„junge Welt“ 23.11.2005

 

Chaos als Waffe

 

Frankreichs Eisenbahner fürchten Privatisierung und trauen gegenteiligen Beteuerungen der Regierung nicht. Seit Montag abend wird landesweit gestreikt

 

Christian Giacomuzzi, Paris

 

Die soziale Windstille in Frankreich war nur von kurzer Dauer. Gerade erst hatte es die Regierung durch Verhängung des Ausnahmezustands vermocht, in den Vorstadtvierteln wieder für Ruhe zu sorgen, da warten die Gewerkschaften mit massiven Streiks auf. Den Anfang machten die 168.000 Mitarbeiter der französischen Staatsbahn SNCF, die am Montag 20 Uhr in den Ausstand traten. Ab Mittwoch kommt ein Streik des Pariser Verkehrsbetriebs RATP hinzu. Dann werden neben den SNCF-Zügen auch Metro, Tram, S-Bahnen und Busse nicht mehr fahren.

Was in der BRD unvorstellbar ist, gehört in Frankreich zu den Tugenden des Klassenkampfes: Weil die Gewerkschaften befürchten, daß bei einer Bahnprivatisierung Jobs vernichtet werden, hatten sie zum Streik aufgerufen. Am Dienstag bot die Betriebsleitung den Angestellten eine »einmalige Sonderprämie« von 120 Euro an, um die Gemüter zu besänftigen.

Paris lahmgelegt

In der ersten Nacht und am Dienstag morgen hatten sich nach Angaben der Gewerkschaften etwa 30 Prozent der Eisenbahner am Streik beteiligt. Der Ausstand sorgte für Chaos im Berufsverkehr, insbesondere in Paris. Viele Pendler in der Hauptstadt stiegen wegen des Streiks auf das Auto um. Dadurch kam es zu langen Staus auf den Zufahrtstraßen. Die wenigen trotz des Ausstands verkehrenden Züge waren total überfüllt. Der SNCF entstehen nach eigenen Schätzungen durch den Streik pro Tag Verluste in Höhe von rund 20 Millionen Euro.

»Niemand braucht einen Streik«, sagte der Geschäftsführer der Staatsbahn, Louis Gallois. Er bezeichnete die Privatisierungsängste als »Vogelscheuche für Spatzen« und dementierte auch Gewerkschaftsinformationen, wonach die SNCF plane, gewisse Bahnverbindungen außer Betrieb zu setzen. Der UMP-Abgeordnete Patrick Devedjian, ein enger Mitarbeiter von Innenminister Nicolas Sarkozy (UMP), bezeichnete den SNCF-Streik als »undemokratisch« und warf den Gewerkschaften »totalitäre Methoden« vor. Die von den Gewerkschaften befürchtete Privatisierung bezeichnete er als »Hirngespinst«. Der Exminister sprach sich für eine gesetzliche Streikregelung aus, die einen Mindestdienst garantiere. In diesem Sinne äußerte sich auch Verkehrsminister Dominique Perben (UMP). »Wir wollen das in der Pariser Region erreichte Abkommen mit den Nahverkehrsbetrieben, (...) auf ganz Frankreich ausdehnen«, sagte der Verkehrsminister. Diese Vereinbarung garantiert, daß ein Drittel der Bahnen und Busse immer einsatzbereit sein muß.

Die mehrfachen Zusicherungen vom Verkehrsminister, es werde zu keiner Privatisierung der SNCF kommen, stießen bei den Gewerkschaften jedoch auf taube Ohren. Selbst als Perben vorschlug, sich schriftlich zu verpflichten, daß die Bahn ein öffentlicher Dienst bleiben werde, nahm das kein Gewerkschafter ernst. »Die Angestellten hätten lieber eine gesetzliche Garantie als einen Brief des Verkehrsministers, von dem man nicht weiß, was er morgen sein wird«, kommentierte Sozialistenchef François Hollande den Vorgang. Auch die Vorsitzende der Kommunistischen Partei (PCF), Marie-George Buffet, unterstützte die Streikbewegung. Sie betonte, daß die Privatisierung keine »Wahnvorstellung« der Gewerkschaften sei. Sie sprach von »gewerkschaftsfeindlichen Angriffen der Regierung«, die ein teilweises Streikverbot plane.

Berechtigtes Mißtrauen

»Wie kann man glauben, daß die SNCF der Privatisierung entrinnt, nachdem andere Staatsbetriebe wie France Telecom, Air France, EdF, GdF und SNCM ganz oder teilweise privatisiert wurden«, fragte auch der Chef der CGT-Bahnsparte, Didier Le Reste. Bereits am Sonnabend hatten sich deshalb zahlreiche Bahnarbeiter an der Seite von EDF-Angestellten an einer großen Demonstration in Paris zum Schutz des öffentlichen Dienstes beteiligt. 30.000 Menschen beteiligten sich daran.

Am Montag erlebte dann der Stromversorger Electricité de France (EdF) sein Börsendebüt, nachdem der Gaskonzern Gaz de France im Sommer teilprivatisiert worden war. Zur Aufbesserung der Haushaltskasse treibt die französische Regierung den Verkauf von Staatsbetrieben voran.

 

Die Gewerkschaften CGT, Force Ouvriere (FO) und SUD Rail, die den Ausstand bei der SNCF ausgerufen haben, wollen Tag für Tag über die Fortsetzung des Streiks abstimmen, hieß es. Zum Auftakt dieses sechsten Streiks seit Jahresbeginn haben die Arbeiterorganisationen einen 23 Punkte umfassenden Forderungskatalog ausgearbeitet. Außer der »schleichenden Privatisierung« werfen sie der konservativen Regierung auch zahlreiche arbeitsrechtliche Veränderungen vor, die den Status der Angestellten als Staatsbeamte abschwächen. Die Gewerkschaft der Lokführer protestiert insbesondere gegen die Anhebung der Dauer der Nachtschichten von vier auf sechs Stunden.

 

 

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