Gewerkschaftsforum Hannover:
Zum größten (und – von den drei großen –
kämpferischsten) italienischen Gewerkschaftsbund CGIL (offiziell 5,5 Millionen
Mitglieder, davon allerdings die Hälfte Rentner) gehört auch die erst 2002
gegründete Gewerkschaft für Leiharbeiter und andere “Neue
Arbeitsidentitäten” NIDIL (http://www.nidil.cgil.it/).
Den vom linksliberalen Nachrichtenmagazin “L’Espresso”
am 8.2.2006 referierten offiziellen Zahlen zufolge kam sie Anfang des Jahres
22.000 Mitglieder. 54% davon sind jünger als 40 Jahre. Der Frauenanteil beträgt
53%. Die Mitgliederentwicklung sei nach wie vor stark ansteigend.
Aus Anlass der Wahl einer neuen Führung
führte die von Rifondazione Comunista
(PRC) herausgegebene Tageszeitung “Liberazione”
das folgende Interview mit der neuen Generalsekretärin Filomena Trizio. Es erschien am 20.9.2006 und zeigt
eine sozialpartnerschaftliche, sozialdemokratische Gewerkschaftsführerin par
excellance. Leiharbeit war gut als sie von der
ersten Regierung Prodi und seinem Arbeitsminister Tiziano Treu im Juni 1997 eingeführt wurde, aber schlecht
als Silvio Berlusconi diesen qualitativen Sprung in reaktionärer Richtung aufgriff
und quantitativ weiterentwickelte. Flexibilität ist gut (zumindest wenn es vor
ihrer Einführung oder Verschärfung ein Plauderstündchen zwischen den ‚Sozialpartnern’ gibt), Prekarität
hingegen schlecht usw. Die einfachste Logik fällt hier ebenso hinten runter wie
die grundlegenden Interessen der Lohnabhängigen. Insofern ein Interview, das nicht
nur weitere Einblicke in die italienische Gewerkschaftslandschaft gibt, sondern
auch dazu animieren sollte, bei jeder Kritik prekärer Beschäftigung genau
hinzuhören!
Neue Sekretärin der “Atypischen” der CGIL gewählt. Es ist Filomena Trozio.
“Die NIDIL an die Branchengewerkschaften:
Arbeiten wir in den Arbeitsstätten zusammen!”
Fabrizio Salvatori
Die NIDIL hat eine neue
Führung. Anstelle von Emiliano Viafora
wurde mit breiter Mehrheit Filomena Trizio
gewählt (53 Ja-Stimmen, eine Gegenstimme, zwei Enthaltungen und ein leerer
Stimmzettel). Aus Bari stammend und mit einem Hochschulabschluss in Philosophie
beginnt Filomena Trizio ihre Gewerkschaftskarriere
vor 30 Jahren mit der Leitung zuerst der <CGIL-Handels-, Hotel und Dienstleistungsgewerkschaft> FILCAMS und dann der <Textil- und Bekleidungsgewerkschaft> FILTEA von Bari. Mit dem Arbeitsmarkt beschäftigt
sie sich seit 1989 als sie zur Kammer der Arbeit von Bari wechselte und dann
1987 im CGIL-Regionalsekretariat Apuliens.
Welche neue Phase wird
die NIDIL unter Deiner Führung in Angriff nehmen?
“Die NIDIL war ein positives
Wagnis der CGIL, der Versuch sich um die prekäre Beschäftigung zu kümmern. Die Prekarität entspricht oftmals nicht einer echten Nachfrage
des Marktes. Die NIDIL hat eine starke und wichtige Arbeit geleistet. Es geht
darum, einen bereits eingeschlagenen Weg weiterzuverfolgen und zwar über eine
enge Zusammenarbeit mit den Branchengewerkschaften und mit dem doppelten Blick,
einerseits auf die Stabilisierung zu setzen, aber zugleich auch die
Verbesserung der Arbeitsbedingungen anzustreben.”
Es ist mittlerweile zehn Jahre her, dass die
tarifvertragliche Flexibilität in Italien offiziell eingeführt wurde. Fühlst Du
Dich in der Lage eine Bilanz zu ziehen?
