Antifa-AG der Uni
Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Bei einem Zugunglück auf
einer eingleisigen Strecke wurden am Freitag, den 7.Januar 2005 in der Nähe der
Ortschaft Bolognina di Crevalcore (25 km von Bologna entfernt) in Norditalien insgesamt
17 Menschen getötet. Bei dem Frontalzusammenstoß eines Personenzuges mit einem
Güterzug bei dichtem Nebel wurden nach Behördenangaben auch rund 80 Fahrgäste
verletzt. In ersten Reaktionen war von einer "angekündigten
Katastrophe" die Rede, da ein geplanter Ausbau der eingleisigen Strecke
Bologna-Verona seit Jahrzehnten verschleppt wird. Unter den Toten befinden sich
auch vier Lokführer. Die Wucht des Zusammenpralls wurde noch dadurch verstärkt,
dass der Güterzug in seinen vorderen Waggons schwere Eisenträger transportierte.
Beide Züge entgleisten. Wahrscheinlich habe einer der Lokführer ein Rotlicht
übersehen und beide, aufgrund des starken Nebels den jeweils anderen Zug zu
spät bemerkt. Eine Katastrophe, die – wie viele andere Eisenbahnunfälle der
letzten Jahre – ohne den Privatisierungs- und Liberalisierungswahn und die
Investition vor allem in Prestigeprojekte und die Entwicklung von
„Metropolenbahnen“ hätte verhindert werden können.
Die von Rifondazione
Comunista herausgegebene Tageszeitung „Liberazione“ interviewte für die
Ausgabe vom 8.1.2005 das Führungsmitglied der ORSA Ferrovie (Organisation
Autonomer und Basisgewerkschaften – Bereich Eisenbahn), Bruno Salustri,
(selbst Lokführer) zu den Hintergründen dieses Vorfalls. Die ORSA entstand
Mitte 1999 als Zusammenschluss der (Ende der 80er Jahre gegründeten) linken Lokführer-Basisgewerkschaft
COMU und der (nicht sonderlich linken) Betriebsgewerkschaft FISAFS. Sie
erreichte bei den RSU-Wahlen unter allen Eisenbahnern im November 2004 rund 16%
und wurde damit hinter der FILT-CGIL (35%) und der Branchengewerkschaft des
christdemokratischen Gewerkschaftsbundes CISL (26%) drittstärkste Organisation
– noch vor UIL-Trasporti (13%). Die Wahlbeteiligung betrug 76% (+2,4% gegenüber
den RSU-Wahlen von 2000). Erwähnung verdient noch, dass die ORSA bei den
Lokführern die stärkste Kraft ist.
Für kritische
Gewerkschafter ist sie auch insofern interessant,
als sie einen der „erfolgreichsten“ Versuche darstellt, innerhalb einer
bestimmten Branche eine eigenständige kämpferische und „Basis“-Gewerkschaft
aufzubauen. Dieser Versuch muss angesichts ihrer Entwicklung allerdings als
gescheitert betrachtet werden, da bereits der Zusammenschluss mit der FISAFS
von Vertretern des linken COMU-Flügels (die als ganze Rifondazione Comunista
nahestand) als Akt der „Normalisierung“ bewertet wurde und seitdem eine massive
Anpassung und Mäßigung zu beobachten ist, verbunden mit zunehmend
undemokratischen Vorgehensweisen, wie die nebenstehende Übersetzung eines
Dokumentes des ORSA-Regionalverbandes Toskana belegt. Bezeichnend ist auch,
dass Salustri (selbst ein ehemaliges Führungsmitglied der COMU) im folgenden
Interview keinerlei Kampfmassnahmen ankündigt. Tatsächlich wollte die
ORSA-Spitze Protestaktionen – in trauter Eintracht mit den
sozialpartnerschaftlichen CGIL-, CISL-, UIL-Sektionen, der korporativen SMA und
der rechten UGL – auf eine symbolische und absolut lächerliche 10minütige
Arbeitsniederlegung beschränken. Wie die weiteren nebenstehend veröffentlichten
Artikel und Interviews zeigen, gelang dies nicht, da es zu einer neuartigen
Basisbewegung unter Führung der zusammen mit den RSU’en gewählten
Arbeitssicherheitsvertreter der Beschäftigten (RLS) kam. Bemerkenswert auch der
Ausspruch des mittlerweile pensionierten Mitbegründers sowohl der COMU als auch
der ORSA, Ezio Gallori (einer Galionsfigur), der auf einer
Delegiertenversammlung der Eisenbahner in Bologna zu dem 10-Minuten-Streik
ausrief: „Dieser Stopp dient zu gar nichts. Unsere führenden Funktionäre müssen
das Register wechseln. Schluss mit diesem Betriebsgewerkschaftertum !“
(„Corriere della Sera“ 13.1.2005)
Interview
mit Bruno Salustri (Or.S.A.): „Es sind gezielte Investitionen nötig, nicht nur
Großprojekte.“
„In Italien Sicherheitssysteme aus
der Nachkriegszeit“
Das gestrige verheerende
Eisenbahnunglück, bei dem mindestens 13 Menschen ihr Leben verloren, lenkt die
Aufmerksamkeit wieder einmal auf die Sicherheit des italienischen
Eisenbahnnetzes. So wie es häufig der Fall ist, findet die Diskussion erst
statt nachdem die Nachrichten ihre traurigen Meldungen bereits verbreitet
haben. Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht seit langem davor gewarnt
wurde, wie Bruno Salustri vom nationalen Sekretariat der Or.S.A. Ferrovie und
selbst Lokführer, in diesem Interview für „Liberazione“ erklärt.
