Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:


Den folgenden Beitrag entnahmen wir der unabhängigen linken italienischen Tageszeitung "il manifesto" vom 13.8.2003. Es ist bezeichnend, daß in der linken Presse Italiens ein Interview mit einem Vertreter der "European Jews for a Just Peace" erscheint, hierzulande diese israel-kritische Stimme trotz umfangreicher antinationaler "Diskussion" über das korrekte Verhalten zum Staate Israel allerdings weitgehend totgeschwiegen wird. Wir haben dieses Interview übersetzt, weil wir es unseres Erachtens ein sehr wichtiger und vorwärts weisender Beitrag ist, auch wenn wir einige seiner am Rande geäußerten Positionen nicht teilen (insbesondere die strategische Orientierung auf eine 2-Staaten-Lösung und sein Vorschlag, sich nur auf die empirischen Fakten zu beschränken, ohne daraus weitergehende Konsequenzen zu ziehen). Das gehört zu einer tatsächlichen Debatte dazu und mindert die Bedeutung seiner Äußerungen nicht im Geringsten.


Ist Israel kritisieren antisemitisch ?


Es spricht Hajo Meyer, ein deutscher Jude und Auschwitz-Überlebender, der von der israelischen Politik angewidert ist.


Sveva Härtter


Hajo G.Meyer wird 1924 in Bielefeld (Deutschland) geboren. 1939 flieht er mit einem Kindertransport nach Holland und es beginnt eine lange Odyssee, die von den Flüchtlingslagern bis zur Arbeit erst als Tagelöhner und dann als Mechaniker / Metallarbeiter reicht. 1943 gelingt es ihm die Reifeprüfung (Abitur) zu bestehen. Er versteckt sich, wird aber im März 1944 gefangen und nach Auschwitz deportiert. Wunderbarerweise gelingt es ihm zu überleben. Er kehrt nach Holland zurück, macht sein Diplom in theoretischer Physik und wird Leiter der Forschungsabteilung eines großen holländischen Unternehmens. Seit 1984 ist er in Rente, arbeitet als Geigenbauer und ist als Publizist tätig. Hajo gehört zur holländischen Gruppe "Een Ander Joods Geluid" (eine andere jüdische Stimme), eine der Gruppen, die die "European Jews for a Just Peace" (EJJP) bilden. Während des Treffens im März 2003 in Brüssel war Hajo der nachdrücklichste Vertreter der Notwendigkeit einer Intervention von EJJP, um die Instrumentalisierung der Antisemitismus-Beschuldigungen anzuprangern, die gegen jeden gerichtet werden, der die Politik der israelischen Regierung kritisiert.


Was meinst Du zum Ergebnis des Treffens zwischen Bush und Sharon ? Bush hatte anfangs gefordert den Bau der Mauer zu unterbrechen. Sharons Linie hat sich dann jedoch durchgesetzt.


"Man könnte lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre. Dieses ganze Gerede von der Road Map scheint <nur> ein Zirkus zu sein. Das hat nichts mit den realen Tatsachen, mit der harten Realität zu tun, die die Israelis und die Palästinenser erleben. Vor allem die Palästinenser."


Du bist persönlich hingefahren, um die in Bau befindliche Mauer zu sehen ?


"Es ist schrecklich. Du siehst lange Landstriche, auf denen jahrhundertealte Olivenbäume gefällt und die Bewässerungsanlagen zerstört wurden. Was da geschieht und die Grausamkeit, mit der sich die Besatzung manifestiert, ist unglaublich. Denk' nur an jene widerwärtigen Vertreter der Siedler, die sich nicht einmal dazu herablassen Sickergruben oder eine Kanalisation für die eigene Scheiße zu bauen und sie direkt in die palästinensischen wadis kippen. Das sind Barbaren. Und welche von der schlimmsten Sorte. Während des Treffens schien es, daß Sharon gesagt hat, es bedürfe, um einige naheliegende Zugeständnisse zu machen, vor allem eines guten Zaunes. Aber nicht, wenn das dazu dient, sich die Hälfte des Gartens des Anderen und vielleicht auch noch einen Teil seines Hauses anzueignen. So wird man zu Feinden für die Ewigkeit. Wenn die Mauer einen redlichen Verlauf hinter der grünen Linie nehmen und dazu dienen würde die Sicherheit zu garantieren, könnte das auch gehen, aber in Wirklichkeit dient sie dazu die palästinensischen Städte zu isolieren und die Siedlungen an Israel anzuschließen. Ländereien und Wasserquellen zu enteignen, hat nichts mit Sicherheit zu tun. Diese Dinge müssen in aller Deutlichkeit ausgesprochen und angeprangert werden."


Es gibt aber Leute, die diejenigen, die die Entscheidungen der israelischen Regierung kritisieren, des Antisemitismus beschuldigen.


"Das ist der größte Blödsinn der Weltgeschichte. 2000 Jahre lang sind die Juden allein aufgrund der Tatsache ihrer Existenz gehaßt worden. Die Rassentheorien dienten dazu zu zeigen, daß die Juden bis ins tiefste Innere schlecht waren - die Juden und alles, was sie taten. Hitler beschuldigte sie allem und dem Gegenteil von allem: Kapitalisten und Bolschewisten zu sein. Ich erinnere mich, daß ich mit meinem Vater Straßenbahn fuhr und er sagte: 'Kinder sprecht leise, sonst sagen die Leute, daß die Juden immer Krach machen.' Der Ärmste dachte nicht an die Tatsache, daß die Leute - gerade wenn wir anfingen zu flüstern - sagten: 'Diese Juden ! Immer haben sie was zu verbergen.' Das ist wirklicher Antisemitismus und hat nichts mit Israel zu tun. Israel steht den USA nahe, die absolut gesehen die größte Macht sind und Israel selbst ist eine Weltmacht. Antisemitismus-Beschuldigungen in instrumenteller Weise zu benutzen, um Kritik gegen seine Politik zum Schweigen zu bringen, bedeutet diese zu mißbrauchen, um das Recht zu beseitigen die Entscheidungen eines der mächtigsten Länder der Welt zur Diskussion zu stellen."


Aber es existiert auch eine falsche Art Israel zu kritisieren. Manchmal hört man Dinge, die den Antisemitismus streifen oder die sich einfach als provokatorisch herausstellen. Wie denkst Du über die Gleichsetzungen mit dem Nazismus ?


"Ich weiß, wovon Du sprichst und muß Dir gestehen, daß mich der Vergleich mehr als vieles andere stört. Das Problem ist, daß der Großteil der Leute, wenn sie hören, daß über Nazismus gesprochen wird, an die Vernichtungslager denken. Nazismus war aber nicht nur das. Wenn ich die Palästinenser an den check-points Schlange stehen sehe, denke ich immer an all die Schikanen und Demütigungen, die ich als Junge in Deutschland erlebt habe, lange bevor ich deportiert wurde.

In Brüssel haben wir lange über den Boykott diskutiert. Viele waren dagegen, weil sie das an die Nazi-Parole 'Kauf' nicht beim Juden !' erinnerte. Ich denke nicht, daß der Boykott eine zentrale Frage ist. Und dann ist er kompliziert, braucht Zeit. Ich persönlich kaufe israelische Produkte nur dann, wenn ich keine anderen finde. Für Südafrika war das ein wichtiges Instrument, aber es geht darum Prioritäten zu setzen. Um einen realen Druck auszuüben, ist die Suspendierung des Assoziierungsvertrages zwischen der EU und Israel sehr viel besser."


Hier in Italien hat eine Vereinigung vor einem Supermarkt zur Unterstützung des Boykotts demonstriert. Um Aufmerksamkeit zu erregen, war ein kleines Kind an einem Kreuz mit dabei.


"Nein, das wirklich nicht. Das ist unakzeptabel. Das ist eine entsetzliche Benutzung der widerwärtigsten Stereotype des Antisemitismus. Was hat der Staat Israel mit Jesus zu tun ? Das ist ein klares Beispiel für den Antisemitismus, den ich vorhin beschrieben habe. Den schlimmsten."


Also gibt es "richtige", sinnvolle Arten Israel zu kritisieren und Kampagnen zur Unterstützung des palästinensischen Volkes zu starten, und falsche.


"Ich erkläre es Dir so: Alle weißen Pferde sind Pferde, aber nicht alle Pferde sind weiß. Alle Antisemiten kritisieren Israel (vielleicht nicht öffentlich), aber nicht alle, die Israel kritisieren, sind Antisemiten. Für eine ernsthafte und wirkungsvolle Kritik genügt es und ist es förderlich über die Fakten zu sprechen. Es geschehen schreckliche Dinge, Kriegsverbrechen, Verletzungen der Menschenrechte. Dies sind Dinge, die mit Nachdruck anzuprangern sind und zur Distanzierung von Sharons Politik führen sollten. Die Kritik ist hilfreich und muß öffentlich, muß sichtbar sein. Wer schweigt, stimmt zu !"


Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:

Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover