Antifa-AG der Uni
Hannover:
Unter
den zahlreichen Kommentaren und Interviews, die nach dem französischen und
niederländischen Nein zur EU-Verfassung, dem gescheiterten Gipfel Mitte Juni in
Brüssel und vor Beginn der britischen EU-Präsidentschaft in diversen linken
Zeitungen Westeuropas zu lesen waren, gehört das nachfolgende Interview mit dem
französischen Wirtschaftswissenschaftler Jean-Paul Fitoussi zweifellos zu den
besten, weil nüchternsten und kompetentesten. Offenkundig ist er mehr an den
konkreten Fakten und an einer längerfristigen rationalen Einschätzung der
Entwicklung interessiert als an einem kurzatmigen Katastrophismus, mit dem
Politiker wie Bisky (Linkspartei PDS), Baier (KPÖ) oder Bertinotti
(Rifondazione Comunista) oder „der neue Marx“, Antonio Negri, ihre Unterordnung
unter das Europa des Kapitals bemänteln und den Rattenschwanz des rheinischen
Kapitalismusmodells bilden.
Dr.
Jean-Paul Fitoussi (Jahrgang 1942) ist nicht nur Präsident des
Konjunkturforschungsinstitutes OFCE, sondern auch Professor für Ökonomie am
Institut für Politische Studien in Paris. Er ist auch direkt als politischer
Berater der französischen Regierung (seit 1996 Mitglied der „Wirtschaftskommission
der Nation“ und seit 1997 Mitglied des Rates für ökonomische Analyse beim
Premierminister) sowie als Wirtschafts- und Währungsexperte des
Europaparlamentes (seit 2000) tätig. Darüberhinaus war er von 1990 bis 1993
Vorsitzender des Wirtschaftsrates der Europäischen Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung. Politisch tendiert er leicht nach links, ist (bei einiger Kritik
im Detail) grundsätzlich aber ein Verfechter der EU. Er verfasste eine Reihe von
Leitartikeln für die großen linksliberalen Tageszeitungen „la Repubblica“
(Italien) und „Le Monde“ (Frankreich) und ist Mitglied des Wissenschaftlichen
Beirates der Zeitschrift „International Labour Review“. Die linke italienische
Tageszeitung „il manifesto“ interviewte ihn für die Ausgabe vom 28.6.2005.
INTERVIEW:
„Das ist nicht das Ende Europas“
Der Wirtschaftswissenschaftler
Jean-Paul Fitoussi bestreitet, dass das französische und holländische Nein die
EU Tony Blair ausliefert.
ANNA MARIA MERLO – PARIS
Die programmatische Rede
über das Halbjahr der britischen Präsidentschaft des Europäischen Rates, die
Tony Blair persönlich vergangene Woche vor dem Europaparlament in Brüssel
hielt, sorgt für Diskussionen Blair sprach von „Modernisierung“ und einer
Neuausrichtung des europäischen Haushaltes (der im Augenblick, aufgrund der
Auseinandersetzung, die es beim Gipfeltreffen in Brüssel am 16. und 17. Juni
gab, für den Zeitraum 2007 – 2013 nicht verabschiedet ist) zugunsten der
Forschung und der besseren Ausbildung, wobei die „alten“ Ausgaben, wie die für
die Landwirtschaft, die noch 40% der Gemeinschaftsausgaben absorbiert,
reduziert werden sollen. Der Wirtschaftswissenschaftler Jean-Paul Fitoussi
(Präsident des <Konjunkturforschungsinstitutes> Französisches Observatorium der ökonomischen
Konjunkturen – OFCE) ist von der Blair-Rede nicht im geringsten beeindruckt.
Wird es Blair gelingen,
die Europäische Union aus der gegenwärtigen Krise herauszuführen ?
„Blairs Projekt scheint mir
vor allem in dem Maße rhetorisch und nicht realistisch zu sein, in dem für die
Modernisierung Europas höhere Mittel als die vom europäischen Haushalt
vorgesehenen bereitgestellt werden müssten. Zu sagen, dass das Problem der
Zukunft der Union gelöst wäre, wenn die heute der Agrarpolitik zugute kommenden
Mittel der besseren Ausbildung sowie der Forschung & Entwicklung übertragen
würden, bedeutet alle Leute ein bisschen auf den Arm zu nehmen. Die
Agrarpolitik absorbiert 0,35% des europäischen Bruttoinlandsproduktes (BIP).
