Antifa-AG der Uni
Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Das
nachfolgende Interview mit dem führenden Kopf der Disobbedienti
Nordostitaliens, Luca Casarini, beschäftigt sich mehr mit den Aktionsformen der
Prekären-Bewegung, der Darstellung in den Medien und – notgedrungen – mit den
zunehmenden Differenzen mit der Führung von Rifondazione Comunista. Das
Interview wurde für die parteieigene Tageszeitung „Liberazione“ geführt
und erschien in der Ausgabe vom 9.11.2004. In den Fragen der
Interviewerin Roberta Ronconi wird deutlich wie sehr das von Bertinotti &
Co. erlassene Gewaltfreiheitsverdikt sich zu einem nicht ganz neuen, dafür
allerdings absolut unhistorischen, quasi-religiösem Dogma entwickelt. Es dient
faktisch der Unterordnung der radikalen Linken und der außerparlamentarischen
Bewegung unter die bestenfalls sozialliberalen Vorstellungen der Herren Prodi,
Rutelli, D’Alema und Fassino von der „Großen Demokratischen Allianz“.
Bemerkenswert
ist im Übrigen auch, dass das von einer großen linksliberalen Tageszeitung, wie
„la Repubblica“, geführte (nebenstehende) Interview zum selben Thema und ebenfalls
mit einem führenden Kopf der Disobbedienti (Francesco Caruso), wesentlich
positiver und unvoreingenommener ausfällt als das in der nominell
„kommunistischen“ Tageszeitung „Liberazione !
Interview
mit Luca Casarini (Führer der Disobbedienti):
„Wenn Ihr andere Methoden habt, dann
schlagt sie vor !“
Es war nicht einfach, ihn zu
finden. Luca Casarini war gestern damit beschäftigt die Sitzung des Stadtrates
von Venedig zu verfolgen, wo über die Durchführung des nächsten NATO-Gipfels
diskutiert wurde, der am Wochenende im Lido stattfinden wird. Der verspricht
Auseinandersetzungen, aber das ist ein anderes Kapitel. Heute müssen wir mit
ihm dringend über etwas Anderes diskutieren.
Die Demonstration am
Samstag <in
Rom> drehte sich um die prekäre
Beschäftigung, das teure Leben <d.h. die hohen Lebenshaltungskosten> und das „Nein zum Krieg“. Seit 48 Stunden spricht
man jedoch über nichts anderes als über „proletarische Enteignung“. Ich frage
Dich: Hast Du nicht den Eindruck, dass die „Shopsurfing“-Aktionen oder wie Du
sie nennen willst, den Sinn dieses Protestes in nicht geringem Maße verschoben
haben ?
„Und ich antworte Dir: Aber
wieso denn ? Hätte es Deiner Meinung
nach Titelstories über die Demonstration gegeben, wenn es ein bisschen ein
Schweigemarsch gewesen wäre ? Gewiss, es
gibt eine Tendenz seitens der Medien sich das ‚kriminelle’ Element
herauszugreifen, das den direkten Kampf- und Konfliktaktionen stets
zugeschrieben wird. Das bedeutet aber nicht, dass dies dann nicht zu einer
Diskussion über die Themen der Street Parade führt. Es genügt, dass Du Dir die
Zeitungen von gestern ansiehst. Von Serra über Veltri bis hin zu den über jeden
Verdacht erhabenen Kommentatoren behandeln alle – darüber hinaus, dass sie uns
eine kriminelle Rolle zuschreiben und die Polizei auffordern, uns in den Knast
zu stecken – am Ende auch jenen offenkundigen Widerspruch, den die prekäre
Beschäftigung darstellt, den die Dynamik der Tausenden und Abertausenden von
Jugendlichen ohne Parteiemblem darstellt, die durch Rom demonstrierten, um
nicht ganz allgemein ‚Arbeit’, sondern ‚Einkommen’ zu fordern. Und es erscheint
mir als eine kulturelle Wende, dass angesehene Kommentatoren das vertreten und
es auch mit vergangenen Perioden unserer Geschichte verbinden.“
Also können Deiner
Meinung nach „Enteignungs“-Aktionen wie die am Samstag als Dietriche benutzt
werden, um dann die eigentliche Botschaft rüberzubringen…
„Sicherlich. Das sind
Protestaktionen. Das sind Experimente und auch Taten, die aus dem Bauch kommen,
nicht nur aus dem Gehirn. Es ist Zeit, dass die Leute lernen, auch mal richtig
wütend zu werden, oder etwa nicht ? Oder
hoffen wir weiter darauf, dass Kerry gewinnt ?“
Kehren wir zur Enteignung
und zu jener Verbindung mit unserer Geschichte zurück, die Dir interessant
erscheint. Ist die Verbindung zu den Kämpfen und Praktiken der 70er Jahre für
Dich wirklich plausibel ?