“Wir haben verschiedene
Phasen erlebt. Ich bin davon überzeugt, dass die Flexibilität als solche nicht
mehr an den Absender zurückgeschickt werden kann. Ich spreche von der
Flexibilität als Geschmeidigkeit / Anpassungsfähigkeit (duttilità)
zwischen Arbeitszeiten und dem Instrumentarium des Arbeitsmarktes. Diese
Flexibilität kann in dem Maße in Ordnung sein, in dem sie ein echtes Element
der Tarifpolitik ist, auf echte Erfordernisse reagiert und einer
Reglementierung unterworfen ist. Das wirkliche Problem ist in den letzten fünf
Jahren aufgebrochen. Vorher gab es in den eingeführten Formen eine Idee von
Flexibilität, die wie auch immer auf eine Beziehung zwischen den Parteien
setzte. Der Leiharbeiter war faktisch besser geschützt. Der Punkt des Verfalls
kam danach als man die Flexibilität genommen und sie zu einem Supermarkt der
Unternehmen gemacht hat, in dem die Unternehmen mit Blick auf die Kostensenkung
auswählten. Die Projekt bezogenen Arbeitsverträge vom Lohn der abhängig
Beschäftigten abzukoppeln und den finanziellen Vergleich unmöglich zu machen,
das ist der entscheidende Punkt und in dieser Reihenfolge müssen wir das Feld
von den fiktiven Formen säubern. Um dies zu tun, bedarf es einer Tarifpolitik /
Tarifverhandlungen, aber auch einer normativen Regelung, zur Unterstützung, die
als primäre Abschreckung wirkt. Der Punkt ist, dass die Projekt
bezogenen Arbeitsverträge eine Nische auf dem Arbeitsmarkt darstellen. Das ist
der Punkt, an dem man arbeiten muss.”
Wie entwickelt sich diese
Kontaminierung zwischen NIDIL und den Branchengewerkschaften?
“Es gibt eine direkte
Zuständigkeit der NIDIL für die Tarifverhandlungen mit den
Zeitarbeitsagenturen. Auf der anderen Seite – bei der betrieblichen Prekarität – ist die Situation unterschiedlich. Die große
Frage ist, wie die NIDIL-Arbeit mit den
Branchengewerkschaften verflochten ist und umgekehrt, da jeder in seinem Bereich
ein Stück Prekarität hat. Was die Projekt bezogenen
Arbeitsverträge anbelangt, gibt es eine Kluft. An diesem Segment muss man
arbeiten, indem sich jeder mit seinen Besonderheiten dem so weit wie möglich
nähert.”
Glaubst Du nicht, dass
die Auseinandersetzung in den Call Centern ein
bedeutender Kampf ist?
“Die Realität der Call Center ist dabei abnorm zu werden. Das ist ein
expandierender Sektor. Es muss gelingen einen eindeutigen Ansatz auf dem
gesamten nationalen Territorium zu entwickeln, mit dem Tarifverhandlungen
einheitlich geführt werden. Ganze Unternehmen mit Tausenden von Beschäftigten
werden mit Projekt bezogenen Verträgen geführt. Dort drinnen in irgendeiner
Weise tätig zu werden (mit allen Begrenzungen, die die Gesetzgebung festgelegt
hat), fängt an ein Problem aufzuwerfen. Der Punkt ist, dass es gelingen muss,
die Tatsache klarzustellen, dass wir einem unangemessenen Gebrauch der Projekt bezogenen Arbeitsverträge gegenüberstehen.
Während man das unter den Parteien klarmacht, muss man gleichzeitig das Ziel
der Stabilisierung <der
Arbeitsverhältnisse> verfolgen und
zugleich an den Arbeitsbedingungen arbeiten. Es ist ein Konzert aller
übergeordneten Subjekte nötig. Es muss eine vollständige Linie entwickelt
werden, an der alle arbeiten.”
Wie stellst Du Dir vor,
dass ein atypischer und ein abhängig Beschäftigter miteinander reden können?
“Vor über 15 Jahren stellte
sich mir in der CGIL das Problem der Vereinigung. Das ist eine Angelegenheit,
die die schwächsten Gruppen betrifft, gewiss. Aber ich habe immer geglaubt und
die Auffassung vertreten, dass diese Formen am Ende auch die stabilen Formen <der Lohnarbeit> angreifen und schädigen. Das ist ein bisschen so als
ob die böse Nometa die gute vertreibt. In Turin wurde
die Auseinandersetzung so gewonnen als die Immigranten und die FIAT-Arbeiter
aufhörten sich gegenseitig zu bekriegen. Am Ende zahlen alle drauf, wenn man
diese Herausforderung nicht in die Hand nimmt.”
Vorbemerkung, Übersetzung und
Einfügungen in eckigen Klammern:
Gewerkschaftsforum Hannover