Antifa-AG der Uni Hannover:

 

Noch immer gilt der Generalsekretär von Rifondazione Comunista, Fausto Bertinotti, vielen Linken in allen Ländern als ungebrochener Kommunist, als antagonistischer Linker, als radikaler Bewegungslinker, als bedeutender marxistischer Theoretiker und Praktiker, kurz: als leuchtendes Vorbild. Dieses Bild ist – soweit es nicht ohnehin Wunschdenken war – Bertinottis Zeit als Kopf der Gewerkschaftslinken in der CGIL Anfang der 90er Jahre, seinem Bruch mit der mitte-„linken“ Prodi-Regierung im Oktober 1998, den auf außerparlamentarischen Widerstand orientierenden Beschlüssen des letzten PRC-Parteitages sowie der Hochphase der italienischen Antiglobalisierungsbewegung in den Jahren 2001 bis 2003 geschuldet und natürlich auch mehreren Interviewbänden, in denen er – wie auch sonst des öfteren – eine scheinbar linksradikale Rhetorik benutzt, um die faktisch sozialdemokratische Politik und das immer weitere Abdriften nach rechts besser verkaufen zu können. (Selbst der Begriff „Revolution“ findet dabei fröhliche Verwendung.) Die reale Politik des Fausto Bertinotti freilich sieht längst ganz anders aus, wie u.a. aus zahlreichen Interviews hervorgeht, deren Übersetzung wir hier in den letzten Monaten präsentiert haben. Doch so ideologisch aufrichtig wie das nachfolgende Interview für die große italienische Tageszeitung „la Repubblica“ vom 9.11.2004 war bisher noch keine von seinen öffentlichen Äußerungen. Zur Verblüffung selbst seines abgeklärten, linksliberalen Interviewers schreckte er diesmal auch vor einem Loblied auf das Bad Godesberger Programm der SPD nicht mehr zurück und zeigt mehr denn je wie sehr er sich mit der heranwachsenden imperialistischen Macht EU identifiziert.

Reichlich Stoff für kritische Nachfragen auf der KPÖ-Veranstaltung "Der Kommunismus des 21. Jahrhunderts und die Linke" am 17.12.2004 im Seminarzentrum des ÖGB, die ihn als Stargast präsentiert und hinter der sicherlich auch das Verlangen steht, es möge etwas von seinem Glanz auf die KPÖ-Führung abstrahlen. Ein sehr fragwürdiger Glanz, wie nicht zuletzt das folgende Interview zeigt. Denn das Bad Godesberger Programm heißt jetzt „Kommunismus“ !

 

Der Führer von Rifondazione und die US-Lektion. Die Republikaner setzen auf die Religion. Pera und Ferrara instrumentalisieren sie.“

 

„Ein europäisches Bad Godesberg, um Bushs Rechte zu stoppen“

 

Bertinotti: In die Verfassung christliche Ethik und Arbeiterkämpfe.

 

von MASSIMO GIANNINI

 

ROM – „Die ‚proletarischen Einkäufe’ ? Die verurteile ich ohne zu zögern. Ich denke, dass der Ungehorsam ein Wert ist, aber um das wirklich zu sein, muss er zuvor stärker verbreitete und breit geteilte Sozialpolitiken erarbeiten. Die Enteignung in Rom <am 6.11.04 am Rande der Großdemonstration gegen prekäre Beschäftigung und prekäre Lebensverhältnisse> besitzt weder das eine noch das andere Charaktermerkmal. Das war nur ein Übergriff / ein Akt der Gewalttätigkeit. Und ich bin entschieden gegen Kampfformen dieser Art…“ Fausto Bertinotti geht bereits hart zur Sache. Aber obgleich dies die x’te „unorthodoxe“ Position ist (auch wenn sie vollständig im Einklang mit jenem politisch-kulturellen Neudefinitionsprozess steht, der ihn früher oder später unvermeidlich dazu bringen wird, sich von der Tradition und von der Bezeichnung „kommunistisch“ zu befreien), spricht der Führer von Rifondazione dieses Mal von etwas anderem. Und macht einen weiteren Schritt auf dem Weg des „Revisionismus“. Er fordert Europa auf, „eine eigene Ideologie“ zurück zu gewinnen, die der „politisch-religiösen der amerikanischen Rechten“ entgegenzusetzen ist. Eine „Ideologie“, die nicht auf Marx zurückgeht, sondern die ihre Wurzeln in der „Gleichheitslehre von Norberto Bobbio“ <siehe Anm.1> und „im Modell des Bad Godesberger Programms der Sozialdemokraten“ hat.