„Interessant, nicht
plausibel. Weil es nämlich eine Verbindung zu `77 und nicht zu `68 ist. Ich
betrachte `77 als ein echtes Unabhängigkeitslaboratorium der Bewegungen mitsamt
ihren Widersprüchen, das die Lebensdimension, die wir heute erleben, allerdings
um 30 Jahre vorweggenommen hat. Kein Parallelismus und keine plausible Dynamik
auf der Ebene der Rückkehr zur Vergangenheit, sondern mehr als alles andere
eine Rückkehr zur Zukunft. ‚68 besitzt eine Aura von Unschuld. Heute haben wir
diese Unschuld verloren. Das, was wir vor uns haben, ist der permanente globale
Krieg, nicht die Demokratie.“
Und daher – und das
begreife ich nicht – antworten wir mit der Gewalt ? Weil Du mir nicht erzählen kannst, dass es
gewalttätige Akte, Angst und Spannung im Verbrauchermarkt <“Panorama“> und bei
Feltrinelli nicht gegeben hat…
„Du weißt, dass mit Euch von
Rifondazione eine Debatte über die Frage ‚Gewalt’ und ‚Gewaltfreiheit’ anhängig
ist. Alles ist relativ, hängt vom Kontext ab, hängt davon ab, was geschehen ist
und warum. Und dann vergessen wir nicht, dass die Gewalt die des
Innenministeriums ist – eine alltägliche, praktiziert mit Hilfe von Waffen
gegen die Demonstranten, gegen die armen Leute. Wer ist es, der uns kritisiert
? Wer kann das tun, in dieser mit Gewalt
geführten Welt ?“
Und deshalb antwortest Du
damit, dass Du die Hand gegen die Kassierer des Verbrauchermarktes erhebst, die
notorisch prekär sind…
„Ich habe diese Dinge nicht
gesehen. Und dann, was willst Du, dass wir hier über den Millimeter
diskutieren, wo der Eine oder der Andere <eher mit dem Streit und Drohungen> beginnt…?“
Ich denke jedoch, dass,
wenn Du eine Situation der Angst, der Spannung, der Gewalt schaffst (auch wenn
sie nur heraufbeschworen wird), Du nichts anderes tust als die Gewalt zu
reproduzieren.
„Aber verlassen wir <doch mal> diesen Mechanismus, demzufolge immer wir die
Gewalttätigen sind und diejenigen, die die Situationen provozieren ! Das kann
passieren. Ich lebe auf der Straße. Wir sind doch nicht in den Salons…“
Nein, aber unser
Alternativvorschlag sollte in erster Linie aus unseren Aktionen, aus unseren
Methoden entstehen anstatt nur aus unserem Denken.
„Ich habe allerdings nicht
den Eindruck, dass irgendjemand ihre Systeme vorgeschlagen hat, ihre Gewalt,
die aus Pistolen, Gummiknüppeln, Helmen, Aggressionstechniken und Tränengas
besteht.“
Ich weiß, dass Du mit
diesen Aktionen nichts anderes tust als eine offene Flanke für noch
gewalttätigere Aktionen zu bieten. Eine Spirale, die nur abwärts führt. Und
unterdessen ist ein Junge in Frankreich auf den Gleisen gestorben, um einen mit
Atommüll beladenen Zug zu stoppen. Eine Tragödie, ein Horror, die aber aus dem
Erklärungsnöte hervorrufenden Kontrast zwischen einer gewaltfreien, einer
oppositionellen Geste gegen eine hypergewalttätige Realität entstehen. Und das
wird zu einer Bombe, die in den Händen der Macht explodiert.
„Das ist nicht immer
möglich. Wir stehen Leuten gegenüber, die Kriege führen. Wir haben die
schlimmsten Verbrecher vor uns, die es auf der Erde gibt. Es gibt Leute, die
250.000 Menschen in Falludscha belagern. Hast Du den Eindruck, dass es leicht
ist, sich mit diesen Leuten auseinanderzusetzen ?“
Gerade deshalb können wir
keine einfachen Wege wählen.
„Wenn jemand andere und
wirksamere Methoden vorschlägt, wende ich die an. Man kann aber nicht einfach
gar nichts machen. Wenn Einer weiter mit den Leuten diskutieren muss, der dann <nur> guckt, was Du tust und nichts Neues vorschlägt, dann
hat das keinen Sinn. Alle, die etwas vorzuschlagen haben, sollen vortreten.
Dann werden wir sehen.“
<Das
Interview führte:> Roberta Ronconi
Vorbemerkung, Übersetzung
und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover