Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Die Bewegung gegen den so genannten Erstanstellungsvertrag (CPE) im März / April 2006 in Frankreich war die wichtigste soziale Bewegung der letzten Jahre in Europa. Zum einen weil es sich um die spontane, massenhafte und vor der Verletzung der bürgerlichen Spielregeln nicht zurückschreckende Widerstandsbewegung von Jugendlichen (also einer neuen Generation!) gegen die zunehmende Prekarisierung der Lohnarbeit handelte und weil sie seit langem die erste außerparlamentarische Bewegung war, die ihr Ziel erreichte und damit auch psychologisch einen wichtigen Erfolg verbuchte. Was nicht bedeutet, dass bereits alles optimal und nicht mehr verbesserungsfähig wäre. Durchaus nicht. Doch gerade deshalb ist es erstaunlich, wie wenig die in Frankreich gemachten Erfahrungen hierzulande ausgewertet werden.

In der von Rifondazione Comunista (PRC) herausgegebenen Tageszeitung Liberazione vom 18.4.2006 unternahm der Paris-Korrespondent Francesco Giorgini für die italienische Linke zumindest den Versuch dazu. Wir präsentieren hier die deutsche Übersetzung seiner Schlussfolgerungen, auch wenn wir gewisse reformistische und parlamentaristische Hoffnungen und Illusionen darin durchaus nicht teilen. Was die – gegen Le Pen gerichteten, allerdings dennoch höchst fragwürdigen – Wahlaufrufe zugunsten Chiracs bei den Präsidentschaftswahlen von 2002 anbelangt, verleitete ihn das offenbar sogar dazu die Tatsachen ein wenig zu „glätten“ und seinen eigenen Opportunismus (und den der PRC-Mehrheit) auf die gesamte französische Linke zu übertragen. Tatsächlich rief die linkstrotzkistische Lutte Ouvriere (Arbeiterkampf – LO), deren Kandidatin Arlette Laguiller im ersten Wahlgang immerhin 5,7% der Stimmen bekam, für den 2. zum Wahlboykott auf, weil sie genau diese „Kleinere Übel“-Logik nicht teilte! Auch die Stärke des stramm rechten Innenministers und Präsidentschaftskandidaten Sarkozy schätzen wir anders (nämlich größer) ein als der Kollege Giorgini. Dennoch liefert seine Bilanz der Anti-CPE-Bewegung interessantes Material für eine inhaltliche Auseinandersetzung.

 

Einige nach dem Sieg der Anti-Prekaritäts-Bewegungen zu ziehende Lehren:

Vom Niedergang des gaullistischen Machtsystems zur Gegenmacht auf den Straßen.

 

Frankreich: Der angekündigte Tod des CPE, die Krise der République und der Aufschrei der Jugendlichen

 

Die Linke profitiert – sich selbst zum trotz – von den Kämpfen: Es ist kein Zufall, dass die Sozialistin Segolène Royal, ohne den Protest inspiriert oder gar geführt zu haben, in den Umfragen einen Sprung nach vorn macht.

 

von Francesco Giorgini

Paris (Unser Dienst)

 

Welche Lehren lassen sich für die Politik aus dem Fall des CPE, d.h. des von der liberal-gaullistischen Regierung, die nach zweimonatigem Straßenprotest eine herbe Niederlage erlebte, zurückgezogenen Erstanstellungsvertrages, ziehen und welche Auswirkungen wird er jenseits der Alpen sowie im übrigen Europa haben?

 

Die erste Lektion betrifft die Intensität des französischen Antiliberalismus, der vor 10 Jahren (im Herbst `95) das Land lahm legte, um die Sozialversicherung und die Öffentlichen Dienste (mit anderen Worten: den Wohlfahrtsstaat) zu verteidigen. Heute lehnt er im Laufe von 12 Monaten zuerst den Europäischen Verfassungsvertrag als zu stark den freien Markt verherrlichend ab und begräbt dann, unter dem Aufschrei der Anti-CPE-Demonstrationen einen Vertrag, der den Jugendlichen eine vollständige arbeitsrechtliche und existenzielle Prekarität aufzwingen wollte. Man kann über die Fähigkeit der Leute jenseits der Alpen diskutieren, konkrete und realisierbare Alternativen vorzuschlagen. Ihre Klarheit beim Erkennen und Verteidigen der rechtlichen und Verteilungsspielräume kann man allerdings nicht kritisieren.

 

Die zweite Lektion betrifft die demokratische Dialektik, ihre Grenzen und die Zerrüttung der Institutionen der 4.Republik <gemeint ist hier offenbar die 5.Republik !>. Der Präsident (Jacques Chirac) wurde 2002 mit nicht wiederholbaren 82% der Stimmen – also mit den Stimmen der gesamten Linken – gegen das Schreckgespenst der extremen Rechten des Fremdenfeindes Jean Marie Le Pen gewählt, der <im Gegensatz zum „sozialistischen“ Kandidaten Jospin> in die Stichwahl gekommen war. Anstatt dieser Bürde Rechnung zu tragen, schenkte Chirac, der de facto ein Viertel des realen Landes repräsentiert, konservativen und wirtschaftsliberalen Regierungen das Vertrauen, die dann (vergeblich) versuchten, die Politik des Unternehmerverbandes MEDEF umzusetzen. Die marginalisierte und – nach der Niederlage und dem Abgang von Jospin – in einer existenziellen Krise steckende Opposition spaltete sich hingegen in der Frage des EU-Referendums im vergangenen Jahr und noch heute gelingt es ihr – trotz der deutlichen Siege bei den Europa- und den Regionalwahlen – nicht, den Faden eines glaubwürdigen Vorschlags wiederzufinden. Einem Referendum (dem über die EU-Verfassung), bei dem 88% der Abgeordneten und Senatoren erklärtermaßen für das „Ja“ zum Vertrag waren, während am Ende 55% der der Franzosen für das „Nein“ votierten und damit praktisch zur gesamten politischen Klasse <d.h. zu „den Politikern“> auf Distanz gingen. Eine Distanzierung, die die autoritären Impulse der République zum Vorschein bringt: das Fehlen von Gegengewichten, die Irrelevanz der parlamentarischen Dialektik, die Unmöglichkeit einer Überprüfung der Zustimmung oder der Neudiskussion des Wahlmandates sowie die Vielfalt der Legitimationsquellen. Das alles, was die Franzosen die „Präsidentenmonarchie“ nennen, gestattete es dem Favoriten des Monarchen (dem Premierminister De Villepin) sich für einen kleinen Bonaparte zu halten und, ohne irgendeine Sozialpartnerschaft, eine echte Schweinerei wie den Erstanstellungsvertrag zu versuchen. Nur um sich die Statur eines Präsidenten zu geben. Dieses Verhalten zwang die Straße dazu auf irgendeine Weise zur Verfassungsmacht zu werden, ihm eine ganz harte Lektion zu erteilen und seine politische Karriere zu begraben. Vor allem aber delegitimierte sie die Spitzenvertreter des Post-Gaullismus (Sarkozy ausgenommen) und hemmte jedes Regierungsvorhaben bis zu den Wahlen im kommenden Jahr.

 

Die dritte Lektion ist eine für die gauche (die Linke) und zwar in Form guter Wünsche. Sie besteht in der Wiederentdeckung der Tatsache, dass man auch dann einen demokratischen Einfluss ausüben kann, wenn man in den republikanischen Institutionen nichts oder fast nichts zählt. Und dass man aus der Zustimmung auch dann Kapital schlagen kann, wenn man in vier Jahren Opposition nicht zu sagen hat. Die soziale Basis aus kollektiven Interessen und Fordeurngen, die die politische „Klientel“ der Linken bildet und im wesentlichen aus Lohnabhängigen besteht, hat sich weder verflüchtigt noch hat sie resigniert. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass in derselben Woche, in der Gewerkschaften, Schüler und Studenten den Rückzug des CPE erreichten, die potentielle Kandidatin der Sozialisten <d.h. des PS> bei den kommenden Wahlen, Segolène Royal, ohne den Protest auch nur entfernt inspiriert oder gar angeführt zu haben, in vier Wochenzeitungen auf der Titelseite steht und in den Umfragen ihren höchsten Popularitätswert erreicht.

 

Die vierte und letzte (und vielleicht die wichtigste) Lektion betrifft das erste deutliche Anzeichen einer Generation von Jugendlichen, die entgegen allen Propheten des „Jeder für sich!“, die wollten, dass sie sich im Austausch für ein Stück Brot folgsam zeigen, auf der Straße ihre Ausbildung in Sachen Staatsbürgerkunde machten und dabei lernten wie man kollektiv agiert und sich die „res“ <pubblica> – die öffentliche Sache aneignet.

 

Zum Schluss das Post Scriptum zum Superminister des Innern, Nicolas Sarkozy, der mittlerweile fast der Einheitskandidat der Rechten für 2007 ist. Dessen Hypothese einer „ohne Wenn und Aber“ wirtschaftsliberalen und autoritären „rechten Rechten geht, so hegemonial sie innerhalb der <Regierungspartei> UMP auch ist, aus dem Konflikt um den CPE lädiert und redimensioniert hervor und könnte sich als nicht ausreichend erweisen, um ihm im kommenden Jahr den Sessel des Präsidenten der Republik zu sichern.

 

 

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:

Antifa-AG der Uni Hannover