Antifa-AG
der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:
Am
16.Februar 2006 verabschiedete eine Große Koalition aus Konservativen und
Sozialdemokraten im Europa-Parlament die leicht überarbeitete Europäische
Dienstleistungsrichtlinie, nach ihrem Urheber auch „Bolkestein-Richtlinie“
genannt. (Bei der Bolkestein-Direktive war von Anfang an das sog. „Herkunftslandsprinzip“
Stein des Anstoßes, da es Dumpinglöhnen und Entrechtung aller Lohnabhängigen im
Dienstleistungsgewerbe Tür und Tor öffnet.) Zu den Änderungen am ursprünglichen
Entwurf jener Großen Koalition aus EVP und SPE schrieb die „junge Welt“
vom 17.2.2006: „Nach dem jetzt verabschiedeten
Kompromiß sollen Sozialdienste wie Altenpflege und Gesundheit, die
Daseinsvorsorge und Zeitarbeit von der Dienstleistungsfreiheit ausgenommen
werden. Berührt ein Dienstleister im Ausland Fragen der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung sowie des Umwelt- und des Gesundheitsschutzes, sollen auch
weiterhin die nationalen Vorschriften gelten. Fragen der Arbeitszeit und des
Schutzes von Mitarbeitern werden weiterhin über die EU-Entsende-Richtlinie
geregelt.“
DGB-Chef
Sommer betrachtete dies als „politischen Erfolg“ und lag damit ganz auf der
Linie der neoliberalen Merkel-Müntefering-Regierung.
Anders
der Sprecher der linken italienischen Basisgewerkschaft Confederazione Cobas,
Piero Bernocchi (59), der auch eine wichtige Rolle im Europäischen Sozialforum,
d.h. in der Antiglobalisierungsbewegung, spielt. In einem Gastbeitrag für die
von Rifondazione Comunista herausgegebene Tageszeitung „Liberazione“ vom
15.2.2006 beschäftigte er sich bereits am Tag vor der Abstimmung mit den
Perspektiven des weiteren Kampfes gegen die Bolkestein-Richtlinie.
Bolkestein: Trotz des
(wahrscheinlichen) „europäischen faulen Kompromisses“ ist die Partie
nicht zu Ende
Piero Bernocchi
Wie auch immer die
Abstimmung des Europa-Parlaments ausgeht, die Bolkestein-Angelegenheit ist
nicht zu Ende. Dass es zum „großen“ europäischen „faulen Kompromiss“
kommt, scheint in der Natur der Sache zu liegen. Und andererseits ist die
gesamte Geschichte dieser verheerenden Richtlinie durch eine
Interessenidentität der wirtschaftsliberalen Linken und Rechten gekennzeichnet,
die (trotz der Opposition bedeutender Branchengewerkschaften) einen Großteil
des EGB einbezogen hat, seit sie, während Prodis EU-Kommissions-Präsidentschaft,
das Licht der Welt erblickte.
Eine mögliche Verabschiedung
muss dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission in einem zeitlichen
Rahmen, der mindestens ein Jahr umfassen könnte, zur Prüfung vorgelegt werden.
In der Zwischenzeit muss der Druck der Bewegung in dem bisher realisierten
einheitlichen Rahmen fortgesetzt (besser: intensiviert) werden und das nicht
nur in Richtung der europäischen Institutionen, sondern auch indem die
nationalen Entscheidungszentren in dieser Sache politisch „angegriffen“
werden. Eine mögliche Regierung Prodi <in Italien nach den Wahlen am 9./10. April 2006> (der bislang, weder nach der großen italienischen
Anti-Bolkestein-Demonstration <Mitte Oktober 2005> noch
in den letzten Tagen Anzeichen von Einsicht zeigte) sollte sich einem sehr
starken und einheitlichen Druck der Massen gegenüber sehen, damit Italien, mit
Hilfe einer Regelung, die die Anwendung auf alle öffentlichen Dienste und die
Strukturen ausschließt, die von öffentlichem Nutzen sind, eine Art „Anti-Bolkestein-Damm“
errichtet. Auch wenn ein derartiger Kurswechsel seitens der Mehrheit der
Mitte-Linken (wenn sie denn als Siegerin aus den Wahlen hervorgeht) im
Augenblick wirklich unwahrscheinlich erscheint, darf die große Zunahme des
Bewusstseins unter den Massen, das von der weltweiten anti-wirtschaftsliberalen
Bewegung bei der Verteidigung der öffentlichen, gesellschaftlichen und
Naturgüter bewirkt wurde, nicht unterschätzt werden. Der „Wind des Privaten“
ist sehr viel schwächer geworden und der „öffentliche Wind“ bläst immer
stärker. Es geht darum die Schule oder das Gesundheitswesen ebenso zu
verteidigen wie sich gegen die Vermarktung des Wassers und der Umwelt oder die
Zerstörung des Territoriums durch die „schädlichen großen Bauvorhaben“
von der Hochgeschwindigkeitszugtrasse <Turin – Lyon>
bis zur Brücke <über
die Meerenge von Messina> zu wehren.
Es darf nicht vergessen
werden, dass gerade das konstante Anwachsen dieses neuen Sinns für das „Öffentliche“
und die gemeinsamen gesellschaftlichen und Naturgüter, der seit Seattle <1999> durch das Agieren der Bewegung gegen die
wirtschaftsliberale Globalisierung entstanden ist, die wirtschaftsliberale
europäische Politikerschicht dazu veranlasst hat, den Versuch zu unternehmen
die Verteidigungsanlagen gegen den Freihandel durch eine Art pragmatisches
Manifest (eine wahre Anthologie) des Freihandels / Wirtschaftsliberalismus, wie
die Bolkestein-Richtlinie, zu durchbrechen. Sie ist Teil des breiten,
internationalen Rahmens eines gesetzlichen Abbaus von Rechten und Garantien der
Arbeit und der öffentlichen Dienste, die sich über die Pfeiler der totalen
Vermarktung (der Markt braucht neue Waren und deshalb werden Schule,
Gesundheitswesen, Kultur und Information in das Business des 21.Jahrhunderts
und das Wasser in das „Erdöl der Zukunft“ verwandelt) und des globalen Dumpings
der Arbeit vollzieht. Die Arbeit der „3.Welt“ bricht in die 1.Welt ein,
um jede Verteidigung zunichte zu machen, die Kosten zu halbieren und jedwede „Rigidität“
zu beseitigen.
Dieser Abbau hatte sich in
Europa bisher allerdings so vollzogen, dass er die Bastionen der Arbeit und der
öffentlichen Dienste separat, eine nach der anderen angriff. So gelangte man
z.B. zur Verzerrung der Arbeitszeiten, aber auch zur brutalsten und totalsten Deregulierung
der Arbeit, die in der Schifffahrt stattfand, wo eine
Super-Bolkestein-Richtlinie bereits jede Verteidigung beseitigt hat, indem alle
Firmensitze der bedeutenden Schifffahrtsgesellschaften in Länder wie die Caiman
Islands verlegt wurden, weil dort das Fehlen jeglicher Arbeitsgesetzgebung
heute die Neueinstellung von See-Arbeitern durch „Entnahme“ aus einem
der schauerlichen Kataloge erlaubt, in denen man zwischen dem französischen
Seemann mit europäischem Arbeitsvertrag (um die 1.300 Euro Monatslohn, Rente,
Krankenkasse und Urlaub), dem koreanischen Seemann mit OIL-Vertrag (minimale
Renten- und Krankenversicherung, 700-800 Euro Monatslohn und wenigen
Urlaubstagen) oder dem kambodschanischen Seemann (keinerlei
Versicherungsschutz, 300-400 Euro und sofort kündbar) auswählen kann. Und wie
die Wahl (in 70% bis 80% der Fälle) ausfällt, ist vorhersehbar. Das ist der
wahre Sinn des Herkunftslandsprinzips: Nicht der sagenumwobene polnische
Klempner, der dem Franzosen zum halben Preis den Arbeitsplatz „raubt“,
sondern die französische Compagnie, die ihren Firmensitz auf die Caiman Islands
verlegt und dann von der französischen Gesetzgebung befreit ist.
Wenn sich die Strategie
geändert hat und man zum Versuch eines globalen Blitzkrieges <im Original deutsch !> übergegangen ist, dann liegt das mit Sicherheit auch
an der Integration der osteuropäischen Länder, die eine goldene Gelegenheit für
die Einebnungstätigkeit in Richtung der geringsten öffentlichen und
arbeitsrechtlichen Regelungen und Garantien boten. Grundsätzlich liegt es aber
an der Notwendigkeit in einer internationalen Situation, in der weder die WTO
noch die Tätigkeit des Internationalen Währungsfonds noch die der Weltbank mit
der geplanten Geschwindigkeit vorangekommen sind und die erwarteten Erfolge
erzielt haben, sondern im Gegenteil, ausgehend von Lateinamerika den
wirtschaftsliberalen Rezepten, nicht nur von großen, organisierten
gesellschaftlichen Massen, sondern auch von einer Reihe gewiss nicht
irrelevanter Staaten, immer stärker entgegengetreten wird, das Tempo zu
erhöhen. Von den auf dem Weltforum <sic!> von
Caracas für 2006 auf internationaler Ebene gestarteten 36 Kampagnen betreffen
mehr als die Hälfte die Verteidigung der öffentlichen, gesellschaftlichen und
Umweltgüter sowie die Verteidigung der Arbeitsrechte durch die weltweite
Ausdehnung von immer umfangreicheren und stärkeren Netzwerken und Aktionen.
Ich glaube, dass – wenn wir
den Anti-Bolkestein-Kampf in diesem Rahmen eines weltweiten Konfliktes sehen –
es absurd wäre, die Partie als beendet zu betrachten, wenn der „europäische
faule Kompromiss“ am Donnerstag <den 16.2.2006>
einen Punkt zu seinen Gunsten verbuchen sollte.
Vorbemerkung,
Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:
Antifa-AG der Uni
Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover