Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:

Im Folgenden die Übersetzung des Interviews, das die linke italienische Tageszeitung “il manifesto” nach dem spektakulären Ergebnis des 1.Wahlgangs der französischen Präsidentschaftswahlen mit dem Gründer und Präsidenten der französischen Sektion von ATTAC, Bernard Cassen, führte und in ihrer Ausgabe vom 23.4.2002 veröffentlichte:
 

Die Wahlanalyse:

Das ist eine Art gewesen, um ‚Scheiße‘ zu sagen.”

Interview mit dem ATTAC-Gründer Bernard Cassen.

Anna-Maria Merlo - Paris

Bernard Cassen ist Gründer und Präsident von ATTAC in Frankreich, d.h. von der Bewegung, die für die Einführung der Tobin Tax und die Kontrolle der Globalisierung kämpft. ATTAC hatte versucht die Diskussion über den triumphierenden Ultra-Freihandel / Ultra-Liberalismus in die Wahldebatte einzubringen. Bei den ersten Takten im letzten Herbst war das gelungen, als der Wahlkampf allerdings in die heiße Phase eintrat, sind sie fast völlig vergessen worden. Von hier geht Cassen aus, um das Votum des 1.Wahlganges zu analysieren. “ATTAC hat des öfteren gesagt, daß die liberale Globalisierung die große Abwesende war. Aber in den Wahlergebnissen ist sie kraftvoll zurückgekehrt.”

Ist das Votum (insbesondere der hohe Anteil an Enthaltungen) Ihrer Meinung nach die Auswirkung der Antiglobalisierungsreaktion ?

“Die Enthaltungen liegen bei 27% und sind deutlich im Wachsen, obwohl es mit 16 Kandidaten eine breite Auswahl gab. Ein Teil der Enthaltungen ist diejenige linker Wähler gewesen, die keinen großen Unterschied zwischen den beiden wichtigsten Kandidaten wahrgenommen haben. Meiner Meinung nach zeigen die Ergebnisse der Sozialistischen Partei, das Votum für die trotzkistischen Kandidaten, die Stimmen für <den Linksnationalisten> Chevènement und ein Teil des Votums für Le Pen die Preisgabe dieser Wähler durch 20 Jahre wirtschaftsliberale / Freihandelspolitik.”

Wie analysieren Sie das Votum für Le Pen ?

“Es handelt sich um in sehr heterogenes, von Region zu Region unterschiedliches Votum. Le Pen ist nicht nur vom Bürgertum, sondern auch von der Arbeiterklasse gewählt worden. Ich glaube nicht, daß es für einen Teil <dieser Wählerschaft> ein Votum ist, das den Faschismus will. Es ist ein sehr heterogenes, nicht einheitliches Votum. Ein Gutteil sind verzweifelte Leute, die ‚Nein‘ sagen wollten. Für viele ist es die stärkste Art gewesen, die sie gefunden haben, um ‚Scheiße‘ zu sagen.”

Zeigt das nach den Brandanschlägen auf die Synagogen die Rückkehr des Antisemitismus ?

“In Wahrheit hat Le Pen weder einen anti-arabischen noch einen antisemitischen Wahlkampf gemacht. Einige Persönlichkeiten der jüdischen Institutionen haben ihn als ‚respektabel‘ bezeichnet. Le Pen unterstützt Sharon.”

Wie ist Frankreich an diesen Punkt gekommen, mit einer Linken, die nach Jahren einer Regierung, die - wie mir scheint - eine mehr als ehrenwerte Bilanz aufweist, in Scherben liegt ?

“Wenn Sie wollen, können wir sagen, daß Jospin nicht völlig schlecht regiert hat. Aber er hat den Wahlkampf schlecht begonnen, indem er sich sofort als einen ‚nicht-sozialistischen Kandidaten‘ bezeichnet hat. Er hatte zum Ziel die Mitte zu erobern und hat nicht begriffen, daß es die Linke war, die er erobern mußte. Wenn wir die Stimmen zusammenzählen, die Chevenement, der Grüne Marmère, Arlette Laguiller <von Lutte Ouvriere / Arbeiterkampf> und Olivier Besancenot <von der Ligue Communiste Revolutionaire> erhalten haben, sehen wir, daß sie zusammengenommen ein besseres Ergebnis als Jospin erzielt haben. Der PCF hat, aufgrund seiner Regierungsbeteiligung, eine harte Bestrafung erfahren. Wenn die Linke sich nicht ändert, wird bei den Parlamentswahlen eine neue Niederlage folgen. Die Linke hat sich nicht mit den Armen, den Banlieus etc. beschäftigt. Deshalb hat es die vernichtende Niederlage der Regierung gegeben.”

Bestrafung für die sozial-liberale Wahl ?

“Jospin ist dem Blairismus gefolgt. Dann, vor einer Woche, hat er gemerkt, daß er sich geirrt hat. Ein bißchen spät. Aber in bezug auf die Renten und die Globalisierung hat er die Linie Tony Blairs übernommen. <Auf dem EU-Gipfel> In Barcelona hat er zusammen mit Chirac einen skandalösen Text über die Erhöhung des Rentenalters unterschrieben. Heute zahlt er den Preis der sozial-liberalen Wahl. Aber wenn wir genau hinsehen, hat auch Chirac ein desaströses Resultat erzielt. Er hat weniger Stimmen erhalten als 1995. Er hat nichts zum Prahlen. Es gibt eine Ablehnung der gegenwärtigen politischen Vertretung.”
 

Vorbemerkung, Übersetzung und Anmerkungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover