Antifa-AG
der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Den folgenden
Leitartikel von Rossana Rossanda zu den Aufsehen erregenden Nein-Voten bei den
EU-Verfassungsreferenden in Frankreich und Holland Ende Mai/ Anfang Juni
entnahmen wir der linken italienischen Tageszeitung „il manifesto“
vom 3.6.2005.
Für alle, die sie nicht kennen: Die mittlerweile 81 Jahre alte, publizistisch und politisch aber nach wie vor sehr aktive Rossana Rossanda, lebt in Rom und war Ende in den 60er Jahren als Vertreterin des linken Flügels Mitglied des Zentralkomitees der italienischen KP (PCI). Nachdem sie Ende der 60er Jahre mit anderen zusammen ausgeschlossen wurde, widmete sie sich dem Aufbau der Zeitung und der kommunistischen Gruppe “il manifesto”, die zunächst moderat maoistisch, vor allem aber bewegungsorientiert war und später mit anderen Linken die Partei der Proletarischen Einheit (PdUP) schuf. Seit diese Partei Ende der 70er Jahre wieder auseinander fiel, ist sie parteipolitisch nicht organisiert und konzentrierte sich auf ihre Tätigkeit als linke Journalistin und Publizistin. Lange Jahre war sie Chefredakteurin der Tageszeitung “il manifesto” und veröffentlicht auf deren Seiten bis heute regelmäßig Kommentare und Kolumnen. In deutscher Sprache sind von ihr zahlreiche Bücher und Broschüren erschienen, darunter: “Über die Dialektik von Kontinuität und Bruch – Zur Kritik revolutionärer Erfahrungen in Italien, Frankreich, der Sowjetunion ...” (Frankfurt/M. 1975), “Auch für mich – Aufsätze zu Politik und Kultur” (Hamburg 1994) und zusammen mit Pietro Ingrao: “Verabredungen zum Jahrhundertende – Eine Debatte über die Entwicklung des Kapitalismus und die Aufgaben der Linken” (Hamburg 1996).
Leider
weist ihre Stellungnahme zu den Nein-Voten und der EU-Verfassung allerdings
auch erhebliche Defizite auf. So beschränkt sich ihre Zielsetzung auf die
Renaissance einer linkskeynesianistischen Politik und vertritt alles andere als
eine antagonistische Position zur „europäischen Einigung“, die ja faktisch
nichts anderes ist und nichts anderes sein kann als die Herausbildung eines
neuen kontinentalen kapitalistischen Staates, der als „Global Player“
notwendigerweise auch eine verschärfte imperialistische Politik betreiben wird.
Aufgrund der Bedeutung Rossana Rossandas in der radikalen Linken Italiens und
ihrer Bekanntheit auch hierzulande haben wir uns allerdings dennoch die Mühe
einer Übersetzung ihres Leitartikels gemacht.
Das europäische Nein
ROSSANA ROSSANDA
Zumindest über eine Sache
sollten wir uns einig sein, d.h. auch diejenigen unter uns, die in Bezug auf
die sog. Europäische Verfassung mit Ja und diejenigen, die mit Nein gestimmt
hätten. Es war dumm, zu glauben, den Bürgern ein institutionelles Gebäude
aufdrücken zu können, das deren Existenz bestimmen und das soziale Szenario, in
dem sie ein halbes Jahrhundert gelebt haben, verwüsten wird. Um so mehr, ohne
sie – weder vorher noch im Verlaufe der Ausarbeitung – zu konsultieren und der
Überzeugung zu sein, ihnen die Zustimmung mit vollendeten Tatsachen abringen zu
können. Es ist erstaunlich, dass das auch die <größte und fortschrittlichste italienische
Gewerkschaftszentrale> CGIL gedacht
und sich außerdem in Konfrontation mit der <französischen>
CGT begeben hat. Frankreich und Holland haben den Vertrag allerdings abgelehnt
und Spanien hat nur aus Vertrauen in <PSOE-Ministerpräsident> Zapatero zugestimmt. Italien und Deutschland hätten ihn abgelehnt, wenn
er nicht heimlich in den Parlamenten verabschiedet worden wäre. Und in
Großbritannien wagt man nicht, ihn einem Referendum zu unterziehen. Eine
deutliche Lektion. Die verbreiteten Klagen über die Völker, die kurzsichtig und
egoistisch seien, scheinen sie allerdings nicht begriffen zu haben. Wie sagte
Brecht: „Das Volk hat dem Zentralkomitee Unrecht gegeben. Lösen wir das Volk
auf !“ Da befinden wir uns. Ist es
möglich, dass sich das europäische Zentralkomitee nicht die Frage stellt, was
der Grund für eine solch massive Ablehnung ist ?“ Romano Prodi schrieb: „Wir
haben bei der Ökonomie begonnen, weil – wenn wir bei der Politik begonnen
hätten – wer weiß wann wir Europa dann geschaffen hätten.“ Er unterließ es zu
sagen, dass, um „bei der Ökonomie zu beginnen“, die Absicht vorhanden sein
musste, der Aufkündigung jenes sozialen Kompromisses institutionelle Konsistenz
und Gesetzeskraft zu verleihen, der nach den beiden Weltkriegen das europäische
Modell gewesen war.