 

Abgeordneter Bertinotti, es wurde gesagt, dass die Wahl in Amerika eine „Lektion“ auch für Europa und für Italien ist. Teilen Sie diese Auffassung ?

 

„Ja, wenn man alle politischen Unterschiede berücksichtigt, bleibt im amerikanischen Wahlergebnis ein Teil, der so etwas wie eine aussagekräftige Fabel darstellt, die uns alle betrifft. Die amerikanische Rechte gewinnt dank einer gigantischen ideologisch-kulturellen Operation. Mit einem enormen Geldfluss in Richtung der extremistischen Kirchen und der radikaleren kulturellen Zirkel haben die Republikaner eine ‚politische Investition mit zeitversetzter Rentabilität’ vollzogen, die sich im Feuer des Krieges und der wirtschaftlichen Krise nur über eine fundamentalistische duale Sichtweise der Welt (die Kräfte des Guten, die gegen das Böse kämpfen) auszahlen konnte.“

 

Das ist das, was Thomas Friedman behauptet: Die Republikaner haben das Monopol der moralischen Quellen der Politik errungen. Erscheint Ihnen das geringfügig ?

 

„Das scheint mir sehr wesentlich zu sein. Und es beunruhigt mich. Der Einsatz des Populismus war für die Rechte immer typisch, auch für die italienische. Aber hier und jetzt gibt es eine Neuheit: Die amerikanische Rechte, die auf dem weltlich-pragmatischen Feld des präventiven Krieges und der neoliberalen Politiken keine Zustimmung erntet, begreift, dass ihr Modell weder die Befriedung noch die ununterbrochene Entwicklung sicherstellt und stattet sich mit einem religiösen Zusatz aus. Über diese ‚reaktionäre Revolution’ geht sie mit einem scheinbar starken Rezept aus der ideologischen Verwüstung, die sie seit dem Fall der Mauer mit hervorgerufen hat, als Siegerin hervor. Das ist ein grobes und gefährliches Rezept. Es zielt nur darauf ab zu gewinnen und nicht darauf zu überzeugen. Aber es verlangt von Europa eine echte und wirklich starke Alternative aufzuzeigen.“

 

Nicholas Kristoff hat geschrieben: Die Rechte versteht es, „Werte zu verkaufen“, während es der Linken nur gelingt, „Argumente zu verbreiten“.

 

„Da stimme ich ihm zu. Und deshalb werde ich nicht die Theoretiker des revolutionären Denkens zitieren, sondern will stattdessen an die Lehre Norberto Bobbios erinnern, der uns bereits nach dem Fall der Regime des Ostens gewarnt hatte: ‚Achtung ! Verliert nun, wo der Kommunismus gestürzt ist, die Gleichheit nicht aus dem Blick !’ Leider wurde er nicht erhört. Und deshalb müssen wir von hier aus neu beginnen. Angesichts dieser ideologischen Offensive der Rechten kann die Antwort nicht symmetrisch sein (d.h. gleich und entgegengesetzt), sondern die europäische Linke muss, indem sie mit der Tradition dieser letzten 20 Jahre bricht, eine ‚Ideologie’ als Weltanschauung zurückgewinnen – als Fundament einer offenen Politik, die einerseits die Begründungen dafür wiederentdeckt, ‚Teil’ und auch ‚dagegen“ zu sein, aber andererseits mit einer universellen Ambition dazu beiträgt wieder ein Zivilisationsmodell zu schaffen, das in der Lage ist auch ‚für’ etwas zu sein. Das ist die wirkliche Herausforderung, die Europa als Kooperations- und Koexistenzmodell auf den Plan ruft.“

 

Marcello Pera spricht von einem entchristianisierten Europa und ruft, indem er Croce umschreibt, die Laizisten im Zeichen des „Wir müssen uns Christen nennen !“ zur Sammlung auf. <Der Gründer und langjährige Chefredakteur von „la Repubblica“> Eugenio Scalfari antwortet andererseits: „Wir können nicht aufhören, uns Laizisten zu nennen !“ und erinnert an die überreligiöse Wirkungskraft der Freiheit und der Toleranz. Wie denken Sie darüber ?

 

„Die Position derjenigen, die bei uns gegen den fehlenden Bezug auf die christlichen Wurzeln in der Europäischen Verfassung protestieren, überzeugt mich nicht. Das ist eine Linie, die von Pera bis Ferrara <siehe Anm.2> reicht und die, wie mir scheint, eine europäische Variante des amerikanischen neokonservativen Modells ist. Ihre Inspirationsquelle ist sicherlich nicht das Evangelium, sondern eine instrumentelle Entscheidung: Wenn eine Gesellschaft von der allgemeinen Dekadenz gepackt ist, ist es – in Ermangelung wirklich ‚rechter’ kultureller Bezüge – sinnvoll sie mit einem externen doktrinären Körper auszustatten. Derjenige der Kirche ist eher deshalb gut, weil er nützlich ist und nicht weil er für Übereinstimmung sorgt.“

 

Bleibt also die weltliche Antwort.

 

„Nein. Bei allem Respekt für die Position Scalfaris und all derjenigen, die denken wie er, überzeugt mich auch diese Antwort nicht. Die finde ich, bezogen auf die Natur des Gegners, schwach. Sie sprechen vom Guten, das gegen das Böse kämpft, und Du antwortest ihnen, indem Du Prinzipien wie den Zweifel, die Toleranz und die Fähigkeit bewahrst die Leiden Anderer zu verstehen. Das reicht nicht. Ich will nicht die Schmähung gegen die elitäre Haltung der Linken nachäffen, sondern kurz gesagt erklären: Wenn die Kirche in der Krise ist, bedarf es des Heiligen Franz <von Assisi>. Es bedarf einer sanften und gewaltfreien, aber dennoch durchaus radikalen Revolution, die Dir wieder mit Nachdruck das Thema ‚Arme’ und das Thema ‚Gleichheit’ präsentiert. Wenn die materielle Verfassung die Rechte und die Regeln zerstört, kannst Du Dir nicht damit behelfen, dass Du nur eine zivilere Welt vorschlägst. Da braucht es sehr viel mehr.“

 

Was braucht es ? Erklären Sie es uns !

 

„Ich erkläre es Ihnen mit Hilfe einer Parallelität. Es ist eine anerkannte Tatsache, dass der große historische Verdienst des PCI und von Togliatti gerade darin bestand, die Volksmassen in die Arena der Demokratie zu führen, richtig ? Nun, und das sage ich mit dem größten kulturhistorischen Respekt, nur mit Hilfe des Aktionismus wäre eine Operation von dieser Tragweite niemals gelungen. Da war mehr nötig. Da war die soziale Vertretung sehr umfangreicher Interessen nötig und die Verteidigung jener Interessen hier und jetzt…“

 

Verdeutlichen Sie mir das ! Wenn man dem Faden Ihrer Argumentation folgt, wäre die „Ideologie“, die den neuen Rechten heute entgegen zu setzen ist, der Kommunismus ? Aber ist es nicht gerade die Nichtverwendbarkeit dieser „Marke“ nach den Tragödien des 20.Jahrhunderts und dem Fall der Mauer, die die Verspätung der Linken erklärt ?

 

„Natürlich teile ich diese Erklärung nicht, sondern ich sage, dass es heute, um den Kampf der Ideen wirklich zu führen, ausreichen würde, auch nur den Geist des Godesberger Programms wieder aufzugreifen. Ich lese Ihnen mal eine Passage vor: ‚Welche Gesellschaft wird angestrebt ?  Die, in der sich jedes Individuum als Mitglied der Gesellschaft frei entfalten kann. (…) Freiheit, Gleichheit und Solidarität bilden eine gegenseitige Verpflichtung, die dem gemeinsamen Schicksal entspringt…’ Und weiter: ‚Der demokratische Sozialismus hat seine Wurzeln in der christlichen Ethik, im Humanismus, in der klassischen Philosophie…’ Begreifen Sie, was dieses Programm war ? `59 kreist der Begriff ‚Solidarität’ um das, was man als ‚gemeinsames Schicksal’ identifiziert und das Individuum schafft eine Zukunftsidee. Nicht um das Naturrecht oder die Idee herum, ein Geschöpf Gottes zu sein. Auf dieser Grundlage hatten die Sozialdemokraten von vor 45 Jahren auch keine Schwierigkeiten damit, ihre Wurzeln ‚in der christlichen Ethik’ anzuerkennen. Genau das, was das heutige Europa zu tun nicht in der Lage war.“

 

Sie sagen mir, dass Sie als kommunistischer Führer, auf der Grundlage der sozialdemokratischen Wende von `59, einen Bezug auf die christlichen Wurzeln in die EU-Verfassung hätten aufnehmen wollen ?

 

„Hören Sie, dieser Vertrag ist kaum mehr als die Verwandlung des Marktes in Verfassungsrecht und schwächt, um es zu entideologisieren, das Verhältnis zu unserer Vergangenheit. Zu einem Bezug nur auf die ‚christlichen Wurzeln’ hätte ich Nein gesagt. Aber ich würde Ja sagen, wenn Europa den Mut hätte, sein kulturhistorisches Vermächtnis insgesamt zurück zu gewinnen: die christlich-jüdische Ethik, die Kultur des griechisch-römischen Rechts, den Humanismus, die klassische Philosophie, die Aufklärung und schließlich auch die Arbeiterbewegung, die wirklich ein ausschließlich europäisches Erbe ist. Das wäre eine starke Antwort auf die Ideologie der amerikanischen fundamentalistischen Rechten.“

 

Abgeordneter Bertinotti, versuchen Sie ihre lange Argumentation in einen konkreten Hinweis zu übersetzen, der für die politische Debatte in Italien über die sogenannten „Werte“ hilfreich ist…

 

„Für mich bleibt – auf der Ebene der Werte – die Italienische Verfassung das Modell. Sie enthält den Teil und zugleich das Ganze. Sie gründet sich auf die Verteidigung und Entwicklung der menschlichen Person und basiert zugleich auf der Arbeit. Gestern war sie die von De Gasperi, dem Christdemokraten und Katholiken <und italienischen Pendant zu Adenauer> genauso wie sie heute auch meine ist und es mir ermöglicht, einen italienischen Weg zum Sozialismus zu verfolgen. Ist es möglich, dass die Linke dieses Erbe nicht aufzuwerten’ versteht ?“

 

Das Dilemma scheint im Augenblick ein anderes zu sein: Um zu gewinnen, muss man in die Mitte vorstoßen, wie <der liberale Olivenbaum-Politiker und letztmalige Spitzenkandidat> Rutelli wiederholt. Was antworten Sie darauf ?

 

„Diese Debatte zeigt das Ausmaß unserer Verspätung. Ich schlage vor, den Begriff ‚Mitte’ sowohl in sozialer wie in kultureller Hinsicht abzuschaffen. Er kapselt die Vorstellung von einem bestehenden und gemäßigten sozialen Bereich ab, die meiner Ansicht nach überhaupt nicht der Realität entspricht. Ich sage stattdessen: Schauen wir uns die italienische Gesellschaft genau an ! Und ich insistiere, in Erinnerung an Bobbios Lehre, darauf: Versuchen wir eine Aussage darüber zu treffen, welchen sozialen Block die Linke vertreten und verteidigen soll. Der ganze Rest wird die Konsequenz dessen sein.“

 

 

Anmerkungen:

1:  Norberto Bobbio (18.10.1909 – 9.1.2004), Philosoph, Sozialdemokrat und langjähriger Professor für politische Philosophie. Von 1984 bis zu seinem Tode 2004 Mitglied des italienischen Senats, zuletzt (nach Artikel 59 der italienischen Verfassung) einer von rund einem Dutzend nicht gewählter „Senatoren auf Lebenszeit“, zeitweise Mitglied der aus dem rechten Mehrheitsflügel des PCI nach dessen Selbstauflösung 1990 hervorgegangenen Democratici di Sinistra (Linksdemokraten – DS). Letzte Werke: „Thomas Hobbes“, Turin 1989 ; „Das Zeitalter der Rechte“, Turin 1989; „Rechte und Linke“, Rom 1994.

2:  Giuliano Ferrara (geb.7.1.1952), Journalist und rechter Politiker. Wegen seines extremen Körperumfangs allgemein „Elefantino“ genannt. Eltern PCI-Mitglieder, Vater Moskau-Korrespondent der Parteizeitung „l’Unita“ von 1958 – 1961. Ferrara selbst war Leitungsmitglied des PCI-Jugendverbandes FGCI und PCI-Parteisekretär in Turin (zuständig für die Betriebsgruppen bei FIAT). Später Seitenwechsel, Berlusconi-Vertrauter und in der ersten Berlusconi-Regierung von Mai – Dezember 2004, Minister für Parlamentsfragen. 1998 ein Jahr lang Chefredakteur von Berlusconis Wochenmagazin „Panorama“. 1996 bereits Gründer und bis heute Chefredakteur der kleinen rechtsintellektuellen Tageszeitung „Il Foglio“ (verkaufte Auflage 16.500). Eigentümer von „Il Foglio“ (Das Blatt) sind: 38% Berlusconis Frau Veronica Lario, 15% Denis Verdini (Industrieller und Forza Italia-Abgeordneter), 27% die Familie von Sergio Zancheddu, dem Verleger der „Unione Sarda“, 10% der Druckereibesitzer Aldo Colasanto und 10% Ferrara selbst. Ferrara ist militanter Unterstützer des Staates Israels und seiner Politik und war 2004 Initiator eines Appells von italienischen Politikern aller Couleur für die Stationierung von NATO-Truppen im Irak. Outete sich im Mai 2003 selbst als zeitweiliger Mitarbeiter der CIA.

 

Vorbemerkung, Übersetzung, Anmerkungen und Einfügungen in eckigen Klammern:

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