„Neues Deutschland“ 24.6.2005

 

Das Nein ist eine Chance für Europas Linke
ND-Gespräch mit der FKP-Politikerin Elisabeth Gauthier

 

Elisabeth Gauthier ist Mitglied des Nationalen Exekutivkomitees der Französischen Kommunistischen Partei und gehört zur Leitung des Pariser Zentrums für Austausch und Forschung »Espaces Marx«. Mit ihr sprach für das „ND“ Ralf Klingsieck.


 

ND: Welche Gründe haben beim Referendum dazu geführt, dass 55 Prozent der Franzosen die EU-Verfassung ablehnten?


Gauthier: „Ich glaube, in Frankreich hat sich eine wirkliche Bewegung entwickelt, die verschiedene Quellen hat. Zehn Jahre lang haben die Menschen Erfahrungen im Kampf gegen die neoliberale Deregulierung der sozialen Standards, Privatisierungen und Pensionsabbau gesammelt. Sie haben gelernt, dass diese Orientierung auf europäischer Ebene durchgesetzt wird. Und der Verfassungstext wurde sehr schnell als Konkretisierung, als Konstitutionalisierung dieser Politik begriffen. Dazu haben die monatelange Arbeit der FKP und ihres Europaabgeordneten Francis Wurtz beigetragen, die Zeitung »l'Humanité«, die lange vor allen anderen den Text veröffentlicht hat, aber auch die Aktivitäten von Attac. Als dann das Referendum durchgesetzt wurde, haben viele Menschen, die man vorher nie befragt hat, diese Möglichkeit genutzt, mit dem Stimmzettel ihre Meinung abzugeben.“

Es war also nicht, wie oft vereinfachend gesagt wird, eine Unmutsäußerung gegenüber der Regierung, sondern bewusst ein Votum gegen die EU-Politik?


Das Nein ging – abgesehen von den Anhängern der rechtsnationalen Politiker Le Pen und De Villiers – mehrheitlich in Richtung eines sozialen, eines demokratischen, eines friedensstiftenden Europa. Soziologisch wie politisch ist dieses Nein in der Linken verankert. Davon zeugt auch, dass 70 Prozent der Lohnabhängigen und 80 Prozent der Arbeiter dagegen gestimmt haben. Es ist also ein »Klassenvotum«.“

Reicht es, damit sich die Regierung verpflichtet fühlt, sich für Neuverhandlungen einzusetzen?


Wenn bei einem Referendum 55 Prozent der Bevölkerung so klar ihren Willen zum Ausdruck bringen, müssen Präsident, Regierung und Parlament das im Prinzip anerkennen. Andernfalls müssten sie zurücktreten. Das ist aber nicht passiert. Chirac versucht nun zu lavieren. Aber es wird keine Ruhe eintreten. Wir sehen, dass in ganz Europa mit dem französischen und auch dem holländischen Nein ein Signal gesetzt wurde. Worum es geht, verstehen jetzt auch viele Leute, die in ihren eigenen Ländern gar nicht die Möglichkeit zur Abstimmung haben. Und da, wo wie in Luxemburg, Dänemark oder Tschechien Referenden geplant sind, kommt es zu einem ähnlichen Phänomen wie bei uns: Den Linken, den Lohnabhängigen, den Gewerkschaftern wird bewusst, womit sie es zu tun haben, und die Regierungen kommen unter Druck.“

Im Vorfeld des Votums hat es in der französischen Linken eine Annäherung zwischen der KP, dem linken Flügel der Sozialisten, der radikalen Linken, Attac und anderen Bürgerbewegungen gegeben. Wie soll sich das weiterentwickeln, nicht zuletzt mit Blick auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2007 ?

Das ist in der Tat eine interessante Entwicklung, zumal die Kräfteverhältnisse in Frankreich und in anderen EU-Ländern für die Gewerkschaften, die politische Linke, die sozialen Bewegungen sehr ungünstig sind. Zum ersten Mal gab es eine Sammlungsbewegung, die nicht nur aus politischen Kräften besteht, sondern auch gewerkschaftliche, sozial engagierte und bisher noch gar nicht gebundene Leute erfasst. Sie haben jeweils ihre eigene Kampagne gestartet und sich zugleich zu einer gemeinsamen zusammengefunden, mit gemeinsamen Inhalten und einem gemeinsamem Ziel Alle haben gleichberechtigt zusammengearbeitet, niemand hat Hegemonieansprüche erhoben. Alle waren der Überzeugung, dass die Chance besteht, den Neoliberalismus wirklich zurückzudrängen und sogar einen Sieg zu erringen. Für die nächsten Wahlen haben wir damit schon einen Sockel. Jetzt geht es darum, dass jeder seinen Beitrag leistet für eine antiliberale Alternative. Das ist eine Basis, auf der wir viele Menschen erreichen können. Damit eröffnen sich ganz neue Perspektiven.“

Welche Aufgaben ergeben sich daraus für die Linke in Europa? Das Votum in Frankreich war ja nicht nur ein Signal, es ist auch eine Herausforderung.


Es ist wohl das erste Mal, dass sich die Völker so in die europäische Politik einmischen. Denn dass es eine Krise der EU-Politik gibt, wissen wir schon lange. Die Europawahlen haben das ganz deutlich gezeigt, mit durchschnittlich 57 Prozent Stimmenthaltung und mit dem Erstarken populistischer Parteien überall in Europa. Neu ist, dass die Völker jetzt auf die Tagesordnung treten, mit antiliberalen Inhalten und nicht mit populistischen. Das alles ist zwar noch nicht auf dem Niveau, das wir letztlich brauchen, aber es ist der Beginn einer Trendwende.
Dazu hat sicher beigetragen, dass wir immer klar gemacht haben, dass unser Nein kein antieuropäisches ist, sondern ein Nein der Solidarität mit Europa. Damit wird es möglich, in der EU eine Politik von unten zu machen, was ja eine vollkommen neue Herausforderung darstellt. Das ist Chance und Perspektive. Da können sich noch viele Kräfte in Europa sammeln. So organisieren wir heute und morgen eine Europäische Konferenz in Paris, auf der wir mit Vertretern verschiedener politischer Parteien und Organisationen, von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen diskutieren wollen, ob und wie eine europaweite Dynamik in Gang gesetzt werden kann, die in die gleiche Richtung geht.“

 

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