Und mit 0,35% bringt man in Sachen besserer Ausbildung, Forschung &
Entwicklung sowie der Innovation nicht viel zustande. Wenn es zu einer
Neuausrichtung der für die Agrarpolitik bestimmten Mittel käme, gäbe es hingegen
eine Renationalisierung der Agrarpolitik. Ist das eine gute Strategie ? Ich
glaube nicht. Europa protegiert seine Landwirte weniger als die USA. Mit
anderen Worten: Bei Blairs Vorschlägen sehen wir, was wir verlieren, aber
nicht, was man gewinnt. Wenn wir die Forschung und bessere Ausbildung zu einer gemeinsamen
Politik machen wollen, dann muss der Haushalt der Union erhöht werden. Zwei
Dinge wären nötig: 1.) den europäischen Haushalt aufzustocken; 2.) die heute
nationalen Politiken in Sachen weiterführender Bildung und Forschung zu
europäisieren. Das ist etwas, das man machen kann, aber es bedarf angemessener
Mittel, um es zu realisieren. Deshalb spreche ich in Bezug auf Blair von
Rhetorik. Auch in der Lissabon-Strategie gab es gute Ideen. Es war eine schöne
Idee aus Europa die konkurrenzfähigste Wirtschaft der Welt zu machen. Es wurden
allerdings nicht die Mittel bereitgestellt, um sie umzusetzen. Wenn Europa
ernst genommen werden will, muss es die Mittel dafür bereitstellen.“
Aber hat Blair,
angesichts der Krise, in die Frankreich und Deutschland schlittern und die
durch die Krise verschärft wird, in die die Union mit der Manifestation der
nationalen Egoismen geraten ist, die es unmöglich gemacht haben, den Haushalt
zu verabschieden, nicht freie Bahn ?
„Alle Länder sind
geschwächt, wenn die großen Wahlen näher kommen. In 1 ½ Jahren werden wir nicht
mehr dieselbe Situation haben. Also wird diese Runde wahrscheinlich an
Großbritannien gehen. Aber von welcher Krise sprechen wir ? Das Ja <zur Europäischen Verfassung in
Frankreich und den Niederlanden> hätte
in der Debatte über die Agrarpolitik nichts geändert, die auf die 80er Jahre
zurückgeht. Das Problem liegt in der Unmöglichkeit im Europäischen Rat über den
Haushalt zu entscheiden, der einstimmig gebilligt werden muss, was mit den
französisch-holländischen Neins überhaupt nichts zu tun hat.“
Haben die Neins, Ihrer
Ansicht nach, eine schwere Krise ausgelöst ?
„Das Nein war nicht
anti-europäisch, wenn man das der extremen Rechten beiseite lässt. Aber das ist
nichts Neues. Im Augenblick passiert gar nichts, aber wir müssen daran
erinnern, dass der <die
EWG begründende> Vertrag von Rom <1957> nach dem Nein zur Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zustande kam. Das heißt sechs Monate nach jenem
Nein war es möglich zum Gemeinsamen Europäischen Markt zu gelangen. Im
Augenblick sind die Spiele <noch> nicht gemacht. Es
gab eine Herausforderung gegenüber den politischen Parteien, die für das Ja
waren, weil sie 20 Jahre lang viele Versprechungen gemacht, aber keine
Antworten auf die Arbeitslosigkeit gefunden haben. Die Tatsache, dass Blair von
der britischen Präsidentschaft profitieren will (das nächste Mal wird es die in
13 Jahren geben), um seine Botschaften rüber zu bringen und die europäische
Führung zu übernehmen, hängt nicht mit dem doppelten Nein zusammen.“
Aber könnte es Blair
gelingen, das auf Flexibilität und geringeren Garantien für die Werktätigen
basierende angelsächsische Modell gegen das rheinische Modell durchzusetzen,
das nicht verhinderte, dass die Angst in der Gesellschaft (mit Hilfe der
Kampagne, die sich in Frankreich um den polnischen Klempner drehte) um sich
gegriffen hat ?
„Ich glaube nicht, dass eine
Bevölkerung, die Gefahr läuft in die Arbeitslosigkeit abzurutschen, es in
diesem Moment akzeptiert, auf den sozialen Schutz zu verzichten. Was die Angst
vor den Standortverlagerungen anbelangt, so ist es normal, dass die
Bevölkerungen die nicht mögen. (Das Gegenteil wäre masochistisch.) Das bedeutet
aber keine Fremdenfeindlichkeit. In den USA passiert derzeit dasselbe. Der
Senat diskutiert darüber, ob das CAFTA (Central America Free Trade Agreement) <in der gegenwärtigen Form
abgelehnt und> neu verhandelt werden
soll.“
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover