Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:

Spätestens seit der Arbeitslosenbewegung im Winter 1997/98 mit zahlreichen Besetzungen von Arbeitsämtern und ähnlichen Einrichtungen sowie den spektakulären und erfolgreichen “Selbstbedienungsaktionen” in diversen Supermärkten und Kaufhäusern ist in der sozialen Linken Westeuropas der Wunsch weitverbreitet diesem Beispiel nachzueifern und zu einer ähnlichen Bewegung zu kommen. Doch während die von Organisationen wie AC!, MNCP etc. getragene französische Bewegung deutlich abgeflaut ist, gibt es seit fast 30 Jahren in Süditalien und speziell in Neapel eine sehr rege und punktuell auch erfolgreiche Bewegung von Arbeitslosen und prekär Beschäftigten, die hierzulande jedoch kaum zur Kenntnis genommen wird. Eine schwerwiegende staatliche Repressionsaktion gegen zwei wichtige Aktivisten dieser Bewegung und der soeben fertiggestellte “Vorschlags”katalog der Hartz-Kommission, der nichts anderes als ein Frontalangriff auf alle Lohnabhängigen ist, haben uns angestiftet, durch die Übersetzung der folgenden beiden Artikel ein paar Einblicke in die dortigen Erfahrungen zu vermitteln, um auch in diesem Bereich der nationalen Borniertheit eines gegen die Hartz-Vorschläge hoffentlich entstehenden Widerstandes entgegenzuwirken.
Beide Artikel erschienen in der unabhängigen linken italienischen Tageszeitung “il manifesto”. Der erste am 4.7.2002.



Neapel:

Blitzaktion gegen Arbeitslose

Zwei Verhaftungen wegen des Brandes eines Zuges.
Die historische Führerin der Bewegung im Gefängnis.

Francesca Pilla

Die <Politische Polizeibehörde> DIGOS (Abteilung für Spezialermittlungen und Spezialoperationen) von Neapel ist gestern im Morgengrauen in die Wohnung von Antonietta Terracciano (60 Jahre), historische Führerin der Arbeitslosen von Acerra, und von Luigi Montano eingedrungen, um eine, von der Staatsanwaltschaft Nola erlassene, Anordnung von Untersuchungshaft zu vollziehen. Die beiden, die beide der Bewegung der organisierten Arbeitslosen angehören, sind sofort in die Gefängnisse Pozzuoli und Secondigliano verlegt worden, weil sie der Brandstiftung und der Gewalt gegen die Ordnungskräfte sowie das Personal der Eisenbahnlinie Cancello-Neapel beschuldigt werden. Die Anklage betrifft eine Demonstration vom 1. März 2001 als eben ein Eisenbahnwaggon Feuer fing. Aber bereits zum Zeitpunkt der Ereignisse bekannte sich die Bewegung nicht zu der Tat und wies jede Anklage zurück. 15 Monate später erscheint die Anordnung von Untersuchungshaft in den Augen der Verteidigung als Hohn, da die Verhaftungen mit der Gefahr der Wiederholung des Verbrechens begründet wurden. “Nach über einem Jahr”, sagt der Anwalt Carmine Malinconico, “ist die Möglichkeit der Wiederholung des Verbrechens unvorstellbar. Seit damals hat die Bewegung Hunderte von Demonstrationen organisiert.”

Heute vormittag wird Antonietta Terracciano von der Untersuchungsrichterin des Amtgerichtes Nola, Giovanna Napolitano, vernommen. Ihre Position ist besonders übel, weil sie aufgrund einiger Telefonabhöraktionen als Auftraggeberin des Feuers identifiziert worden sei. Acerra ist verblüfft. “Gerade sie, die seit 25 Jahren der Bezugspunkt der Bewegung der Arbeits- und der Obdachlosen ist”, erinnert Malinconico, “sie, die in ihren Entscheidungen immer glaubwürdig gewesen ist und die die Arbeitslosigkeit und die Obdachlosigkeit am eigenen Leib erfahren hat. Wie auch immer” - fährt er fort - “die Haft ist in ihrem Fall unvereinbar mit ihrem Gesundheitszustand. Sie ist asthmakrank und hat einen kleinen Knoten, der auf die Halsschlagader drückt.”

Um Antonietta herum, die in Acerra alle “Consiglia” (Rätin) nennen, drängt sich auch das Rete no global (Antiglobalisierungs-Netzwerk Neapel und Umgebung). “Man will diejenigen kriminalisieren, die <den> sozialen Kampf praktizieren. Die Befürchtung ist, daß dieses absurde juristische Konstrukt am Tag nach den Verhaftungen der Polizisten, gegen die wegen der Prügeleien <gegen Antiglobalisierer Mitte März 2001> in Raniero ermittelt wird, eine par condicio ist.” Gestern früh hat das Netzwerk - wenige Stunden nach der Verhaftung - zusammen mit den Arbeitslosen eine Mahnwache vor dem Polizeipräsidium von Neapel organisiert. Der neue Polizeipräsident Malvano ist bei der Ankunft in der via Medina von der Menge in negativer Weise empfangen worden und sofort wieder in seine Büros zurückgekehrt.

Am Nachmittag gibt es eine Pressekonferenz im besetzten ehemaligen SKA-Labor in der piazza del Gesù mit über 300 Arbeitslosen. “Es handelt sich um ein juristisches Konstrukt”, sagte Cuono De Maria (auch er aus Acerra), “das gerade in dem Augenblick die Spannung erhöht, in dem unsere Mobilisierungen bei den Institutionen Gehör gefunden hatten und eine Lösung der Auseinandersetzung um die Arbeit erkennbar wurde.” Die Bestätigung dafür kommt von Corrado Gabriele, dem für den Bereich Arbeit zuständigen Assessor der <mitte-linken> Provinzregierung: “Mit den Bewegungen haben wir eine positive Ebene der Auseinandersetzung erreicht. Das gilt sowohl für die Lokalbehörden wie für die Regierung. Wir arbeiten derzeit an möglichen Lösungen für die Beschäftigungsprobleme.”

An der Pressekonferenz hat auch ein Vertreter der Bewegung der argentinischen piqueteros teilgenommen: Neka (50 Jahre), eine argentinische Consiglia, die <ihre> Solidarität mit den neapolitanischen Genossen ausgedrückt hat. “Vergangenen Mittwoch”, erinnerte die piquetera, “hat die argentinische Polizei während einer Straßenblockade zwei Arbeiter getötet. Aber wir müssen weiter voranschreiten und die <Aktions->Form des Streikpostens / Einsatzkommandos (piquete) auf alle Bereiche ausdehnen, die an der Front der verweigerten Rechte und Bedürfnisse konkrete Antworten fordern, aber nur Knast, Handschellen und Gummiknüppel <zu spüren> bekommen.”



Der zweite Artikel erschien am folgenden Tag, das heißt in “il manifesto” vom 5.7.2002:


Für Consiglia auf der Straße

Neapel: 2 000 Arbeitslose gegen die Verhaftung der Führerin.

Francesca Pilla - Neapel

Eine Demonstration von 2 000 Arbeitslosen ist zum Gefängnis von Poggioreale gezogen und hat dort eine Kundgebung durchgeführt, um Solidarität mit Consiglia Terracciano, dem Bezugspunkt der Kampfbewegung für die Arbeit in Acerra und mit Luigi Montano auszudrücken, die am Mittwoch verhaftet worden waren. In einer Stadt wie dieser, wo es über 300 000 Arbeitslose gibt und wo man jeden Tag für das Recht auf Arbeit demonstriert, könnte ein Protest dieser Art als Normalität erscheinen. <Doch> So ist es nicht. Und alle Bewegungen von den EDN (Neapolitanische Euro-Arbeitslose) über die Kampfkoordination für die Arbeit bis zu den organisierten Arbeitslosen aus Acerra und den Gemeinnützigen Arbeitskräften (LSU) <vergleichbar den deutschen ABM- und BSHG-Beschäftigten> haben es herausgeschrien. Die Verhaftungen von Terracciano und Montano, die der mutwilligen Verursachung eines Brandes und der Gewalt gegenüber den Odnungskräften während einer Demonstration im März 2001 beschuldigt werden, kamen gerade zu dem Zeitpunkt als man dabei war, eine Lösung für die Auseinandersetzung um die Arbeit zu finden. Die Freundinnen von Consiglia an der Spitze des um 10.30 Uhr von der piazza Garibaldi gestarteten Demonstrationszuges haben keine Zweifel: “Sie haben eine Frau getroffen, die seit 40 Jahren in ihren sozialen Kämpfen ausharrt. Sie hat für Dutzende Familien in Acerra eine Wohnung und eine Arbeit gefunden.” Rita, die seit 20 Jahren auf den Vermittlungslisten des Arbeitsamtes steht, fügt, während sie ein Solidaritätstransparent “Für die verhafteten Genossen” mit hochhält, vor den Toren des Gefängnisses von Poggioreale hinzu: “Es ist eine Ungerechtigkeit. Wenn sie sie verhaftet haben, dann legen sie <damit > auch uns die Handschellen an. Wir sind alle Terroristen.” “Nach 6 Jahren der Kämpfe hätten wir”, erklärt Nunzia von der Arbeitslosenkoordination, “in diesen Tagen das Protokoll einer Übereinkunft über einen Spezialplan zur Einführung in Arbeit mit der <Provinz->Regierung und den örtlichen Behörden abschließen sollen. Zielgerichtete Ausbildungskurse mit einem Haushalt von 30 Milliarden <Lire = ca. 15,3 Millionen Euro>, die 3 500 Arbeitslose betreffen.” Consiglia Terracciano war eine der Bezugspersonen der Übereinkunft. Auch die Antiglobalisierer, die auf der Straße an der Seite der Arbeitslosen stehen, geben keine Halbheiten von sich: “Wir befürchten”, erklärt Alfonso, “daß das ein Schachzug einiger politisch Mächtiger ist, um das Abkommen zu sabotieren.”

Unterdessen haben ca. 50 organisierte Arbeitslose aus Acerra vor dem Frauengefängnis von Pozzuoli den Ausgang von Consiglias Vernehmung erwartet, die von der Untersuchungsrichterin Giovanna Napolitano durchgeführt wurde. Zur Wiederfreilassung, auf die man am Tage gehofft hatte, ist es nicht gekommen. Man wartet auf die Vernehmung von Luigi Montano, die für heute vorgesehen ist. Die Familie von Consiglia ist erschüttert. “Ich habe mit meiner Mutter gesprochen”, erzählt Lenina. “Ich habe sie sehr gelassen erlebt, aber zugleich <auch> sehr wütend gegenüber den Institutionen. Wir glauben, daß die Verhaftung ein politischer Schachzug ist, um die Bewegung zu stoppen. Aber die Auseinandersetzung wird weitergehen. Consiglia” - fährt sie fort - “ist weder die Führerin von irgendjemand noch die Auftraggeberin einer Brandstiftung. Die Beschuldigungen sind verleumderisch.”

Die Erwerbslosen kündigen in jedem Fall unbegrenzte Mobilisierungen an. Es scheint nämlich, daß wegen der Demonstration vom 1. März 2001 gegen weitere 10 Personen ermittelt wird. Alles Arbeitslose, die gegen die von der Regierung organisierten “Schwindel”-Kurse protestierten und beschuldigt werden, am Anzünden einiger Busse der <neapolitanischen Verkehrsbetriebe> ANM beteiligt gewesen zu sein.


Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover