Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Zum Jahreswechsel gab einer der drei führenden italienischen Gewerkschaftslinken innerhalb des Gewerkschaftsbundes CGIL, Giorgio Cremaschi das folgende Interview, indem er grundsätzlich auf die ökonomische Situation Italiens angesichts des Parmalat-Skandals, auf die Misserfolge der seit 1993 verfolgten sozialpartnerschaftlich-devoten Lohnpolitik (beschönigend „Einkommenspolitik“ genannt) und die wilden Streiks der Beschäftigten im öffentlichen Personennahverkehr eingeht. Cremaschi ist überdies der Regionalsekretär der größten italienischen Metallarbeitergewerkschaft FIOM-CGIL im Piemont (Turin etc.), Mitglied des nationalen FIOM-Sekretariats und seit ca. zwei Jahren auch Mitglied von Rifondazione Comunista (PRC) und Mitglied ihrer erweiterten Leitung. Das Interview erschien in der von Rifondazione herausgegebenen Tageszeitung „Liberazione“ vom 4.1.2004. Aufgrund seines grundsätzlichen Charakters hat es nichts an Aktualität eingebüsst.
„Wirklich Schluss machen mit der Einkommenspolitik“
Interview mit Giorgio Cremaschi (Mitglied des nationalen Sekretariates der FIOM). „Das ist nur ein leerer Schwindel.“
Was meinst Du zu den Ereignissen bei Parmalat ?
„Die Parmalat-Krise ist eine der Stellung des italienischen Kapitalismus im internationalen Finanzsystem. Nicht zufällig erschreckt das auch die SEC. Dies ist eine Krise der konkreten Form, in der sich Italien an der Globalisierung beteiligt hat. Eine Form, in der die starken Machtstrukturen <die hinter den Kulissen wirkten> im Meer der internationalen Finanzspekulation aufgegangen sind und häufig davon mit fortgerissen wurden. Eine parlamentarische Untersuchungskommission wäre da sehr von Nutzen. Gerade um zu begreifen, wie sich die schlimmsten Laster des italienischen Kapitalismus mit der brutalsten Globalisierung vereint haben. Es gibt zwei unterschiedliche Wege, um aus dieser Situation herauszukommen: Einer ist die Betonung des autoritären Charakters des Wirtschaftsliberalismus, der andere ist der der Neulancierung der Sozial- und Entwicklungspolitik. In der Mitte zwischen diesen beiden Alternativen gibt es den etwas pathetischen Versuch gemäßigter Kräfte der Rechten und der Linken die Politik des gemäßigten Wirtschaftsliberalismus der 90er Jahre über ihr Ende hinaus fortzusetzen. Diese Politik ist jedoch von den Fakten überholt worden. Entweder geht man mehr nach links oder sehr viel stärker nach rechts. Aber in der Mitte gibt es gerade deshalb nichts mehr zu holen, weil die Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Krise die Notwendigkeit hervorruft, große Entscheidungen zu treffen.“
Die institutionelle Überprüfung einmal beiseite gelassen, hat jemand von rechts <d.h. CISL-Gewerkschaftschef Savino Pezzotta> gemerkt, dass es keine Spielräume für die Sozialpartnerschaft mehr gibt.
„Man müsste ‚ohne Wenn und Aber’ sagen, dass es keinen Sinn mehr hat, zu ihr und zur Einkommenspolitik zurückzukehren, insoweit sie das grundlegende Ziel verfehlt haben: die Entwicklung mit einer gerechten Umverteilung des Einkommens zu verbinden. Am Ende haben wir ein völlig geschwächtes industrielles System mit einer geringeren Konkurrenzfähigkeit als in den 50er Jahren. Und wir haben eine schändliche Lohnsituation. Das ist natürlich Berlusconi zu verdanken. Aber es wäre falsch (und selbst <Linksdemokraten (DS)-Parteipräsident und Ex-Ministerpräsident> D’Alema gesteht das in <der großen linksliberalen Tageszeitung> ‚la Repubblica’ ein bisschen ein) zu verhehlen, dass diese Situation in den 80er und 90er Jahren entstanden ist und d.h. zu den Zeiten der Mitte-Linken. Man muss ganz deutlich sagen, dass diese Krise die gravierendste ist, weil Italien das Land ist, in dem die Politik der niedrigen Löhne total scheitert. Sie war nicht ausreichend, um einem industriellen System, das sich die Investitionen von der Finanzspekulation hat auffressen lassen, Konkurrenzfähigkeit zu verschaffen, während es dagegen ausreichte, um die Binnenentwicklung zu drücken. Jetzt bedarf es einer radikalen Kursänderung. Man darf das Juli-Abkommen <von 1993> nicht verteidigen. Es ist ein leerer Schwindel. Es ist ein sozialpartnerschaftliches Regelwerk, das darauf ausgerichtet ist, die Gewerkschaft an der Ausübung von Druck in Sachen Lohn und Arbeitsbedingungen zu hindern und den Unternehmen die immer weitergehende Reduzierung der Löhne und Gehälter zu gestatten.
Vielleicht hat es in den ersten Jahren (als man auf die scala mobile <d.h. die gleitende Anpassung der Löhne an die Inflation> verzichtete, die Schäden in Grenzen gehalten. Heute schadet es dem Lohn <nachhaltig>. Dazu kommt die absolute Unglaubwürdigkeit der Daten der nationalen Statistik. Wir stehen mittlerweile vor einer paradoxen Situation: Das <staatliche> Zentrale Statistik-Institut (ISTAT) sagt, dass die Löhne gestiegen seien, während alle Zeitungen zusammen mit dem <CGIL-eigenen Forschungsinstitut> IRES, auf der Grundlage einiger strenger Untersuchungen sehr umfangreicher Proben das Gegenteil feststellen. Die Antwort auf diese Krise muss klar und deutlich sein: Die Gewerkschaft muss sagen. Dass ihr Ziel die Umverteilung des Einkommens ist und d.h. die Erhöhung der Reallöhne, um das zurückzuholen, was man eingebüsst hat. Es genügt nicht, das Bestehende zu verteidigen, weil das gegenwärtige Niveau der Löhne und Gehälter inakzeptabel ist. Es ist notwendig Mittel zugunsten der Arbeit umzuverteilen und zwar sowohl auf der Ebene der Löhne als auch auf der der Sozialausgaben und dies impliziert die Entscheidung für eine radikale Konfliktbereitschaft bei den aktuellen Unternehmensentscheidungen.“
Wie beurteilst Du das Abkommen über den neuen Lohntarifvertrag mit zweijähriger Laufzeit bei den Straßenbahn- und Busfahrern ?
„Man verteidigt den nationalen Tarifvertrag nicht dadurch, dass man Abkommen abschließt, die den Lohn nicht schützen und sogar unterhalb der Inflation liegen. Wir als FIOM stehen vor derselben Entscheidung. Die <zum christdemokratischen Gewerkschaftsbund CISL gehörende> FIM und die <zur ehemals PSI-nahen und sich heute als „Bürgergewerkschaft“ verstehenden Gewerkschaftszentrale UIL zählende> UILM haben uns häufig gesagt, dass sie <die Separatabkommen> unterschrieben haben, um den nationalen Tarifvertrag zu verteidigen. Die Handwerker haben – daran möchte ich erinnern – dasselbe vorgeschlagen und nicht etwa die formelle Überwindung des nationalen Tarifvertrages. Sie haben von Verringerung der Lohndeckung gesprochen und diese dabei auf die veranschlagte Inflation reduziert. So ebnet man den Lohnkäfigen den Weg. Ich glaube, dass das eine Linie ist, die man zurückweisen muss. Und an diesem Punkt wird es in den nächsten Wochen ein Kräftemessen geben. Mittlerweile ist klar, dass es einen Angriff auf den ‚23.Juli 1993’ von rechts gibt. CISL und UIL treten in Sachen nationaler Tarifvertrag mit demselben Diskurs auf wie in den 80er Jahren bei der scala mobile, als sie erklärten, dass es – wenn wir sie reduziert hätten – mehr Spielraum für die Tarifpolitik gegeben hätte. Ich denke das genaue Gegenteil ist richtig, nämlich dass es nur mit einem starken nationalen Tarifvertrag, der den Reallohn für alle Werktätigen in Italien erhöht, einen Neuaufschwung der Tarifpolitik geben kann. Die CGIL ist aufgerufen, sich zu entscheiden. Die Linien, die sich gegenüberstehen, sind im Wesentlichen zwei: Entweder die Stärkung des nationalen Tarifvertrages oder seine fortschreitende Reduzierung. Das Geschehen bei den Straßenbahn- und Busfahrern ist ein Signal. Eine moderate Entscheidung auf der Lohnebene kann zu dramatischen Brüchen mit den Werktätigen führen. Um das zu verhindern, müssen die Entscheidungen klar sein: Zuallererst muss man wieder den Werktätigen das Wort erteilen, die Urabstimmung <notfalls> auch nur als CGIL durchführen und sich an ihr Ergebnis halten. Zweitens muss man den sozialen Konflikt neu beginnen. Am 10.Januar endet die von der Regierung in Sachen Renten inszinierte Pantomime. Die CGIL muss diese Gespräche verlassen und den Kampf bis hin zum Generalstreik neu lancieren. Und das auch ohne auf CISL und UIL zu warten.“
Fabio Sebastiani
Nachbemerkung:
Das kompromisslose Beharren der Berlusconi-Regierung auf ihren Rentenreformplänen führte inzwischen dazu, dass auch die ansonsten „einsichtigen“ und „modernen“ Gewerkschaftsbünde CISL und UIL frustriert sind und zusammen mit der CGIL für den 26.März 2004 zu einem Generalstreik gegen die Rentenpläne und für eine intensivere staatliche Industriepolitik mobilisieren. Dazu demnächst mehr.
Vor- und Nachbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover