Antifa-AG der Uni Hannover & Gewerkschaftsforum Hannover:


Das folgende Interview ist ein interessantes Zeugnis des Aufstandes in Bolivien. Es gewährt – wenn auch nur schlaglichtartig und zum Teil wider Willen – Einblicke auch in die Schattenseiten dieses Kampfes: Die tragende Rolle der Mittelschichten und deren Begrenzungen, chauvinistische Tendenzen gegenüber Chile (in der Auseinandersetzung um einen eigenen Zugang zum Meer), die unterschiedlichen Erfolge der beiden wichtigsten Indio-Führer, den Rassismus gegenüber den Ureinwohnern und Campesinos u.a.m.. Ana Maria Romero, eine der prominentesten Vertreterinnen der Revolte, antwortete auf die Fragen der linken italienischen Tageszeitung “il manifesto”. Das Interview erschien in der Ausgabe vom 22.10.2003.


Das Erdgas und der Rassismus.

Ein “neues” Bolivien ?


Interview mit Ana Maria Romero, “Verteidigerin des Volkes” und Protagonistin des Aufstandes.


Oscar Guisoni


Ana Maria Romero del Campero ist die ehemalige Inhaberin des Amtes des Verteidigers des Volkes und hat in der Krise, die mit dem Sturz des ehemaligen Präsidenten Sanchez de Lozada zuende ging, eine wichtige Rolle gespielt. Ihr Hungerstreik, den sie an der Seite von Intellektuellen, Künstlern und verschiedenen Vertretern der Mittelklasse führte, war das Signal, das die Regierung des Gringos am meisten fürchtete: Die Mittelschichten waren dabei sich in einer ungewöhnlichen Allianz mit den Indigenas (den Ureinwohnern) zu mobilisieren. Das war das Signal, daß die Tage des USA-freundlichen Sanchez de Lozada gezählt waren. Wir erreichten sie per Telefon, um sie u.a. nach ihrer Prognose für die Regierung von Carlos Mesa zu fragen, die soeben eingesetzt wurde.


Wird Carlos Mesa es schaffen, ein Land zu regieren, das sich im sozialen Krampfzustand <sic.> befindet, wie das bei Bolivien heute der Fall ist ?


“Ich glaube, das wird eine sehr schwierige Aufgabe. Evo Morales, der Indigena-Führer, hat ihm bis April <2004> Zeit gegeben, um ihre Forderungen zu erfüllen. Ich glaube jedoch, daß Mesa einen anderen Regierungsstil einführen will. Das hat er gezeigt als er in diesen Tagen persönlich zu den Demonstrationen der campesinos (Bauern) gegangen ist – die gestrige auf dem San Francisco-Platz hier in La Paz inbegriffen.”


Welche Rolle kann der Kongreß spielen, der noch von den traditionellen Parteien kontrolliert wird ?


“Das ist die große Unbekannte. Weil der Aufstand nicht nur gegen einen autokratischen Präsidenten gerichtet war und auch nicht die Antwort auf die große Zahl von Toten durch die Repression. In Wirklichkeit hat er das ganze politische System Boliviens in Frage gestellt. Und damit auch das Parlament, das sich nur für die Aufteilung der Schlüsselpositionen unter dem Parteipersonal interessierte. Und das empört die Leute.”


Die Rolle der unteren Klassen bei diesem Aufstand ist klar und deutlich. Aber welche Rolle hat die Mittelklasse gespielt ?


“An der ersten Mahnwache, die wir auf die Beine gestellt haben, nahmen Künstler, Intellektuelle und sogar Industrielle teil. Alles Leute, die sich niemals persönlich an der Politik beteiligt haben oder die sich davon entfernt hatten. Nun haben sie neue <Handlungsspiel->Räume gefunden.”


Einer der auslösenden Faktoren des Aufstandes war der Gasverkauf an die Vereinigten Staaten und das Nein der Bolivianer zur erneuten Ausplünderung ihrer natürlichen Ressourcen. Wie ist dieses Problem zu lösen ?


“Schauen Sie, das hat <der bekannte lateinamerikanische Schriftsteller> Eduardo Galeano in seinem letzten Artikel nach dem Rücktritt von Sanchez de Lozada klar und treffend gesagt: Wir hatten das Silber und es ist nur ein Berg voller Löcher übriggeblieben. Wir verfügten über Zinn und das ist verschwunden, ohne daß irgendjemand etwas von dem Erlös gesehen hätte. Ebenso beim Gold und beim Erdöl. Wir haben zugelassen, daß alles außer Landes geschafft wurde. Das Erdgas ist eine strategische Ressource und es ist logisch, daß wir den Umgang damit bestimmen wollen oder etwa nicht ? Andere Länder, wie Mexiko und Venezuela sichern sich größere Prozentanteile vom Verkauf ihrer Bodenschätze. Wir stehen dank dem von Sanchez de Lozada durchgesetzten Gesetz über die Kohlenwasserstoffe mit ca. 18% da. Mit dem vorherigen Gesetz wären es 50%. Ein weiterer Punkt ist, auf welchem Weg das Gas Bolivien verlassen soll. Die Chilenen müssen begreifen, daß wir Bolivianer einen souveränen Zugang zum Meer haben wollen. Der Weg dahin ist eine Verfassunggebende Versammlung. Es bedarf neuer Spielregeln.”


Wie verhalten sich die beiden Indigena-Führer Evo Morales und Felipe Quispe ?


“Morales <der als Präsidentschaftskandidat der Bewegung zum Sozialismus – MAS – bei den letzten Wahlen mit gut 30% der Stimmen einen überraschenden Achtungserfolg errang> hat sich intelligent verhalten. Er war der Erste, der den Protest begann und der neuen Regierung dann eine Waffenruhe gewährte. Er ist derjenige, der gestärkt aus der Krise hervorgeht. Felipe Quispe ist radikaler, hat aber viel an Unterstützung verloren. Bolivien hat eine offene Rechnung und die ist der Rassismus. Die Mittelklasse scheint nicht einsehen zu wollen, daß sie die campesinos, die an unserer Seite leben, nicht länger mit Angst betrachten kann. Das wird Zeit brauchen. Aber man muß anfangen <da etwas zu ändern>.”


Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern:

Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover