"die tageszeitung" 1.November 2005
INTERVIEW: DANIEL
BAX
„taz“: Herr Levy, in seinen letzten
Jahren erklärte Israel Jassir Arafat zum größten Hindernis für den Frieden.
Jetzt ist er seit fast einem Jahr tot - und neue Verhandlungen sind immer noch
nicht in Sicht. Warum?
Gideon Levy: „Weil
Ariel Scharon nicht an Verhandlungen glaubt - so, wie er überhaupt nicht an
Frieden mit den Arabern glaubt. Er vertraut ihnen nicht.“
Aber die meisten Palästinenser wählten mit Mahmud Abbas einen moderaten
Politiker als Präsidenten. Er lehnte Selbstmordattentate stets ab.
„Sie
dürfen nicht vergessen, dass die Hamas nicht teilgenommen hat an diesen Wahlen.
Ich glaube schon, dass es eine pragmatische Mehrheit gibt, die Mahmud Abbas
unterstützt. Aber sie nimmt konsequent ab, weil er keine Ergebnisse vorweisen
kann.“
Die Hamas gibt Israel immer wieder Grund, alle Verhandlungen abzulehnen.
Haben Sie Angst vor der Hamas?
„Nein,
ich habe keine Angst vor der Hamas. Ich habe Angst vor uns selbst. Wir machen
alles, um die Hamas zu stärken. Natürlich gibt es den Terror, der wirklich
beängstigend ist. Es gab Jahre, da hatten Eltern in Israel Angst, ihre Kinder zur
Schule zu schicken. Das will ich nicht klein reden, auch ich habe Kinder. Aber
es ist eine Frage des Maßstabs.“
Die Hamas stellt doch das Existenzrecht Israels in Frage …
„Diese
Debatte ist doch ein Witz. Israel ist eine regionale Supermacht und seinen Nachbarn
auf jedem Gebiet überlegen. Es gibt keine Waffe auf der Welt, die Israel nicht
besitzt, von der Atombombe bis zu verfeinertem Kriegsgerät.“
Stellt die Hamas denn keine Bedrohung für Israel dar?
„Sie
wäre überhaupt keine Bedrohung, wenn Israel die palästinensischen
Autonomiebehörden in die Lage versetzte, wirklich zu regieren und ihren Leuten
ein paar Fortschritte vorzuweisen. Aber Abbas ist ein General ohne Soldaten. Es
gibt keine Polizeistation und keinen Streifenwagen, die nicht von der
israelischen Armee angegriffen wurden. Wir haben jegliches Symbol der Hoffnung
und der Souveränität zerstört. Und jetzt sagen wir, er soll wirkungsvoll gegen
den Terror vorgehen? Solange die Situation so hoffnungslos ist wie zurzeit,
werden radikale Gruppen weiterhin Zulauf finden. Wenn wir die Hamas bekämpfen
wollen, dann sollten wir das nicht mit Hubschraubern und Kampfflugzeugen tun,
sondern indem wir das Leben der Palästinenser verbessern.“
In jüdischen Gemeinden Europas grassiert, aufgrund des Nahostkonflikts,
die Angst vor einem neuen Antisemitismus. Ist die Angst berechtigt?
„Sie
ist ein Produkt von ehrlicher Paranoia und einem großen Anteil Manipulation.
Paranoia zu haben, bedeutet nicht, dass man keine Feinde hat. Aber indem man
sich selbst ausschließlich zum Opfer erklärt, entlässt man sich aus jeder
Verantwortung. Die späte Golda Meir hat das einmal auf die Spitze getrieben als
sie sagte, nach dem Holocaust hätten die Juden das Recht zu tun, was immer sie wollten.
Das ist natürlich eine extreme Aussage. Aber ich fürchte, viele Juden und
Israelis denken so, auch wenn sie es vielleicht nicht sagen würden. Ich kann
das nicht akzeptieren.“
Und was soll "Manipulation" sein?
„Natürlich
sind auch viele Israelis zu Opfern des Konflikts geworden. Das bedeutet aber
nicht, dass Israel diese Tatsache nicht in zynischer Weise zu eigenen Zwecken
benutzt. Die Agonie und das Leid der Palästinenser kommen in den israelischen
Medien so gut wie gar nicht vor. Nur indem man die andere Seite ausblendet,
kann man sich der Welt als Opfer präsentieren. Israel ist heute ein viel
rassistischeres Land als irgendein Land in Europa. Ein Araber in Israel zu
sein, ist mit mehr Nachteilen und Diskriminierungen verbunden, als irgendwo auf
der Welt ein Jude zu sein. Es ist überhaupt nicht damit zu vergleichen!“
Es scheint, als reagiere Israel lediglich auf den Terror.
„Das
stimmt - aber das ist eine große Lüge. Israel reagiert auf den Terror. Und
gleichzeitig ruft es neuen Terror hervor. Kürzlich etwa hat Israel bei seinen
Angriffen auf den Gaza-Streifen auch eine Schule beschossen. Das hätte ein
internationaler Skandal sein müssen. Aber niemand kümmert sich darum.“
Warum nicht?
„Zum
einen haben die internationalen Medien ein wenig das Interesse am Nahostkonflikt
verloren. Zum anderen kaufen sie den Israelis alle möglichen Lügen ab. Aber es
gibt noch immer eine Menge kritischer Stimmen. Es ist immer noch kein
Vergnügen, ins Ausland zu reisen und zu sagen, man sei Israeli.“
In Deutschland wird Israels Standpunkt offenbar besser verstanden.
„Deutschland
ist ein besonderer Fall. Aber ich gehöre zu denen, die meinen, dass jeder
Deutsche das Recht hat, Israel zu kritisieren. Mehr noch: Jeder, der sich als
echter Freund Israels versteht, sollte Israel kritisieren.“
Auch in den USA versteht man Israel gut. Als nach dem Gaza-Abzug dort
Synagogen brannten, kritisierte George Bush dies als Beispiel für einen neuen
Antisemitismus.
„Das
ist doch lächerlich. Bush sollte sich einmal anschauen, was Israel nach 1948
mit über 400 Moscheen auf seinem Gebiet gemacht hat. Manche wurden zu
Restaurants oder Nachtclubs umgewandelt, andere zu Müllhalden. Es war doch
klar, dass die Gebäude nach dem Abzug zerstört werden würden. Wir hätten sie ja
fast selbst zerstört, der Oberste Gerichtshof hat das unterstützt. Also, warum
sollten wir uns beklagen? Das ist doch absurd. Ich habe allerdings nicht den
Eindruck, dass Bush wirklich an Frieden im Nahen Osten interessiert ist.“
Ist Druck von außen unabdingbar?
„Frieden
im Nahen Osten ist nur möglich durch äußeren Druck. Oder durch noch mehr
Blutvergießen.“
Noch mehr Blutvergießen? Die Lage schien gerade etwas ruhiger.
„Wir
befinden uns in einer Zwischenphase. Es ist wie in einem Boxkampf: Jeder hat
sich in seine Ecke zurückgezogen, um Wasser zu trinken und seine Wunden
behandeln zu lassen, bevor es in die nächste Runde geht.“
Gibt es noch genug Hass für eine weitere Runde? Die Zweite Intifada ist vorbei, Selbstmordattentate gibt es viel
weniger. Die Palästinenser sind doch im Grunde besiegt.
„Sie
sind besiegt, ganz sicher. Aber sie haben nur aufgehört, weil sie müde und
erschöpft sind. Der Hass wird immer stärker, und das mit gutem Grund. Israel
hält in den besetzten Gebieten eines der brutalsten Besatzungsregimes der Welt
aufrecht, und die Siedlungen werden mehr und stärker ausgebaut. Und das ist
schlecht für Israel.“
Warum?
„Weil
das nur die Extremisten stärkt. Die Annahme ist falsch: Je schlechter es den
Palästinensern geht, desto besser geht es Israel. Das Gegenteil ist richtig: Je
besser es den Palästinensern geht, desto besser ist das für Israel.“
Der Terror hat dem Anliegen der Palästinenser schwer geschadet.
„Das
stimmt. Aber wenn sie sich benehmen, dann kümmert ihr Schicksal niemanden mehr.
Die ersten zwanzig Jahre gab es keinen Terror, keinen Widerstand. Die Welt
wurde erst auf die Palästinenser aufmerksam, als sie in den Siebzigerjahren
damit begannen, Flugzeuge zu entführen. Ich habe Ehud
Barak einmal gefragt, was er tun würde, wenn er
Palästinenser wäre. Er war ehrlich genug zuzugeben, dass er sich einer
Terrororganisation anschließen würde.“
Hilft die Mauer gegen den Terror?
„In
gewisser Weise, ja. Aber sie wird nie völlige Sicherheit bieten, und auf der
anderen Seite führt sie zu noch mehr Hass und Verbitterung.“
Ist sie nicht ein Zeichen dafür, dass Israel in Zukunft gewillt ist,
eine Grenze zu ziehen und auf Gebietsansprüche zu verzichten?
„Was
machen dann 200.000 Siedler jenseits dieser Grenze? Sie werden weiterhin von
der Armee beschützt und bekommen öffentliche Gelder. Sie werden nicht ausgeschlossen.
Es wird nur schwieriger, sie zu beschützen.“
Mauern sich die Israelis damit nicht selbst ein?
„Das
stimmt vielleicht auf eine philosophische Art und Weise. Aber Israel befindet
sich ohnehin in einer Art Ghetto, ob mit oder ohne Mauer. Solange die Besatzung
andauert, wird es ein Ghetto sein. Schauen Sie, eine Mauer hat zwei Funktionen:
Man fühlt sich dadurch sicherer, und vielleicht ist man das auch. Und zweitens:
Man sieht den anderen nicht, wenn die Mauer nur hoch genug ist. Das ist der
Trend in Israel: Nicht sehen wollen. Dieser Traum, die Palästinenser einfach
nicht mehr zu sehen, als ob sie nicht existieren würden.“
Sie sind öfter in Gaza unterwegs. Wie stellt sich die Lage dort nach dem
Abzug der israelischen Armee dar?
„Schlecht
wie immer, nichts hat sich grundlegend verändert. Die Tatsache, dass die
Wächter nun das Gefängnis verlassen haben und sich um das Gefängnis gruppieren,
macht für die Gefangenen keinen großen Unterschied. Gut, das Gefängnis ist
jetzt größer.“
War der Abzug nicht richtig?
„Doch.
Aber die Frage ist nicht, ob wir uns hätten zurückziehen sollen oder nicht. Die
Frage ist, ob wir die Palästinenser jetzt in die Lage versetzen, dort etwas
aufzubauen. Wir lassen sie nicht ihren Hafen öffnen oder ihren Flughafen in
Betrieb nehmen, wir schränken ihre Bewegungsfreiheit ein und lassen sie nicht
ins Westjordanland. Das ist der Fehler. Wir sollten ihnen die Freiheit geben,
zu tun, was sie wollen.“
Wie, glauben Sie, wird die Landkarte in zwanzig, dreißig Jahren
aussehen?
„Nach
einem Friedensschluss werden wir zu den Grenzen von 1967 zurückkehren. Wir
werden endlich dort angekommen sein, wo wir schon längst sein sollten.“
Zur Person Gideon Levys:
„Gideon Levy ist israelischer Journalist aus Tel Aviv und arbeitet
für die Tageszeitung ‚Ha'aretz’
unter anderem als Chefredakteur der Wochenendbeilage. Er gehört zu den wenigen
israelischen Journalisten, die über das Leben der Palästinenser unter der
israelischen Besatzung berichten, und ist wegen seiner kritischen Berichte
Angriffen seitens der israelischen Leser und Kollegen ausgesetzt. Gideon Levy
recherchiert in Palästinensergebieten und ermöglicht so den Israelis einen von
der Militärzensur ungetrübten Blick auf die Situation.“ (aus der Information
zum Leipziger Medienpreis, der ihm zusammen mit Daoud
Kuttab verliehen wurde.)
Politisch war Gideon Levy lange Zeit ein enger Mitarbeiter des
Chefs der sozialdemokratischen Arbeitspartei (Avoda),
zweimaligen Ministerpräsidenten und Mitglied der amtierenden Sharon-Regierung,
Shimon Peres.
Das
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findet sich unter: www.taz.de