Die Ursachen des Unfalls
müssen die zuständigen Stellen untersuchen, aber die Gefährlichkeit der
eingleisigen Strecken steht außer Frage, richtig ?
„Kaum, dass ich die Meldung
hörte, musste ich an den Unfall in Piacenza im Jahre 1997 denken als beim
Entgleisen des Pendolino Rom-Mailand 8 Menschen ihr Leben verloren. Die
Umstände sind ähnlich, aber nach 7 Jahren haben sich die Sicherheitsbedingungen
sogar noch weiter verschlechtert. Die Strecke Bologna-Verona wartet seit 1945
darauf zweigleisig zu werden. Das ist auch deshalb eklatant, weil es sich um
eine Strecke handelt, die von lebenswichtiger Bedeutung ist und Rom mit dem
Brenner verbindet. Ich begreife nicht, warum man in diesem Land daran geht, die
6spurige Hochgeschwindigkeitsstrecke Rom-Neapel einzuweihen und in Situationen
wie dieser nicht eingreift. Wir benötigen in Italien gezielte Investitionen,
nicht nur Großprojekte. Wahrscheinlich zieht man aber das ‚Spektakuläre’ dem
Funktionalen vor.“
Welches sind die
Schwachpunkte unseres Eisenbahnnetzes ?
„Die Anmerkung vorausgeschickt,
dass unsere Eisenbahn in verschiedener Hinsicht noch immer zu den besten
Europas gehört, muss gesagt werden, dass, wenn man so weiter macht, unser
ganzer Vorteil sich binnen kurzem verflüchtigt haben wird. Der Kern des
Problems liegt in den Privatisierungen, die in den letzten Jahren durchgeführt
wurden. Es ist klar, dass die Logik der Privaten lautet, bei der Sicherheit das
Verhältnis von Kosten und Erlösen allem anderen überzuordnen. Dann passiert es
aber, dass im gesamten Netz Punkte entstehen, die extrem gefährlich sind. Das
von Italien gewählte Modell ist das englische (bevor dort die Eisenbahn wieder
verstaatlicht wurde) und nicht das französische, wo es eine integrierte
Transport- und Netzdienstleistung gibt. Wir gehen sogar noch über die europäischen
Liberalisierungsrichtlinien hinaus und das sind die Ergebnisse.“
Dann hätte dieser Unfall
also verhindert werden können ?
„Sicher. Ein doppeltes Gleis
oder auch die Wiederholung des Signals in der Lok hätten ausgereicht. Die
Realität ist, dass viele Worte gemacht wurden, die man aber niemals in die Tat
umgesetzt hat. Ich gebe Dir ein paar Beispiele: Vor einigen Jahren sollte das
ATC-System ausprobiert werden (Automatische Kontrolle der Züge, das die
Informationen über die operativen Bedingungen, über die Leistung der Züge und
die erreichte Geschwindigkeit analysiert). Wenn in irgendeinem Teil des Systems
irgendetwas Ungewöhnliches festgestellt wird, sorgt der Computer automatisch
dafür, dass die Geschwindigkeit gesenkt wird, um ein sicheres Funktionieren zu
gewährleisten. Es ist außerdem ein Überwachungssystem des Führerstandes (das
für jeden Notfall bereit steht; Anm.d.Red.), aber sie sagten uns, dass
es den Test nicht bestanden habe und wir haben niemals begriffen warum. Die
Installation des SCMT-Systems (System zur Kontrolle der Fahrt des Zuges, das
das automatische Abbremsen der Züge im Falle einer Überschreitung der erlaubten
Geschwindigkeit oder mangelnder Beachtung der Fahrtsignale veranlasst; Anm.d.Red.)
ist noch nicht operativ, während sie den Lokführern den VACMA geliefert haben,
ein Pedal, dass der Lokführer alle 55 Sekunden treten muss – ein
Sicherheitssystem, das auf das Jahr 1936 zurückgeht. Und dann werden sie auch
dieses Mal wieder den Lokführern die Schuld geben. Die Wahrheit ist aber, dass
wir neue und sicherere Technologien bräuchten.“
Ist das ein Appell an die
Institutionen ?
„Ja, sie müssen die
Verantwortung für die Sicherheit der Reisenden übernehmen. Es bedarf stärkerer
Kontrollen, größerer Investitionen und der Einführung der neuen Technologien,
die heute zur Verfügung stehen. Andernfalls wird dasselbe passieren wie bei dem
Unfall von 2002 in Rometta Marea in Sizilien: Der Zug Palermo-Venedig
entgleist, 8 Fahrgäste sterben und jetzt wurden die Vorstandsmitglieder des
Privatunternehmens, dem die Aufträge für die Sicherheitsarbeiten erteilt
wurden, gerade wegen der schlechten Qualität der Arbeit, die sie abgeliefert
haben, vor Gericht gestellt. Dieser Sektor darf nicht ausgegliedert werden,
weil wir die Bedingungen und die Qualität, mit der die Firmen arbeiten, nicht
kennen. Leider ist das <aber> der Weg, den Italien eingeschlagen hat.“
Andrea Milluzzi
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover