Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Zur Streikwelle in Frankreich führte die unabhängige linke italienische Tageszeitung il manifesto das folgende Interview mit dem links-oppositionellen Sekretär der CFDT-Transportföderation, Claude Debons. Es erschien am 28.5.2003:
Modell Thatcher in Paris ?
Die französischen Lehrer streiken weiter. Ab dem 2.Juni ist der Transportsektor an der Reihe. Aber die Regierung weigert sich so wie die englische in den 80er Jahren mit den Gewerkschaften zu verhandeln. Worauf ist sie aus ? Auf diese Frage antwortet Claude Debons.
Anna Maria Merlo Paris
Gestern war der 9. Demonstrationstag im Schulwesen, während viele Lehrer seit mehr als zwei Wochen im Streik sind. Der Protest gegen die Rentenreform zu dem weitere Forderungen hinzukommen (gegen die Dezentralsierung, für die Schule) geht weiter und macht keine Anstalten abzunehmen. Die Regierung will keine Verhandlungen mit den Gewerkschaften beginnen. Sie hofft, daß die öffentliche Meinung dessen überdrüssig wird. Vor allem, weil bereits ab dem 2.Juni massive Streiks im Transportsektor angekündigt sind. Gestern abend hat Premierminister Jean-Pierre Raffarin versucht die Lehrer in Sachen Dezentralisierung zu beruhigen, ohne irgendetwas von der Substanz der Reform fallen zu lassen. Claude Debons, der nationaler Sekretär der Transportföderation der CFDT ist und sich in Opposition zu den Entscheidungen des CFDT-Sekretärs Francois Chérèque befindet (der die Rentenreform unterzeichnet hat), analysiert die Situation.
Die Regierung will trotz Streiks und Demonstrationen nicht verhandeln. Zielt sie auf eine harte Niederlage des Protestes ab, auf das Modell dessen, was Margret Thatcher in den 80er Jahren in Großbritannien gegen die Bergarbeiter gelang ?
Tatsächlich kann ein neuer Zyklus beginnen. Der Ausgangspunkt der allgemeinen Mobilisierung war die Rentenreform. Dann hat das Personal des öffentlichen Bildungswesens begonnen gegen die Dezentralisierung, aber auch gegen die Beseitigung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst zu opponieren. Wir erleben eine Zunahme sehr starker Angriffe. Im Herbst wird es die Reform der Krankenversicherung geben. Ein zusätzlicher Angriff auf die Beschäftigten des öffentlichen Sektors, aber auch auf die des Privatsektors. Das Ganze in einem Kontext des Grolls unter den Leuten, die vor einem Jahr gezwungen waren im 2.Durchgang der Präsidentschaftswahlen Chirac zu wählen. Die Bewegung ist dabei sich als Reaktion auf die von der Regierung von Anfang an durchgeführte thatcheristische Politik im anti-wirtschaftsliberalen Sinne zu radikalisieren, auch wenn sich die mehr um die Sprache bemüht hat, um die Reform durchzubringen. Ein Jahr lang ist es der Regierung gelungen diese Politik umzusetzen, ohne frontale Reaktionen auszulösen. Es ist nicht klar, ob die Regierung eine schwere und entscheidende Niederlage der Gewerkschaft nach britischem Vorbild versucht, aber diese Möglichkeit kann nicht ausgeschlossen werden. Ich denke allerdings nicht, daß das möglich ist. Der Kontext ist heute ein anderer als in den Jahren der Thatcher. Der Wirtschaftsliberalismus ist in seiner ganzen Diskreditiertheit von der öffentlichen Meinung in Europa weitgehend zurückgewiesen worden. Die Bewegungen, die eine andere Welt wollen, haben den Protest auf alle Bereiche ausgedehnt.
Sind die Gewerkschaften allein ?
Ja. Wir erleben eine tiefgreifende gesellschaftliche Krise, ohne daß es eine glaubwürdige alternative Politik gibt trotz der Versuche der ehemaligen pluralen Linken, auf dem Rücken der sozialen Bewegung Kraft zurückzugewinnen. Die Sozialistische Partei (PS) ist in bezug auf die Renten kaum zu hören, weil ihr ehemaliges Programm sich von dem der Rechten nicht sehr unterschied. Die Situation könnte in eine große gesellschaftliche Krise münden. Das entscheidende Datum wird der 3.Juni sein, wenn sich Sektoren, die traditionell eine höhere Kampfkraft haben, d.h. die Eisenbahnen und der städtische Nahverkehr am Protest beteiligen werden.
Bringt die Protestbewegung eine weitverbreitete Beunruhigung und das allgemeine Unsicherheitsgefühl zum Ausdruck, das von einer ökonomischen Situation geschaffen wurde, die insgesamt durch das Abdriften ins Wirtschaftsliberale gekennzeichnet ist ?
Es gibt ein allgemeines Klima sozialer Unsicherheit, das durch die Zunahme der Arbeitslosigkeit und durch die Entwicklung der prekären Beschäftigung schon seit langem noch verschlimmert wird. Dazu kommt die durch die Rentenreform und dann die der Krankenversicherung erzeugte Unsicherheit. Die Erstattung einiger hundert Arzneimittel ist bereits abgeschafft oder reduziert worden. Eine Entscheidung, die es für die Armen schwieriger macht, wieder gesund zu werden. Wenn die Polizeimaßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ordnung in den Peripherien dazukommen, zeigt das alles, das es keine Absicht gibt, die soziale Ausgrenzung anzugehen. Es gibt keine Mittel, um das Elend sozial zu behandeln. Die Regierung hat beschlossen die Steuern zu senken und sich so der Handlungsspielräume beraubt, um eine Politik des Kampfes gegen den sozialen Verfall umzusetzen.
Kann die Situation politisch gefährlich werden, wenn die Bewegung verliert ?
Sie kann zum Vorteil des Front National werden. Wenn es eine Niederlage gäbe, könnte sich die Verzweifelung in einer Stimmabgabe zugunsten der extremen Rechten ausdrücken. Wenn es hingegen einen Sieg gibt, würde das für die Perspektiven der Linken in den kommenden Jahren einen günstigen Kontext schaffen.
Diejenigen, die demonstrieren, sind im mittleren Alter, gehören zur Mittelschicht und repräsentieren das, was der Katalysator der Stabilität des Landes sein sollte. Werden sich ihnen Weitere anschließen ?
Das stimmt. Die am stärksten mobilisierten Kräfte repräsentieren den stabilsten Kern der Beschäftigung des Landes. Allerdings beginnt der Protest auch im Privatsektor anzukommen. Unter den Metallarbeitern z.B. gibt es große Besorgnis über die Erhöhung der Beitragsjahre <in der Rentenversicherung>. Es gibt eine geringere Mobilisierung im Privatsektor, aber es gibt große Solidarität. Am Anfang hat die Regierung versucht, den privaten gegen den öffentlichen Sektor in Stellung zu bringen. Dann hat sie mit den perspektivisch 42 Beitragsjahren allerdings auch dem Privatsektor Gründe zum Protest geliefert. Das läuft nicht, weil es bei der aktuellen Arbeitslosigkeit und dem späteren Eintritt in den Arbeitsmarkt <d.h. ins Berufsleben> schwierig sein wird, eine komplette Karriere von 42 Jahren zusammen zu bekommen, d.h. am Ende der Berufstätigkeit eine volle Rente zu haben. Dies vorausgeschickt, ist es heutzutage kompliziert von Generalstreik zu sprechen. Die Verbreitung der prekären Beschäftigung hat die Mobilisierungsfähigkeit geschwächt.
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover