand außerhalb des organisierten Rahmens statt, auf Grundlage
von Einzel-Arbeitsverträgen. Die Einstellung durch Leiharbeitsfirmen, an den
Tarifverträgen vorbei, nahmen enorm zu. Eine Untersuchung aus den Jahren 1995 –
1997 fand heraus, dass Leiharbeitsfirmen monatlich 85.000 Arbeiter zur
Verfügung stellen, 5 % der Lohnempfänger in Israel, viermal soviel wie
entwickelte Staaten.[8]
(Im vergangenen Jahr stieg die Zahl auf 150.000. Die Histadrut akzeptierte
diese neue Realität ohne einen Mucks. Tatsächlich nahm sie an dem Feier teil,
indem sie ihre eigene Leiharbeitsfirma gründete.
Noch etwas Anderes wurde in den
1990ern beliebt: Die Auslagerung arbeitsintensiver Industrien, wie z.B. der
Textilindustrie, nach Ägypten, Jordanien oder anderen Niedriglohnländer. Wo
dies nicht möglich war, wie auf dem Bau oder der Landwirtschaft, saß die
Histadrut daneben, als die Regierung den Import billiger, unorganisierter
Arbeit erlaubte.
Die Histadrut, als Wächter
organisierter Arbeit, hätte präsent sein sollen, um gegen den Zusammenbruch der
Tarifverträge zu kämpfen. Sie hätte für die Rechte der Arbeitsmigranten kämpfen
müssen, statt sie als billiges Arbeitskräftereservoir dienen zu lassen. Dies
ist nicht geschehen, Die „neue Histadrut“ war, wie wir sehen werden, mit allem
möglichen Anderen beschäftigt.
Der
Aufstieg der „neuen Histadrut“
Im letzten Jahrzehnt hat die Histadrut weitgehende
Veränderungen durchlaufen. Von ihrer Rolle als wirtschaftliche Supermacht – dem
größten Arbeitgeber im öffentlichen Sektor, mit einem Monopol überdie
Arbeitsbeziehungen – heute kämpft sie um ihr Leben.
Diese Umwandlung bahnte sich seit langem an.
Schon vor der Gründung des Staates hatte eine
ungesunde Nähe zur Arbeitspartei, die in den 1950ern als Mapai bekannt war,
bestanden. Diese war berüchtigt für die Diskriminierung jüdischer Immigranten
aus arabischen Ländern (die sich teilweise rächten, als sie halfen die
Arbeitspartei 1977 zu schlagen und sich auch danach gegen sie wandten). Später
kam heraus, dass die Histadrut regelmäßig und im Geheimen Mittel in die
Arbeitspartei geleitet hatte. Dieses Geld kam von Mitgliedern, die, man
erinnere sich, zur Mitgliedschaft gezwungen waren, um zur größten und
sichersten Krankenversicherung des Landes zu gehören. So ging Geld, dass
unfreiwillige Mitglieder für ihre Krankenversicherung zahlten, statt dessen in die
Truhen einer politischen Partei.
Zweitens waren da die bereits erwähnten Faktoren: Make-Work,
Überschuss, weitverbreitete Dauerstellungen und Protektionismus trugen zu
niedrigen Produktivitätsraten bei. Der Stabilisierungsplan von 1985 kam als
hartes Korrektiv. Er erfuhr, wie gesagt, die volle Kooperation der Histadrut,
die Entlassungen und Lohnstopps mit „Verständnis“ hinnahm. Da war die einzige
Arbeiterorganisation des Landes und pflasterte den Weg in die Globalisierung,
gestattete Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt, indem sie Arbeitgeber von
Beschränkungen befreite, die zum Wohl der Arbeiter errichtet worden waren.
Obwohl die Histadrut, drittens, ihre Unternehmen,
wie Koor, Solel Boneh und Bank Hapoalim im Laufe der Jahre
verkaufte, verschwanden die Budgetdefizite nicht. Die Rentenfonds der Histadrut
versanken in Schulden.
Doch der entscheidende letzte Schlag kam von Haim Ramon, der 1994 an die Spitze der Histadrut gewählt worden war. Ramon war der Kronprinz der Arbeitspartei, ein möglicher Erbe der alten Garde. Als Gesundheitsminister der Regierung Yitzhak Rabin drängte er auf eine nationale Krankenversicherung. Diese würde die Verbindung zwischen der Mitgliedschaft in der Histadrut und der Mitgliedschaft in einer Krankenkasse durchtrennen, eine Verbindung, die die Bevölkerung erpresste und eine sichere Einnahmequelle darstellte. Warum sollte sich ein Minister der Arbeitspartei für eine derart selbstmörderische Umstellung engagieren?
Seine Partei jedenfalls weigerte sich mitzumachen.
Sie verwässerte den Vorschlag. Ramon trat von seinem Posten zurück und
erklärte, dass er bei den kommenden Wahlen der Histadrut auf einer unabhängigen
Liste antreten werde - gegen seine eigene Partei. Gemeinsam mit Amir Peretz
spielte er allen Widrigkeiten zum Trotz und siegte mit großer Mehrheit. Dann
durchschnitt er die Verbindung mit der Krankenkasse und die Rabin-Regierung
erließ ein nationales Krankenkassengesetz durch die Knesset. Die Histadrut
hatte ihre Geiseln verloren. Die Mitgliederzahl fiel bis 1995 von
1.800.000 auf 650.000. Der Rückgang der Mitgliedsbeiträge ließ das Defizit des
Verbandes stark ansteigen. Ramon reagierte darauf, indem er Vermögenswerte
verkaufte. Dazu meint Dr. Yossi Dahan, Vorsitzender des ADVA Centers: „Das war
eine der größten Raube des Jahrhunderts. Innerhalb von Tagen oder Wochen hat
ein Unternehmen, dass 25% der Wirtschaft kontrolliert hatte, in den Bankrott
getrieben. Wie konnte dieser Raubzug geschehen? Wir wissen immer noch wenig.
Zum Beispiel die Immobiliengesellschaft Schikun v’Binui wurde für 300
Millionen Schekel verkauft. Ihr Wert stieg innerhalb weniger Monate auf 1,3
Milliarden.“
Ende 1995, nach der Ermordnung Rabins, als Ramon
das Reich der Histadrut abgeräumt hatte, trat er von seinem schwer erkämpften
Vorsitz zurück und wandte sich wieder der Arbeitspartei zu. Amir Peretz blieb
für den übriggebliebenen Zwerg zuständig.
Ramon hatte der Partei großes Unrecht zugefügt.
Warum konnte er also zurückgekommen, genau wie die anderen, die sich seiner
Revolte angeschlossen hatten? Es gibt Hinweise, dass unter der Oberfläche etwas
vollständig anderes vorging. Schon in
den 1980ern hatte die Arbeitspartei - im Gegensatz zu ihren Vertretern in der
Histadrut - entschieden, dass die Zukunft in der Globalisierung lag. Aus dieser
Sicht war die Histadrut ein Albatros, der schwer auf der israelischen
Wirtschaft lastete. Auch wenn der Verband Peres’ Reformen mit „Verständnis“
hingenommen hatte, war er als solches doch Teil der organisierten
Arbeiterschaft, der Feind eines globalisierten, leicht ausbeutbaren
Arbeitsmarkts. Es gibt Hinweise - im April 1994 n der „Ha’aretz“
nachzulesen[9] - dass Ramon der
heimliche Gesandte von Premierminister Yitzhak Rabin war. Der Kopf der
Arbeitspartei selbst hatte entschieden, dass die Milchkuh geschlachtet werden
sollte!
In Anbetracht der Gesamtsituation scheint dies
nicht unmöglich. Da waren die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die die
Globalisierung bot, Rabins Bedarf an öffentlicher Unterstützung für den
Oslo-Prozess, die übel beleumundete Verbindung zwischen der Histadrut und der
Arbeitspartei, die Abneigung der Wähler, wegen der Mitgliedschaft in der
Krankenkasse in die Histadrut gezwungen zu sein, die Bekanntheit des Verbands
für Verschwendung, Misswirtschaft und Protektionismus, seine Assoziation mit
der alten Arbeitspartei der Diskriminierung. Zudem hatte die alte Garde der
Histadrut immer Shimon Peres bei seinen parteiinternen Rivalitäten gegen
Yitzhak Rabin unterstützt.
Als Folge der Schwächung des Zentralapparats der
Histadrut erlebten die großen, in ihr organisierten Gewerkschaften einen
Zuwachs an Macht, besonders jene der Angestellten, des Öffentlichen Diensts und
der großen Monopole (Stromversorgung, Häfen, Telefongesellschaft,
Flugzeugindustrie u.a.). Dies erklärt den Einfluss, den diese Gewerkschaften
heute in der Histadrut ausüben. Sie sind in der Lage ausgedehnte Streiks
durchzuführen, im Kampf gegen die Pläne der Regierung, den öffentlichen Sektor
zu reduzieren. Im Gegensatz dazu ist der Einfluss der Gewerkschaft in
arbeitsintensiven Bereichen erheblich gesunken.
Seit Mitte der 1980er Jahre stimmen die Ansichten
von Arbeitspartei und Likud über die ökonomisch-soziale Agenda des Landes im
Wesentliche überein, die Histadrut findet dort keinen politischen Ausdruck.
Ihre großen Betriebsräte haben in den Zentren der Macht ihren Einfluss
verloren. In Anbetracht der Gefahr weiterer Privatisierungen trat 1999 eine
neue Partei „Am Echad“ (Ein Volk) zur Wahl an, um das Vakuum zu füllen. Auf
ihrer Wahlliste standen Vertreter der Rechten und der Linken. Amir Peretz,
frühere Taube der Arbeitspartei, und Likudmitglied Chaim Katz, einstiger
Vorsitzender des Betriebsrats der Flugzeugindustrie, sollten Am Echad
politische Flexibilität verleihen. So würde sie sowohl den Likud als auch die
Arbeitspartei unterstützen können und die Macht haben, eine Mehrheitskoalition
zu schaffen oder zu zerstören. Dies würde die Rechte der großen Betriebsräte
schützen.
Um ideologische Hindernisse zu vermeiden und sich
alle Möglichkeiten offen zu halten, vermied es die neue Partei zu zentralen
politischen Fragen Stellung zu beziehen. So zeigte sie 1999 z.B. für keinen der
Kandidaten für den Platz des Premierministers, Ehud Barak oder Binyamin
Netanyahu, Präferenzen. Am Ende errang Am Echad nur zwei Sitze und kam nicht in
die Koalition Baraks. Sie stellte sich nicht gegen den Zustrom unorganisierter
Migranten, die weiterhin die Arbeitsplätze der Palästinenser aus den Besetzten
Gebieten und der israelischen Araber einnahmen. Als Sharon 2001 eine Regierung
der Nationalen Einheit bildete, trat Am Echad ihr bei. Sie stimmte für den
Trennzaun in der Westbank, der die meisten palästinensischen Arbeiter
aussperrt. Dieses Kapitel der Geschichte der Histadrut wird für immer ein
Schandmal sein.
Bei den Wahlen zur Knesset im Januar 2003 gewann Am
Echad drei Mandate, aber da Likud und Shinui bei Wirtschaftsthemen eine
neokonservative Mehrheit bildeten, hatte sie jeden Chance verloren, Einfluss
geltend zu machen. Die Likud-Shinui-Regierung führte einen drastischen Angriff
auf das, was von einem Wohlfahrtsstaat übrig geblieben war, und insbesondere
auf die Histadrut. Eines der führen Mitglieder des Finanzministeriums sagte
ganz offen, dass die größte Leistung seines Amtes, die Zerschlagung der
organisierten Arbeit sei: „Für organisierte Arbeit besteht in Israel kein
Bedarf mehr, weil der Staat ihre historische Rolle übernommen hat: die Rechte
der Arbeiter zu sichern. Schließlich befasst sich die Histadrut nicht mit den
Näherinnen in Yarka (einem drusischen Dorf – Anm. DBS) oder den
Arbeitern, die von den Leiharbeitsfirmen ausgebeutet werden. Was die schützt,
ist das Gesetz und das Netz der sozialen Sicherheit, für die beide der Staat
sorgt. Darum ist die Zahl der organisierten Arbeiter in den letzten Jahrzehnten
in der Wirtschaft von 70% auf 20% gesunken. Wenn es uns gelingt im Erziehungs-
und Bankensektor Reformen umzusetzen, wird ihr Anteil noch weiter sinken, unter
20 %.“[10]
Finanzminister Benjamin Netanyahu hat sich nicht
gescheut, Bereiche anzugreifen, die bis dahin als heilige Kühe galten. Das
Versagen der Histadrut, die Privatierung der Rentenkassen, der Fluggesellschaft
El Al, der Häfen und Banken zu verhindern, hat die regionalen
Verwaltungsstellen bewogen, sich auf ihre unmittelbaren Interessen zu
konzentrieren und derweil Teile der Kriegsbeute aus den Verkäufen zu fordern.
In Anbetracht der defätistischen Haltung der Verwaltungsstellen und des
Gefühls, dass sein eigenes Lager neben ihm wegbricht, hat Peretz den Schluss
gezogen, dass die Tage von Am Echad gezählt sind. Im September 2003 hat er
seine Fühler Richtung Arbeitspartei ausgestreckt und im Mai 2004 ist er wieder
zu ihr gestoßen. Dieser Zusammenschluss schließt einen Kreis im Leben der neuen
Histadrut und führt sie an den Punkt zurück, von dem aus sie vor zehn Jahre
gestartet ist: die Arbeitspartei. Eine Gewerkschaft, die bei der Arbeitspartei
Zuflucht sucht, bringt sich in Gefahr, denn diese Partei ist der Globalisierung
und der Marktwirtschaft nicht weniger verpflichtet als der Likud. Es gibt kein
Weg zurück zum Wohlfahrtsstaat – oder zur historischen Rolle der Histadrut als
zentraler Faktor in Israels Gesellschaft.
Das Dahinschwinden der Histadrut gibt dem Kapital
freie Hand und lässt die Arbeiter als leichtes Opfer der Ausbeutung zurück.
Andererseits eröffnet der Niedergang einer Organisation, die einmal die
Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehungen monopolisiert hatte, eine
Entwicklungschance für andere Organisationen. Zum ersten Mal sind Bedingungen
für das Heranwachsen einer Alternative entstanden.
Weite Bereiche der Arbeiterschaft stehen außerhalb
des gewerkschaftlichen Rahmens, insbesondere befristet Beschäftigte, Araber,
Migranten und die Beschäftigten der Leiharbeitsfirmen. Zusammengenommen machen
diese Gruppen die Mehrheit der israelischen Arbeiterklasse aus. In dem Vakuum,
das die Histadrut zurückgelassen hat, sind neue Gruppen entstanden: z.B. Kav
la’Oved (Workers‘ Hotline), Commitment, The Center for Aid to
Foreign Workers und der Worker Advise Center (WAC). Jede versucht
auf ihre Weise die Rechte jener Arbeiter zu verteidigen und zu fördern, die die
Histadrut im Stich gelassen hat. Besonders die arabische Bevölkerung hat eine
Tradition unabhängiger Organisierung, die in den 1950ern, als die Histadrut sie
absorbierte, aufgegeben wurde. Dieser Teil der Arbeiterschaft kann als
Ausgangspunkt für eine neue Gewerkschaft dienen, zugänglich für alle, deren
Macht nicht an das zionistische Establishment gebunden werden wird. Die
Anstrengungen des WAC eröffnen diese Möglichkeit wieder allen Arbeitern,
die in der neuen Histadrut keine Stimme haben.
Vorbemerkung und Übersetzung ins Deutsche:
Sympathisanten der Zeitschrift „Challenge“
Leichte sprachliche Überarbeitung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover
[1] Lev Luis Grinberg, The Histadrut
above Everything (Hebrew), Jerusalem: Nevo, 1993, S. 185
[2] Ebda., S. 188
[3] Onn Winkler, "Trends in
the Palestinian Economy Before and After the Oslo Agreement: The Employment
Aspect," Ha-Mizrach Ha-Hadash, Vol. 43 (Hebrew), 2002, S. 278
[4] Ebda., S.
[5] B'tselem, "Poalei Tzion:
Violations of the Human Rights of Workers from the Territories in Israel and
the Settlements," 1999 (Hebrew)
[6] "The Status of the Palestinian Workers amid the Challenges of Globalization," Papier des Gründungskomitees des Workers Advice Center (WAC – or Ma'an in Arabic), Nazareth, 1. Mai 1998 (Hebräisch und arabisch) S.16 der hebräischen Fassung.
[7] Artikel 7 des Pariser Protokolls zu den Arbeitsbeziehungen gestattet es jeder Partei, den Zutritt von Arbeitern der anderen Seite zu stoppen: "Beide Parteien werden sich bemühen, die normale Wanderung der Arbeitskräfte zwischen ihnen aufrecht zu erhalten, abhängig vom Recht jeder Partei von Zeit zu Zeit Ausmaß und Bedingungen der Wanderung der Arbeitskräfte in sein Gebiet zu bestimmen. Wird die übliche Wanderung vorübergehend von einer Partei ausgesetzt, wird sie die anderen unverzüglich davon in Kenntnis setzen und diese kann den Wunsch äußern, dass die Angelegenheit in dem Gemeinsamen Wirtschaftskomitee diskutiert wird.„ (Protokoll über Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Regierung von Israel und der PLO / Paris, 29. April 1994.
[8] In entwickelten Ländern muss der Arbeitgeber nachweisen, dass er nur zeitweise und aus besonderen Gründen Mitarbeiter von Personalfirmen einsetzt. In Israel gibt es solche gesetzlichen Einschränkungen nicht.„ Interview mit Dr Yossi Dahan, Etgar, Januar 2004 (hebräisch), S. 14
[9] See A. Tal in Ha'aretz
April 8, 1994 and Hannah Kim in Ha'aretz April 15, 1994
[10] "We've broken organized labor," Interview
with Uri Yogev, Ha'aretz, May 5, 2004