Antifa-AG der Uni Hannover:
In der linken italienischen Tageszeitung
„il manifesto“ vom 10.11.2005 kam zum Thema „Revolte in den
Banlieues“ auch der linke französische Historiker Jean Chesneaux zu Wort, der
um eine historische Einordnung der Riots in den Vorstädten gebeten wurde.
Chesneaux ist emeritierter Professor der Universität Paris VII für
Zeitgeschichte Ostasiens, Sozialwissenschaftler, Ehrenpräsident von Greenpeace
und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates von Attac Frankreich. In deutscher
Sprache sind von ihm die Bücher „Geschichte des Sozialismus 1. Das utopische
Denken bis zur Revolution“ (zusammen mit Mosse und Soboul), "Weißer Lotus,
rote Bärte. Geheimgesellschaften in China, zur Vorgeschichte der
Revolution" und "Ost- und
Südasien im 19. Jahrhundert" erschienen. Auch als Korrespondent der
„tageszeitung“ (taz) hat er sich schon betätigt. Seine folgenden Aussagen
zeigen allerdings auch sehr deutlich die politischen und theoretischen
Schwachpunkte der Vertreter der neuen „zivilgesellschaftlichen“ Mittelschichten
und der „alternativ globalisierenden Bewegung“ („mouvement altermondialiste“)
gegenüber „der sozialen Frage“ und ihre zunehmende Neigung zur Flucht aus der
Rationalität (und damit aus der Aufklärung!). Getreu der Marxschen Feststellung
„Die Menschen stellen sich nur die Fragen, die sie auch beantworten können.“
„Es gibt eine Mauer zwischen Paris
und der Banlieue“
Es spricht der Historiker Jean
Chesneaux: Die Revolte der Vorstädte ist das Scheitern des französischen
Integrationsmodells. Mehr als an `68 oder an Weimar erinnert das an die die
Aufstände der Schwarzen in den Vereinigten Staaten.
ANNA MARIA MERLO – PARIS
Die Ausgedehntheit der
Revolten der Jugendlichen der französischen Banlieues in den letzten
Tagen haben diese auflodernde Flamme der Gewalt bereits in eine historische
Tatsache verwandelt. Auch wenn es noch zu früh ist, ihr Gewicht und die
Konsequenzen einzuschätzen, bitten wir den Historiker Jean Chesneaux die
aktuelle Situation in eine historische Perspektive einzuordnen.
Professor, erleben wir
ein neues `68 (wie Einige sagen) oder eher den letzten Augenblick von Weimar?
„Ich misstraue historischen
Bezügen. Die Geschichte wiederholt sich nicht und jede bedeutende Krise ist
überdeterminiert, wie Althusser sagen würde, also einzigartig. `68 war ein
einzigartiges Ereignis: Ein Frontalangriff auf die bestehende Ordnung vonseiten
sozialer Schichten und einer Generation, die im Großen und Ganzen von genau
dieser Ordnung profitierten, aber etwas anderes wollten, mehr wollten. Heute
ist die Situation komplett anders. Die stattfindende Bewegung wird von den am
stärksten benachteiligten Schichten und von einer Generation ohne Hoffnung
getragen. Dennoch gibt es einen gemeinsamen Charakterzug mit dem Mai 68. Beide
Bewegungen fallen nicht in die rationalen politischen Kategorien. Die
Ereignisse des 27.Oktobers 2005 entziehen sich der klassischen politischen
Analyse. Keine Partei unterstützt sie. Sie stehen, wie der Mai `68, außerhalb
der klassischen politischen Prozesse. Der Beweis dafür ist, dass die Medien und
die Politiker heute wie damals nicht zu verstehen scheinen, was geschieht.
Französischer Mai oder Weimar? Der Mai `68 war eine Bewegung von dynamischer
Initiative, von sozialen Kräften, die die bestehende Ordnung attackierten.
Weimar hingegen ist eine verzweifelte Verteidigungsbewegung der traditionellen
bürgerlichen Ordnung. Die Monarchie war zu Ende, die Autorität der Armee besaß
keine Glaubwürdigkeit mehr, aber die bürgerliche Gesellschaft eignete sich
verzweifelt die bismarcksche Ordnung an. Eine Ordnung, die durch unbekannte und
unvorhersehbare Kräfte bedroht war, aus denen der Faschismus, der Nazismus hervorgegangen
ist. Weimar ist ein beängstigenderer Bezug als `68, weil es im Mai Schwung,
Aktivismus und Lebensfreude gab, während Weimar ein vom Tode bedrohtes Regime
verteidigt, das am Ende sterben wird.“
Aber gibt es nicht, wie
in Weimar, die Gefahr des Todes einer in Agonie liegenden sozialen Ordnung?
„Wenn die Ordnung heute in
Frankreich nicht mehr unter sowohl für die Jugendlichen als auch für die
republikanische Staatsbürgerschaft akzeptablen Bedingungen wiederhergestellt
wird (d.h. unter Respektierung der republikanischen Werte), steht zu
befürchten, dass der Verfall der Situation in den Banlieues zur
Machtübernahme durch Elemente führt, die von der Unerfahrenheit der UMP <der vor kurzem gegründeten
Regierungspartei „Union der Präsidentenmehrheit“>, der Chirac-Anhänger, profitieren, um eine neue
Ordnung zu errichten, die mit dem Nazismus sicherlich nichts zu tun haben wird,
die es allerdings verdient, in Parallele zu Weimar gesetzt zu werden. Das heißt
es wird der Zusammenbruch der 5.Republik sein. Das ist ein beunruhigender
Bezug, der Anlass sein sollte, über die gravierende Situation nachzudenken.“
Gibt es andere mögliche
Bezüge?
„Wenn man nach
Präzedenzfällen suchen muss, dann sicher nicht aufseiten der Erhebungen der
Arbeiter und auch nicht bei `68, sondern in den Verzweifelungsbewegungen der
Schwarzen in den USA in den Jahren 1965-70. Watts und Detroit – das ist die
einzige vorangegangene Selbstzerstörungsbewegung, eine Protestbewegung ohne
Perspektiven und ohne Hoffnung. Ganze Stadtteile abgebrannt. Zerstören, um zu
zerstören. Die sozialen Kräfte der gegenwärtigen Bewegung sind ohne
Perspektive, ohne Leitideen. Wir können eine soziologische Analyse versuchen.
Die am stärksten aufs Korn genommenen Strukturen sind die der Ordnung, des
gesellschaftlichen Apparates: Schule, Post, Transportwesen und
selbstverständlich die Polizei und die Kommissariate. Andererseits gibt es
Symbole des Konsums, die Supermärkte. Es wäre allerdings oberflächlich, diese
Bewegung als Revolte gegen die Ordnungs- und Konsumstrukturen zu
interpretieren, weil das hieße, etwas zu suchen, was nicht existiert, eine
Rationalität, die es nicht gibt.“
Also ist eine
sozialpsychologische Analyse angebrachter?
„Man muss in der Tat von
einer Reklamierung der Leere, von einem Impuls des Nichts, von einem Abgrund
sprechen. Die marxistischen Analysen lehnen diese Dimension ab, die sich der
Suche nach der Rationalität entzieht. Wir sind Kinder von Descartes, von Newton
und von Leibniz: Bei einem Problem wollen wir die Lösung finden. Es gibt einen
Zerstörungsimpuls, der sich an das Nächstliegende hält. Es sind die Autos der
Armen, die verbrannt werden, die örtlichen Unternehmen. So beeinträchtigen sie
ihre Zukunft und das Hauptopfer ist der soziale Raum der Nachbarschaft. Man
sollte, meines Erachtens, daher in einer Bewegung, die in grundlegender Weise
Ausdruck irrationaler Impulse ist, keine Rationalität suchen. Dies führt uns zu
Weimar zurück, zu den Menschenmengen, die auf Hitler warteten. Einige
Psychiater sagen, dass sich Deutschland im Freudschen Sinne des Wortes, Hitler
‚gewünscht’ hat. Natürlich ist das <hier> eine
Irrationalität, die sich vom Nazismus unterscheidet. Wir befinden uns nicht in
derselben Epoche. Die Bedingungen sind nicht dieselben. Die Technologie ist
nicht dieselbe. Man muss die Rolle der Handys und des Fernsehens
berücksichtigen, das die Pflicht hat, die Bilder der Zerstörungen zu zeigen.
Gleichzeitig sind diese Bilder allerdings ungesund.“
Villepin sagt, dass
Frankreich kein Land wie jedes andere ist. Aber zeigen diese Brände nicht das
Scheitern des französischen Integrationsmodells, das auf dem Papier nicht
kommunitaristisch ist?
„Es ist das vollständige
Scheitern, auch wenn die Dinge anderswo nicht besser laufen. Wir befinden uns
am Nullpunkt der Integration, bei Null Zukunft. Es gibt keine Arbeit und es
gibt keinen sozialen Aufstieg. Wir sind auch bei Null Respekt angelangt. In
Paris wurden die Festungen 1924 abgeschafft. Man darf nicht vergessen, dass
Paris ein Militärstandort war. Diese Festungen bestehen allerdings fort. Es
gibt eine moralische Mauer zwischen Paris und der Banlieue. Auch im
bescheidensten Pariser Arrondissement gibt es einen kulturellen Stolz,
eine Kunst zu leben, die – von seltenen Ausnahmen abgesehen – in der Banlieue,
dem Ort des ‚Banditen’ (wie der Name sagt), nicht existiert. Es ist die
5.Republik, die die Beziehungen zwischen Paris und seiner Peripherie
unterbrochen hat. Vor der 5.Republik gab es das Departement Seine, das auf die
Revolution zurückging. Der Architekt Paul Chemetov sagt, dass Paris mit der
5.Republik <1959> seine Banlieue entlassen hat, wie man ein
Zimmermädchen entlässt. Die Festungen gibt es nicht mehr, aber die périphérique
ist eine psychologische und kulturelle Barriere, nicht nur eine
städtebauliche.“
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen
Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover