Antifa-AG
der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Am 20.
Juli 2001 wurde der damals 23jährige Carlo Giuliani als Teilnehmer der Proteste
gegen den in Genua stattfindenden G8-Gipfel in der Piazza Alimonda von einem
Angehörigen der Carabinieri erschossen. Im Zusammenhang mit den Aktionen zum
4.Jahrestag seines Todes führte die unabhängige, linke italienische Tageszeitung
„il manifesto“ ein Interview mit seiner Mutter Haidi Giuliani, die zu
den Organisator(inn)en gehört. Das Interview erschien am 21.7.2005.
INTERVIEW:
Haidi: Die Erinnerung ist Anklage
Die Mutter von Carlo
<Giuliani>: „Zu oft haben wir in Italien vergessen.“
LORIS CAMPETTI
Don Andrea Gallo, der <dem radikalen Flügel der
italienischen Antiglobalisierungs-Bewegung angehörende> Engelsgleiche Anarchist, wie er sich in
seinem letzen Buch bezeichnet, beschreibt sie als eine „außerordentliche kleine
Frau“ und er hat Recht. Wenn sich gestern – vier Jahre nach jenem aus der
Beretta 92, Kaliber 9mm abgefeuerten Schuss, die zur Ausrüstung des Carabiniere
gehörte, der Carlo tötete – die Piazza Alimonda wieder mit Menschen füllte, dann
dank der kleinen Haidi Giuliani. Dank ihrer Zähigkeit und ihrer Fähigkeit, den
besten Teil dieses vergesslichen Landes um sich herum zu sammeln. Wir haben am
Ende der bewegenden Zeremonie an dem Ort mit ihr gesprochen, der für Viele seit
langem „Piazza Carlo Giuliani – ragazzo (Junge)“ heißt, dem Ort, an dem
eine kleine Säule zur Erinnerung an den Sohn von Haidi und Giuliano errichtet
werden soll, sobald es die Gemeinde Genua erlaubt. Die Entscheidung darüber
wird für kommenden Montag erwartet.
Wieder hier, Haidi – nach
vier Jahren. Welche Bedeutung hat dieses Treffen ?
„Schau’, ich sitze hier auf
der Stufe, auf der ich in den ersten Monaten nach dem Tod von Carlo Tag und
Nacht gesessen habe. Ich tue das nicht, um mich in Szene zu setzen – glaub’ mir
– ich suche keine Aufmerksamkeit. Es ist nur so: Wenn wir aufhören würden, uns
zusammenzufinden und an das zu erinnern, was hier geschehen ist, würde ein
großer Stein <übertragen:
‚ein großer Teppich’> über die Fakten
von Genua gelegt. Denk’ daran, wie oft das in den letzten Jahrzehnten in
Italien der Fall war !“
An Carlo zu erinnern,
hilft uns zu reflektieren. Wie sieht Deine Reflektion heute aus ?
„Carlo sagt uns, dass die
Demokratie ein vorläufiges Gut ist, dessen Grenzen gemäß den Interessen der
Macht verschoben werden. Auch die Legalität ist flexibel geworden. Wir haben
eine wunderbare Verfassung, die uns schützt, die uns bedeutende Garantien gibt.
Leider wird sie nicht angewandt und nicht respektiert. Ich spreche nicht nur
von der Piazza Alimonda und dem G8-Gipfel von 2001. Ich denke daran, wie die
Migranten behandelt werden, an die Sammellager (CPT) und an viele andere
Dinge.“
Es sind viele Leute hier.
Weitere werden zum Konzert kommen, zur Ausstellung und den Debatten dieser
Aktionstage für Carlo. Wenn es einen Abwesenden gibt, dann ist es die Politik.
Auch unsere.
„Ich schaue, meinem
Charakter entsprechend, immer auf die Leute und Leute sehe ich. Es sind Leute,
die Politik machen. Für mich ist das die Politik – die wirkliche Politik. Wenn
Du von groß geschriebener ‚Politik’ sprichst, hast Du Recht, aber zu
verallgemeinern bringt nichts. Um die Kosten zu decken, die mit den Aktionen
dieser Tage verbunden sind, wurde uns – wie in den vergangenen Jahren – von der
Provinz und von den <den
Linksdemokraten (DS) nahe stehenden und sehr etablierten> Kooperativen geholfen. Nur so gelingt es uns, das
Theater für die Ausstellung zu bezahlen. Eine Abwesenheit verletzt mich
besonders und das ist das Genua, das zuschaut. Es sind Genossen aus Genua,
viele Jugendliche und Freunde von Carlo hier auf der piazza, aber die
von außerhalb (aus ganz Italien) kommenden Leute sind vielleicht sogar in der
Überzahl.“
Die Erinnerungen, betonen
die Jugendlichen der genuesischen centri sociali (Sozialen Zentren),
kann kein Paket sein, das in den Gefrierschrank gelegt wird, sondern muss durch
das kollektive Handeln mit Leben erfüllt werden. Bist Du damit einverstanden ?
„Die Erinnerung besitzt dann
einen Wert, wenn sie Anklage ist. Ich hoffe die in diesen Tagen, auf der piazza,
bei den Konzerten, bei der Ausstellung und in den Debatten weiterhin erheben zu
können. Und zwar weil ich sehr große Angst vor der Gleichgültigkeit des Landes
habe. Ich verfolge die Prozesse aus der Nähe und fordere auch Euch auf, sie mit
großer Aufmerksamkeit zu verfolgen. Der Prozess gegen die 25 Demonstranten ist
ein Prozess gegen uns alle, die wir nicht auf das Anprangern verzichten. Wir
müssen denjenigen, die sich auf der juristischen Seite engagieren, auch
finanziell helfen.“
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover