Antifa-AG
der Uni Hannover:
Auch Professor Antonio Negri – für Teile der radikalen Linken Italiens und Europas
noch immer (oder sogar mehr denn je) eine zentrale Bezugsperson und für manche
gar „der neue Marx“ bzw. „der Autor des Kommunistischen Manifests des
21.Jahrhunderts“ – hat sich an einer Analyse der Riots
in den Pariser und den französischen Banlieues von
Ende Oktober bis Mitte November 2005 versucht, sinnigerweise in einem langen
Interview für die FIAT-eigene Tageszeitung „La Stampa“. Wir bringen hier erstmals die deutsche
Übersetzung, da es unseres Wissens bislang keinen deutschsprachigen Text Negris zur Banlieues-Revolte
gibt. Angefertigt haben wir sie aufgrund seiner Prominenz, obwohl wir
seinen Theorien und politischen Orientierungen sehr kritisch gegenüberstehen.
Wir sind keine Negristen und haben auch nicht vor,
welche zu werden. Ganz im Gegenteil. Negris, mit
plumpem Antiamerikanismus unterfüttertes Plädoyer für ein Ja zur EU-Verfassung
(siehe z.B.: http://antifa.unihannover.tripod.com/Scalzone_contra_Negri.htm)
war schlicht reformistisch und pro-imperialistisch. Wobei Negri
– im Gegensatz zu den Antideutschen – den EU-Imperialismus bevorzugt und schönredet.
Ebenfalls hellhörig machen sollte, dass die französischen Negristen
um die Zeitschrift „Multitudes“ (mit Billigung des
Meisters) den französischen Grünen angehören und auch der Negri-nahe
Kopf der nordostitalienischen Disobbedienti
(Ungehorsamen), Luca Casarini, in der letzten Zeit
des Öfteren mit den italienischen Grünen liebäugelte. Hochgradig peinlich war
schließlich Negris Auftritt auf dem Europäischen
Sozialforum im Herbst 2003 in Paris, wo er in seinem Einleitungsreferat auf
einer eigens zu seinem Buch „Empire“ veranstalteten Diskussion vor ca. 600
Leuten selbst Träume zu „Arbeit“ erklärte und dem staunenden Publikum seine
„Entdeckung“ mitteilte, dass Frauen eine „natürliche Veranlagung“ zur
Hausarbeit und insbesondere zum „Wiederfinden von
Socken“ hätten, wie man an seiner Frau sehen könne. Solche Klopfer sowie eine
verzerrte Darstellung und Schmähung der französischen radikalen Linken (zugunsten
der „offiziellen Linken“!) blieben auch den Leserinnen und Lesern des folgenden
Interviews aus „La Stampa“ vom 13.11.2005
nicht ganz erspart. Und sie erfahren, dass es für Negri
in erster Linie um „Flucht“ und „Fluchtwege“ aus dem Neoliberalismus (und
Kapitalismus??) geht.
Die italienische Originalversion ist auf
der Homepage des autonomen „Global Project“ dokumentiert unter: http://www.globalproject.info/print-6388.html
Toni Negri: „Da, endlich die Revolte. Aber bis zur Revolution
ist noch Zeit.“
von Jacobo
Jacoboni
„Was für Banden! Die
Explosion der Banlieues
ist kein improvisierter, örtlich begrenzter Aufstand. Und selbst wenn dem so
wäre, stände sie in einem radikal veränderten gesellschaftlichen Kontext,
dessen grundlegende Merkmale die Krise des Fordismus
und (nicht nur in Frankreich) das Fehlen einer politischen Antwort auf diese
Krise sind. Deshalb bleibt es für mich eine Revolte, aber ich könnte auch
sagen: ein Aufstand <“Insurrektion“>,
wenn wir diesen Begriff in einer milden Bedeutung verstehen.“ Es ist klar, was
fehlt, um von einem echten Aufstand zu sprechen: „Es fehlt ein politisches
Bewusstsein der Ziele. Das, was Marx das ‚für sich’ nannte. Diese Bewegung will
etwas, aber sie weiß noch nicht, was sie will.“ Toni Negri,
der böse Meister der Autonomia, der Mann, der `79
wegen „bewaffneten Aufstands gegen den italienischen Staat“ verhaftet wurde (zu
30 Jahren verurteilt, wurde die Strafe auf 13 Jahre reduziert), ist zurück.“
Erneut im Mittelpunkt der
Debatte stehend, nachdem die „New York Times“ seinem Buch „Empire“,
das er zusammen mit Michael Hardt verfasst hat, eine ganze Zeitungsseite
widmete und <das
linksliberale französische Wochenmagazin> „Le Nouvel Observateur“
ihn zu den 20 größten Philosophen des Jahrhunderts zählte, ist Negri aus Mar del Plata
(Argentinien) zurückgekehrt, wo er den Anti-Bush-Protest
verfolgt hat. Nun sitzt er im Salon seines neuen Hauses in Venedig, mit Büchern
an den Wänden, sehr vielen angelsächsischen Zeitschriften und den letzten
Ausgaben von „Le Monde“ auf einem Tischchen.
Ein Großteil der
internationalen Presse hat versucht, die Explosion der Banlieues
dahingehend zu interpretieren, dass sie darin das Scheitern des französischen
Integrationsmodells sehen. Ist das eine Erklärung, die Sie überzeugt?
„Absolut nicht. Weil: Ist
das angelsächsische Modell vielleicht nicht gleichermaßen gescheitert? Schauen
Sie sich das Amerika von New Orleans oder das England des 7.Juli an, mit den
Terroristen, die geborene Engländer im wahrsten Sinne des Wortes sind,
gekleidet wie Engländer und Jugendliche, die in den Pub
gehen und sich mit Bier betrinken, bevor sie zur Bombe werden… Das Scheitern
der beiden multikulturellen Modelle ist nicht der Punkt.“
Jetzt werden Sie sagen:
Das hat mit der Arbeitsorganisation zu tun.
„Hinter den in Flammen
stehenden Banlieues verbergen sich mindestens
drei Elemente: Das fordistische Industriemodell, das
dauerhafte Beschäftigung vorsah, und ein, vom Staat unterstütztes, unbestimmtes
Wachstumsschema befinden sich in der Krise. Sodann hat sich diese Krise mit den
wirtschaftlichen Globalisierungsprozessen verbunden. Hinzu kommt eine
neoliberale Politik der öffentlichen Ausgabensperre, die eine Krise der
Wohlfahrtsinterventionen hervorruft. Nicht die Integration, sondern das völlige
Fehlen einer politischen Antwort auf die Krise des Fordismus
ist hier das Problem. Diese mangelnde Antwort ist mit der Krise der
demokratischen Vertretung verbunden.“
Aber Entschuldigung,
warum befinden sich die Peripherien nur in Frankreich in Wallung und in Italien
nicht? Die postfordistischen Dynamiken sind auch bei
uns dieselben.
„Zum Teil deshalb, weil wir
eine sozial weniger weit entwickelte Gesellschaft sind. Und dann weil diese
Fermente (paradoxerweise) bei uns zum Teil erschöpft sind. Die 70er Jahre haben
ein Potenzial sozialer Kämpfe entladen. Oder besser gesagt: Italien oder
Deutschland haben das `68 um 10 Jahre verlängert. Auf diese Weise haben sie
allerdings auch die Effekte vermindert. Jedoch aufgepasst: Protestbewegungen
gibt es bei uns bereits. <Die
Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeitszugstrecke TAV im piemontesischen> Val di Susa, die Bewegungen für Wohnraum in den
Städten, die Kämpfe der Migranten gegen die <Sammellager> CPT…“
Prodi sagt, dass auch die italienischen Peripherien bald
explodieren werden. Stimmen Sie also zur Hälfte mit ihm überein?
„Hm, Prodi
übertreibt in einer Hinsicht und ich bezweifele, dass er wirklich etwas von den
Peripherien versteht. Was <den ehemaligen Parteivorsitzenden des neofaschistischen MSI und
heute der „geläuterten“ Alleanza Nazionale
sowie amtierenden italienischen Außenminister> Fini anbelangt, nun gut, für den bedeutet die Tatsache, dass es keine
Explosion gegeben hat, dass es das Problem nicht gibt… Berlusconi weiß nicht,
was er sagen soll. Und dann, was soll er über Immigration sagen, so eingezwängt
wie er zwischen <dem
zweitwichtigsten Mann der rechtspopulistischen und militant-rassistischen Lega
Nord> Calderoli
und den Schlauheiten der Christdemokraten vom Schlage eines <Innenministers> Pisanu ist?“
Und die Franzosen? 1990
fragte sich Mitterand: „Was kann sich ein Jugendlicher in einer schmutzigen
Mietskaserne unter einem grauen Himmel und bei einer Gesellschaft, die
wegschaut, erwarten?“ Und doch hat sich der Verfall unaufhaltsam
fortgesetzt. Hat der französische Sozialismus gute Vorsätze und ein schlechtes
Bewusstsein?
„Schauen Sie, ich denke,
dass sind sehr unterschiedliche Persönlichkeiten, aber sowohl Mitterand wie
Chirac (ein Republikaner und ein Monarchist) wussten sehr genau, was passieren
würde. Und genau wie sie waren sich die französischen Eliten (vor allem die
große Erkenntniszufuhr, mit der die Soziologie die französische Administration
versorgt), über die explosiven Dynamiken sehr genau im Klaren, die in den Banlieues heranreiften. Aber was konnten sie tun?
Sie wurden selbst von dieser neoliberalen Welle attackiert, die die Konflikte
und die Revolten verschärft und ihnen jede Möglichkeit genommen hat, die
Transformation zu steuern?“
Verzeihen Sie, was
bedeutet das, dass die Politiker im Voraus entschuldigt sind? Wenn es immer die
Schuld der neoliberalen Dynamik ist…
„Sicherlich nicht. Ich sage
nur, dass die Revolten Ausdruck der Unfähigkeit des Neoliberalismus sind,
staatliche Politik zu betreiben. Ich spreche da nicht nur von Dirigismus,
sondern von der Fähigkeit des Staates governance
auszuüben, d.h. sich in ständigen Kontakt mit den Bewegungen zu begeben. Eine
Fähigkeit, die der Fordismus, bei allen seinen Übeln,
besaß.“
<Der
französische Innenminister> Sarkozy hat die Jugendlichen der Peripherien „racaille“ (Abschaum) <direkt übersetzt: „Gesindel“, „Pack“,
„Mob“> genannt. Gibt es,
über die Szenarien hinaus, eine politikasterhafte
Politik oder nicht?
„Sarkozy
war unvorsichtig und unverzeihlich. Es ist aber nicht das erste Mal, dass ein
Politiker in Frankreich die Banlieue-Jugendlichen
‚racaille’ nennt. Das haben sie schon tausende
von Malen zu ihnen gesagt. Nur, dass die Leute jetzt explodiert sind. Es gibt
einen Event.“
Es macht jedoch ein
bisschen was aus, dass in dem, was Sie „Revolte“ nennen, die Renaults
der Arbeiter brennen und nicht die Porsche Cayennes der Dealer. Was für eine
Revolte ist das?
„Die Sache ist, dass die
Dealer die Autos in der Garage stehen haben! Ich kenne einige Schulen in Epinay sur Seine gut. Das ist die
einzige Banlieue, in der es nur ein Dutzend
verbrannter Autos gab, aber nicht die Explosion wie in Clichy.
Und wissen Sie warum? Weil in Epinay vielleicht das
auf den Mullahs und den Herren der Droge basierende
Gleichgewicht herrscht. Auch in Italien gibt es dort, wo die Mafia <stark> ist, oftmals keine Revolte.“
Das ändert nichts daran,
dass Autos von wehrlosen Leuten verbrannt und sogar Behinderte verprügelt
werden. Das ist nicht gerade unsere Vorstellung von sozialem Kampf oder?
„Was sind angesichts dieser
epochalen Vorstöße eine Handvoll verbrannter Autos? Und dann brannten die
Autos, weil die Leute nicht auf die Straße gegangen sind, um sie zu
verteidigen. Glauben sie mir, die Leute in diesen Vierteln sind nicht so gegen
diese Jugendlichen.“
Viele sind
eingeschüchtert. Ein 61jähriger Rentner wurde gerade deshalb getötet, weil er
diese Autos verteidigte. Bedeutet, von „Aufständischen“ zu sprechen,
nicht, ihnen eine Legitimität zu verschaffen, die sie nicht haben?
„Ich bin kein Zyniker. Und
auch kein Macchiavellist. Ich habe für jeden, der
getötet wird, menschliches Mitgefühl und empfinde Schmerz. Aber die Tatsache,
dass es bei einem Feuer von diesen Ausmaßen nur zwei Tote gibt, würde mich
nicht erschüttern. Und was machen wir mit den beiden <auf der Flucht vor den Bullen> durch Stromschläge Getöteten <Jugendlichen, die Auslöser der
Revolte waren> ? Und wie viele Jugendliche wurden verletzt? Und wie
viele von diesen Jugendlichen wurden bei anderen Gelegenheiten durch
rassistischen Schwachsinn getötet?“
Sie werden nicht
bestreiten, dass diejenigen, die wehrlose Bürger treffen, denjenigen gute
Gründe liefern, die zu einer nur repressiven Sicht des Problems neigen.
„Es besteht kein Zweifel,
dass Sarkozy provoziert hat, auch wenn er die
Reaktion, die es dann gab, nicht erwartet hat. Darüber hinaus hat er vorher und
nachher wiederholt ein heuchlerisches Verhalten an den Tag gelegt, indem er
positive Diskriminierungsmaßnahmen vorschlug <nach dem Motto>: Helfen wir den guten Negern und unterdrücken wir die bösen Neger.“
Es gibt Leute, die ihm
politische Kalküle im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen vorgeworfen
haben.
„Sarkozy
hat ein Problem: zu verhindern, dass die Rechte der gaullistischen Kandidatur
einen großen politischen Spielraum nehmen kann. Sowohl Le Pen als auch <der rechtskonservative> De Villiers (dieser
Letztere ist von den Gaullisten etwas steuerbarer) können viele Stimmen holen.
Und stattdessen denkt Sarkozy an eine Hegemonie über
die gesamte Rechte. Heute scheint mir dieses Projekt in einer Krise zu
stecken.“
<Ministerpräsident> De Villepin hat
stattdessen finanzielle Hilfen versprochen.
„De Villepin
und – wahrscheinlich – Chirac sind anfangs behutsam damit umgegangen. Dann
haben sie reagiert, wie es ihnen gebührt. Einerseits indem sie Ordnung
versprachen, andererseits, indem sie versuchten, das zurück zu gewinnen, was
von diesen Peripherien zurück zu gewinnen war. Aber am Ende könnte auch noch
eine dritte gaullistische Kandidatur auftauchen.“
Um ehrlich zu sein, auch
die Linke humpelt.
„Sehr gut, was die
offizielle Linke anbelangt. Aber die offizielle Linke ist heute in Frankreich
in der Minderheit. Mehrheit ist eher die Linke, die zur Europäischen Verfassung
Nein gesagt hat. Das ist eine souveränitäts-orientierte,
in übertriebener Weise republikanische Linke, die bezüglich der Banlieues nichts zu sagen hat.“
Und die Pariser
Intellektuellen? Es ist nicht so, dass man von denen viel gehört hat.
„Aber wann haben die während
all der letzten großen innenpolitischen Ereignisse jemals Lebenszeichen von
sich gegeben? Die studieren <nur die Frage>, wo sich
das Segel der Macht wendet.“
Kann man die „Revolte“
zu positiven Ergebnissen lenken?
„Die Logik des
Premierministers geht nicht sehr weit über die Barmherzigkeit / das Almosen
hinaus, während hier eine echte Eröffnung von Beteiligungsprozessen nötig wäre,
die eine ernste Angelegenheit sind (d.h. etwas anderes als die italienischen
Vorwahlen <zur Kür
des Spitzenkandidaten der Mitte-Links-Union>, oh die schönen!), wo alle abstimmen und alle einbezogen sind. Die
Beteiligung wurde von den Machtverhältnissen, von funktionierenden Schulen,
Sparkassen, die die Zinsen senken usw. zur Diskussion gestellt.“
Auch Sie sagen, dass es
hier am politischen Ziel mangelt, um von „Aufstand“ zu sprechen. Wo sind
die Forderungen dieser Jugendlichen?
„Das Problem ist, dass sie
wissen, was sie nicht wollen und nicht, was sie wollen. Das ist ein großes
Schlamassel. Mein Freund <der
PCF-Abgeordnete und -Administrator> Patrick Braouezec, der
ehemalige Bürgermeister und nun Präsident der Region Saint Denis, sagte am Tag
danach, dass es hier eines neuen Abkommens von Grenelle
bedürfe (des Abkommens zwischen Gewerkschaften und Regierung, das `68 – mit
Pompidou an der Regierung – geschlossen wurde, um `68 zu stoppen). Aber damals
forderten die Arbeiter Lohnerhöhungen, eine Änderung der hierarchischen
Struktur, eine Öffnung hin zu Formen von Wohlfahrtsstaat. Die Banlieue-Jugendlichen können nur einen Fluchtweg
suchen. Sind Sie nicht der Ansicht, dass ein Recht auf Flucht zu einem
Menschenrecht geworden ist? Sicher, die Phase von Seattle <d.h. den dort 1999 begonnenen
Anti-Globalisierungsprotesten> ist
vorbei. Aber das Ende des Alternativ-Globalisierungszyklus hat einen Zyklus von
Kämpfen entstehen lassen, der sich die vorangegangenen Bewegungen komplett
zunutze gemacht hat. In Frankreich wie in Argentinien.“
Französisch-islamische
Frauen gibt es auf den Pariser Barrikaden nicht, haben Sie das bemerkt? Hat
Olivier Roy Recht, dass es die dort nicht gibt, weil sie braver sind als die
Männer, sich stärker integrieren, also weniger Wut haben? Oder weil die Brüder
und Ehemänner sie isoliert halten?
„Ich wäre da vorsichtig. Sie
sagen, dass die nicht da waren? Hm, ich war vor kurzem in Teheran und habe
gesehen, wie die Frauen auf immer revolutionärere Weise mit dem hijab spielen, ihn jede Stunde einen Zentimeter
weiter herunterlassen. Und doch erwartet man es nicht. Und in Paris sind sie
vielleicht nicht fotografiert worden, aber glauben Sie, dass diese
Jugendlichen, die Autos abfackeln, keine Liebe machen? Dass hinter jedem von
ihnen keine Frau steht? Der wahre Film, um die Banlieue
zu verstehen, ist nicht ‚Hass’ von Kassovitz, <so> kalt und metallisch. Der wahre Film ist ‚L’equive’ (Das Ausweichen / Entkommen). Eine Lehrerin
versucht vor einer arabisch-maghrebinischen Klasse einen Text von Marivaux vortragen zu lassen. Am Anfang bemühen sich alle.
Dann zerbricht etwas. Und gerade die affektiven <gefühlsmäßigen> und erotischen Entwicklungen, die zwischen den Jugendlichen
stattfinden, produzieren die Revolte. Am Ende weigert sich die Klasse das Spiel
des Zufalls und der Liebe vorzutragen, das die Komödie des weißen Bürgertums
ist. In derselben Weise werden auch die französisch-islamischen Mädchen der Banlieue grundlegend verändert daraus hervorgehen
und an dieser Revolte teilnehmen.“
Negri, glauben Sie noch immer an den Einsatz der
politischen Gewalt als Lösung für die Probleme der post-industriellen Krise in
den westlichen Gesellschaften?
„Zusammen mit Michael
(Hardt; Anm.d.Red.) haben
wir versucht, uns einen anderen Exodus aus dieser in der Krise steckenden
Gesellschaft vorzustellen. Beim Exodus muss man (so wie Moses Aron hatte) eine
Nachhut haben, die auch die Waffen einsetzt, um sich zu verteidigen. Das ist
der Widerstand, weil die Realität so ist, weil die Welt so ist. Und die Moltitudine (Vielzahl) arbeitet auf diese Weise, auf
der Jagd nach jenem Fluchtweg, den sie in den Banlieues
gegenwärtig suchen, ohne ihn noch gefunden zu haben.“
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen
Klammern:
Antifa-AG der
Uni Hannover