Bei der Anerkennung der
Rechte der „Kapitallosen“, der Arbeiter in der Produktion und der <Staats-> Bürger, die nicht mehr oder noch nicht in der
Produktion waren, im Namen eines einzigen heiligen Prinzips: der freien
Zirkulation von Kapital und Waren im Weltmaßstab. Das ist der Vertrag, der
nicht mehr als einige bereits in den vorangegangenen staatlichen Verfassungen
Europas existierende Rechte bewahrt – inbegriffen eine auf brutale Weise
exklusive anstatt inklusive Vorstellung von der Staatsbürgerschaft. Ergebnis:
Die Mitte-Links-Regierungen, die die Operation vermittelt und in Gang gesetzt
haben (Absenkung der Löhne und der Sozialausgaben, Prekarisierung der Arbeit,
Privatisierungen, die Anti-Inflations-Besessenheit – allesamt von <EU-Wettbewerbskommissar und Ex-PSOE-Finanzminister> Almunia oder <dem christdemokratischen italienischen
Zentralbankgouverneur> Fazio oder der
OECD öffentlich verkündete Rezepte) sind bestraft worden. Zuerst stürzten Jospin,
D’Alema und Amato, gegenwärtig stürzt Schröder und Blair verliert <an Zustimmung>. Und nun schwanken sie lächerlicherweise zwischen
protektionistischen Versuchungen und noch grausameren sozialen Einschnitten hin
und her. Außer arrogant ist das europäische Zentralkomitee – vom Respekt einmal
abgesehen – auch ziemlich arrogant. Möglich, dass es jetzt fast 90 Jahre nach
Weimar und im aufkommenden Wind der Lega Nord und einen Monat nach dem trüben
Lokalismus, der sich im Mezzogiorno <d.h. in Süditalien> entwickelt, feststellt, dass in die Ablehnung auch wütender
Rechtspopulismus einfließt ? Das sind ihre Früchte, deren Samen sie – im
Wechsel mit einem sozialen Auseinanderdriften, das seit langem ohne Gleichen
ist und mit einem skandalösen Auseinanderklaffen von Renditen, Profiten und
Löhnen – selbst gesät haben. Während man von <Linksdemokraten (DS)-Parteipräsident und
Ex-Ministerpräsident> D’Alema bis hin
zu Lerner von „Milano-Italia“ und Santoro von „Samarcanda“
geglaubt hatte, einen demokratischen Druck von unten steuern zu können.
Zumindest diese Prozesse hätten zu einem Wachstum geführt – zusätzlich zu den
alten italienischen Übeln, die uns in eine umfassende Rezession gestürzt haben.
„Studiert die Anatomie, die der Teufel Euch bringt !“, bringt es die antike
Schmähung auf den Punkt, die mittlerweile an die historischen Linken und an die
nicht weniger arrogante Neue Linke zu richten ist, die seit 1977 den „neuen“
subversiven <sozialen> Figuren folgt und die hasst, die sie als alt
bezeichnet und unter denen die Verträge ein Gemetzel anrichten.
Natürlich bleiben
Zentralbank, EU-Kommission, die separaten Verträge sowie ein sich zwischen
Entmachtung und Feigheit bewegendes Parlament bestehen. Es wird kein
demokratisches Europa geben, ohne dass in der Methode und in der Sache den <Staats-> Bürgern und ihren Bedürfnissen Vorrang eingeräumt
wird und ohne dass auch Armut und Einsamkeit wahrgenommen werden, ohne dass dem
Kapital Regeln und der Rendite Sanktionen auferlegt werden. Kurz gesagt: Ohne
dass zu antizyklischer Politik übergegangen wird, d.h. zur Politik tout
court – nach Jahren des Rückzugs.
Europa ist ein riesiger
geographischer, historischer, ökonomischer, kultureller und sozialer Raum, dem
diejenigen, die Linke sein wollen, wieder anfangen müssen, mit mehr Demut
zuzuhören und sich für die Verträge und die Bolkestein-Richtlinien schämen. Und
versuchen, ein Modell auf die Beine zu stellen, das nicht so tut als ob es den
sozialen Konflikt überwunden habe und das der Markt niemals in der Lage sein
wird, zu schaffen.
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover